Man sollte erwarten, dass man zum Geburtstag – selbst zum 90. – Geschenke bekommt. Bei Hans Joachim Schädlich ist es umgekehrt. Er hat sich seine Gedanken gemacht, sie in Form von anekdotischen Notizen gesammelt und in ein Buch gepackt, das er seiner Leserschaft zum Jubiläum offeriert. Auf diese Weise ist es freilich auch ein Geschenk an sich selbst. Martin Lüdke hat nun in seinem Geburtstagsartikel seine Erinnerungen dazugelegt und sich am Buch erfreut.
Irgendwann, vor langen, langen Jahren, trafen sich im Berliner LCB, dem einstmals berühmten Literarischen Colloquium, direkt am Ufer des Wannsees, Hans Magnus Enzensberger und Hans Joachim Schädlich. Enzensberger sprach Schädlich auf sein noch immer überaus starkes Engagement in Sachen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit an und meinte wörtlich: „Sie haben jetzt genug in der Müllbeseitigung gearbeitet?“ Schädlich empfand diese Bemerkung, wie er sagte, „sehr hart“ und spürte aber dann: „Eigentlich hat er recht“. Denn statt sich „mit Trümmern“, mit „Müll“ zu beschäftigen, könne man doch auch, „um im Bild zu bleiben“, zum Beispiel „ein Haus bauen oder einen Garten anlegen“. Und das hat sich Schädlich, der jetzt am 8. Oktober 90 Jahre alt geworden ist, sichtlich zu Herzen genommen und seitdem eine ganze Reihe von Büchern publiziert, darunter auch historische Romane und Novellen, wie etwa „Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II“, oder den Roman „Catt“. Oder jetzt, pünktlich zum Geburtstag, äußerst lesenswerte (buchstäblich) „Bruchstücke“, die wieder auf die Form zurückgreifen, mit denen Schädlich, der ‚gelernte‘ Linguist, 1977 bei seiner Übersiedlung in den Westen bei uns, geradezu schlagartig, berühmt geworden ist: „Versuchte Nähe“, 1977 bei Rowohlt erschienen. Um diese Übersiedlung, bei der Günter Grass (wenn ich mich richtig erinnere) eine sehr große Rolle gespielt hat, gab es einen Riesenrummel und das Buch, von ähnlicher Struktur wie das neueste, wurde ein Riesenerfolg. Mit Grass überwarf sich Schädlich aber, weil der spätere Nobelpreisträger Schädlichs Roman „Tallhover“ zu einem kleinen Scherz ge-(wie Schädlich meinte eher miss-)braucht hatte, indem er eine seine Gestalten „Hoftaller“ nannte.
Wie auch immer. Hans Joachim Schädlich ist zu einer der bedeutendsten Gestalten unserer Gegenwartsliteratur geworden. Und jetzt, pünktlich zu seinem Geburtstag, präsentiert er noch einmal „Bruchstücke“, wundersame kleine Geschichten, Anekdoten, kleine Huldigungen (wie etwa die des Dichters Bernd Jentzsch, der ebenso wie er im Rahmen der Ausweisung Wolf Biermanns aus der DDR in Schwierigkeiten gekommen war), kleine Rechthabereien (in denen Schädlich groß ist) Reiseberichte (wie etwa die Beschreibung eines Verleger- und Autoren-Treffens bei den Gettys, bei dem ein Koreaner, der neben Schädlich am Fenster stand und auf die Bucht von San Franzisko und die Golden-Gate Bridge blickend sagte: „So wohnen die.“)
Das Lapidare ist das Kennzeichen Schädlichs. Bei ihm wird weniger mehr.
