Die Übersetzerinnen Gundel Große und Miruna Bacali sowie der Übersetzer Peter Groth und die von ihm übersetzte junge Autorin Alexandra Furnea stellten der Frankfurter Buchmesse Neuerscheinungen in deutscher Sprache vor: „Disco Titanic“, ein Roman von Radu Pavel Gheo, der aus rumänischer Perspektive die Narben des jugoslawischen Bürgerkriegs beleuchtet, und „Das Tagebuch der 66" von Alexandra Furnea, die Autobiographie einer Überlebenden des Brandes im Club Colectiv in Bukarest. Manuela Klenke stellte den Übersetzer:innen einige Fragen.
Liebe Miruna, liebe Gundel, herzlichen Glückwunsch zu eurer ersten gemeinsamen Übersetzung! Bevor wir tiefer auf das Buch und seinen Inhalt eingehen, würde ich gerne zunächst von euch wissen, warum ihr rumänische Literatur übersetzt und wie es zu diesem Auftrag gekommen ist.
Gundel Große: Ich übersetze rumänische Literatur, nachdem ich lange Zeit vor allem unter literaturwissenschaftlichem und -historischem Gesichtspunkt mit rumänischer Literatur zu tun hatte. Dass es mir eine solche Freude bereitet, ist eine Entdeckung der letzten Jahre.
Ich hatte 2016/17 einen Workshop zur Literaturübersetzung am Rumänischen Kulturinstitut in Berlin besucht (und dort im Übrigen auch Miruna wiedergetroffen) und 2017 am Einführungsprogramm des Deutscher Übersetzerfonds ins literarische Übersetzen teilgenommen, an dem sog. Hieronymus-Programm.
2019 habe ich im Rahmen des Übersetzerprogramms des Rumänischen Kulturinstituts ein Fachbuch zur rumänischen Literaturgeschichtsschreibung übersetzt.
Da Miruna und ich im Jahr 2018, als Rumänien Gastland auf der Leipziger Buchmesse war, halb scherzhaft ausgemacht hatten, dass wir mal einen Roman zusammen übersetzen, hatte ich sie dann auf dieses konkrete Projekt angesprochen und sie war sofort dabei.
Miruna Bacali: Durch meinen biografischen Hintergrund (mehrsprachig aufgewachsen mit Rumänisch als Erst-und Deutsch als Zweitsprache) war ich ein Stück weit für das Übersetzen prädestiniert; daneben spielt aber auch der wissenschaftliche Zugang zur rumänischen Literatur eine Rolle. Ich habe mich mit Europaentwürfen in der rumänischen Literatur nach 1989 beschäftigt und meine Analyse größtenteils auf rumänischsprachige Quellen gestützt. Die Arbeit habe ich auf Deutsch geschrieben, deshalb musste ich entweder nach den bereits veröffentlichten Übersetzungen suchen oder selbst Übersetzungen beisteuern. Während des Forschungsprozesses bin ich auf viele Themen gestoßen, die die Übersetzung im weiteren Sinne betreffen: Rumänische Literatur ist sehr facettenreich und verdient durchaus die Aufmerksamkeit der interessierten Leserschaft, und Übersetzer*innen leisten in diesem Zusammenhang einen wichtigen Beitrag.
Gundel und ich haben schon einmal gemeinsam übersetzt, und zwar einen Auszug aus dem Roman Harald und der grüne Mond von Nora Iuga für die Anthologie Das Leben ist ein Tortenboden (Transit 2018). Als Gundel Disco Titanic entdeckte, machten wir uns an die Probeübersetzung. Anfang 2022 haben wir uns dann gemeinsam mit dem KLAK-Verlag auf ein extensiv initiativ-Stipendium beworben und waren erfolgreich.
Als ich den Titel Disco Titanic und die Kurzbeschreibung des Buches las, hatte ich für einen kurzen Augenblick den Eindruck, dass es eine unterhaltsame, atmosphärische Urlaubslektüre werden würde. Schnell stellte ich aber fest, dass der Roman viel tiefgreifendere Themen behandelt. Wie war es für euch beim Übersetzen? Haben euch bestimmte Stellen besonders berührt?
Gundel Große: Der Roman hatte mich so erschüttert, dass ich zunächst glaubte, einen solchen Text niemals übersetzen zu können. Ich habe mich zunächst wissenschaftlich mit dem Text auseinandergesetzt und irgendwann dann doch über eine Übersetzung nachgedacht, weil ich den Roman zum einen sehr gut erzählt finde und mir zum anderen ganz grundlegend die Verquickung von rumänischer und jugoslawischer Geschichte für ein deutsches Lesepublikum interessant schien.
Miruna Bacali: In der Tat behandelt der Roman große Fragen, geht dabei aber nach dem Prinzip „show, don’t tell“ vor und vermeidet es auf diese Weise, die Leser*innen zu belehren, was ich persönlich sehr schön finde. Besonders eindrucksvoll fand ich in dieser Hinsicht das Thema der Jugoslawienkriege und deren Auswirkungen. Im 10. Kapitel wird dieses Grauen aus der Perspektive des Kroaten Frane, der selbst an der Front und damit nicht nur Opfer, sondern auch am Verbrechen mit beteiligt war, beschrieben. Die schrecklichen Ereignisse und die Abgründe der menschlichen Psyche werden in diesem Kapitel ganz besonders erlebbar.
Der Roman spielt vor dem Hintergrund des Zerfalls Jugoslawiens und den ethnischen Konflikten der Region. Viele Figuren im Roman sind von Krieg und politischer Unterdrückung gezeichnet. Wie stellt Gheo den Prozess der Verarbeitung von Trauma dar? Gibt es eine Möglichkeit zur Heilung, oder bleibt das Erlebte eine unveränderliche Wunde in der Psyche der Figuren?
Gundel Große: Meiner Meinung nach geht es in dem Text weniger um die Verarbeitung von Traumata, sondern – wenn man in diesem Bild bleiben möchte – ganz im Gegenteil um die Frage, wie Traumata entstehen. Wie sehr in Zeiten des Kommunismus der Machtapparat die eigenen Bürger in vielfacher Weise unterdrückte, ist ein weiteres Thema des Buches. Auf einer abstrakteren Ebene geht es zudem darum, was eigentlich passiert, wenn Länder oder Regionen Autonomie für sich beanspruchen und dafür alles, was bisher galt, plötzlich dieser Ideologie unterordnen, wenn beispielsweise der ehemalige Nachbar aus Gründen der konfessionellen oder nationalen Zugehörigkeit plötzlich als Feind deklariert wird und im Verständnis der neuen Ideologie beseitigt werden muss. Nicht zuletzt geht es darum, wie Verantwortung und Schuld bewältigt werden können. Heilung findet in diesem Roman nicht statt – alle Figuren sind von dem, was ihnen widerfahren ist, gezeichnet. Meiner Ansicht nach ist nur Vlad reif für eine wirkliche Heilung, da dieser Prozess eine aktive Auseinandersetzung mit dem Geschehenen bedeutet und er sich diesem Prozess stellt.
Miruna Bacali: Dieses Trauma der jugoslawischen Zerfallskriege kommt besonders in der 2. Romanhälfte zur Geltung, in der Vlads Reise in das heutige Kroatien beschrieben wird. Das Leben seiner Freunde, die er 1989 in Jugoslawien kennengelernt hatte, hat sich für immer verändert. Was Vlad angeht, deutet sich am Ende des Romans eine Überwindung der Vergangenheit an; der Abschluss bleibt aber durchaus offen und bietet dem*der Leser*in Raum zur Reflexion.
Denkt ihr, dass Radu Pavel Gheo darauf hinweisen möchte, dass der Osten Europas etwas Gemeinsames zu verarbeiten hat? Inwiefern beeinflusst die traumatische Vergangenheit der Protagonisten ihre gegenwärtige Identität, und wie gehen sie mit dieser Last um?