1991 war Schädlich vom Goethe-Institut nach Seoul eingeladen worden. Ihm wurde ein bekannter südkoreanischer Lyriker, der allerdings auch an der dortigen Universität lehrte, als Begleiter zur Seite gestellt. Der Mann hatte in München studiert, sprach fließend Deutsch und kümmerte sich nach den Veranstaltungen um ein entsprechend, wie Schädlich schreibt, „exquisites Restaurant“. Dort saß man nach dem Essen noch beisammen. Schädlich, starker, (wie man heute sagen möchte, Sucht-)Raucher litt Höllenqualen, weil keiner am Tisch Anstalten machte zu rauchen. Bis er es nicht mehr aushielt und schließlich fragte: „Darf man rauchen?“ Wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort: „Wir warten alle auf Sie. Sie sind der Älteste.“
Von dieser Preislage sind viele dieser Geschichten, amüsant, und meistens auch ein bisschen lehrreich. In Ost-Berlin hatten die Schädlichs, damals eine vierköpfige Familie, die Kinder 4 und 12 Jahre alt, in einer bescheidenen Drei-Zimmer-Wohnung gewohnt. In Hamburg wurde ihnen, nachdem sie zunächst in einer vom Senat gestellten Wohnung untergekommen waren, leider in der Nähe einer U-Bahn-Baustelle, eine Wohnung in Wandsbek, im Obergeschoß einer sehr großen Villa angeboten. Die Besitzerin hatte von diesem ‚übergesiedelten‘ Schriftsteller gehört. Im Untergeschoß residierte, nur Wochentags natürlich, ein Steuerberater. Schädlichs Frau war „entzückt“. „Einen solchen Luxus hatte sie noch nie gesehen. Die Wände trugen Seidentapeten, im Bad gab es zwei Waschbecken, Badewanne, Extradusche. Der Mietpreis von 850,- Mark, für Hamburger Verhältnisse billig.“ In Ostberlin hatten sie allerdings nur 93,- Ostmark bezahlt. „Kurz und gut: Ich sagte telefonisch ab.“ Genau das ist Schädlich. Ein stets eigensinniger Zeitgenosse. Nicolas Born, der so früh verstorbene Kollege, meinte: „Du bist wahnsinnig.“ Diese Behauptung, vermutlich nicht so ganz falsch, beschreibt diesen Eigensinn. Denn von ähnlicher Konsequenz war auch sein Verhalten in der DDR: immer konsequent, gleichwie, welche Kosten dabei entstanden. Nachdem Schädlich seine „Versuchte Nähe“, durch die Vermittlung von Grass im Westen, ohne Genehmigung der DDR-Behörden, veröffentlicht hatte, wurde gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet. Er beantragte seine Ausreise. Wie er später erfuhr, war die SED-Führung teils für eine Gefängnisstrafe, teils für die Ausreise, die letztlich Ende 1977 doch noch genehmigt wurde.
Was da so leicht und locker, eben anekdotisch beschrieben wird, waren im Grunde regelrecht existentielle Bedrohungen. Und so zieht sich durch diese kleinen Geschichten ein Stück (ost-) deutscher Geschichte. Auch vom Prager Frühling wird erzählt und auch vom August 1968. Oder vom 9. November 1989. Auch Schädlich hielt zunächst, wie so viele, die plötzliche Öffnung der Mauer für eine filmische Inszenierung. Auch er ging schließlich durch die Mauer in den Osten Berlins, bis er es doch, sein Einreiseverbot galt natürlich noch, mit der Angst bekam und schleunigst wieder ins sichere West-Berlin eilte. Anders gesagt: in diesen Geschichten, da steckt Geschichte. Was sich leicht und locker liest, bleibt lehrreich. Gut versteckt, in diesen Bruchstücken. Man sollte sich deshalb, neunzig hin, neunzig her, noch mehr davon wünschen, jetzt wo so viele Leute ohnehin hundert werden.
Hans Joachim Schädlich
Bruchstücke
189 S., geb.
ISBN: 978-3-498-00767-6
Rowohlt Verlag, Hamburg 2025
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Erstellungsdatum: 08.10.2025