Gundel Große: Unzweifelhaft wird in diesem Roman ein Stück ost- bzw. südosteuropäischer Geschichte verhandelt, konkret in Jugoslawien und Rumänien. Ich glaube aber weniger, dass ein Autor mit seinen Texten auf etwas hinweisen möchte, sondern denke, dass er in erster Linie aus einem inneren Bedürfnis heraus Literatur erschafft.
Alle Hauptfiguren des Romans zerbrechen in gewisser Weise an den traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit. Marina kann den Tod ihres Bruders nicht überwinden, Frane kann nur mit Medikamenten und Alkohol die durchlebten fürchterlichen Erlebnisse des Krieges bewältigen, und Boris hasst weiterhin alles, was nicht der kroatischen Nation angehört. Dementsprechend bezeichnet er den rumänischen Protagonisten Vlad bis zum Schluss als „den Serben“ und ist der Ansicht, Vlad habe ihnen überhaupt erst all dieses Unglück gebracht. Vlads eigene Entwicklung bleibt letztlich so offen, wie das Ende des Romans überhaupt. Es ist ihm nach einer langen Zeit der Verdrängung immerhin möglich, seiner Frau Emilia von dem zu berichten, was ihm in Split im Jahr 1989 widerfahren ist. Dieses Jahr bedeutete für sein Leben einen irreversiblen Bruch, der eine positiv besetzte Jugend von allem, was darauf folgte, schied.
Miruna Bacali: Im Roman ist dieses Vermächtnis bzw. diese Last ganz klar: Der Protagonist hadert selbst nach so vielen Jahren mit den Erlebnissen im ehemaligen Jugoslawien. Außerdem wird das Trauma der jugoslawischen Zerfallskriege im Roman mit den Erlebnissen des Protagonisten in Kroatien, aber auch im rumänischen Kommunismus verwoben. Gleichzeitig gibt es einen interessanten Widerspruch zwischen Vlads Banater Patriotismus und seiner Faszination für Jugoslawien.
Obwohl der Roman stark in den spezifischen historischen Kontext des Balkans eingebettet ist, werden auch universelle Themen wie Liebe, Verlust, Identität und Widerstand angesprochen. Seht ihr Parallelen zwischen dem Leben der Protagonist*innen in Disco Titanic und dem der Menschen in Deutschland?
Gundel Große: Die Themen des Romans sind ja, wie in jeder guten Literatur, universelle Themen unseres Menschseins. Deswegen sind die Prozesse, die die Figuren durchleben, wie z.B. Liebe, Enttäuschung, Verantwortung und auch Schuld Dinge, die letztlich die gesamte Weltliteratur durchziehen. Selbst die Fragen danach, ob politische Abspaltung und Isolation besser sind als die Entscheidung für ein föderatives Miteinander sind ja relevante Fragen überall auf der Welt.
Miruna Bacali: Disco Titanic ist für mich ein Stück Weltliteratur. Der Kontext scheint auf den ersten Blick sehr spezifisch, aber in der Tat ist er strukturell gut mit anderen Regionen der Welt vergleichbar, die zwischen verschiedenen Einflusssphären positioniert sind. – Man denke an Katalonien oder die südbrasilianischen Staaten Santa Catarina, Paraná und Rio Grande do Sul, die separatistische Bestrebungen verfolgen und die Bewegung „Der Süden ist mein Land (O Sul é meu país)“ initiiert haben. Leser*innen mit einem ostdeutschen Hintergrund könnten auch den einen oder anderen Berührungspunkt mit dem Roman entdecken.
Habt ihr eine Lieblingsstelle im Buch?
Gundel Große: Meine Lieblingsstelle, ist das Gespräch zwischen dem Protagonisten Vlad und der Figur des Schriftstellers Radu Pavel Gheo, der plötzlich im Text auftaucht. Das Gespräch ist in einer Atemlosigkeit geschrieben, die die gemeinsame Begeisterung der beiden Männer für bestimmte Dinge aus ihrer Jugend auf wunderbare Weise vermittelt.
Miruna Bacali: Es sind so viele schöne Stellen, dass es mir wirklich schwer fällt, eine einzige auszusuchen. Ich nenne mal zwei: Den ersten Teil des 2. Kapitels, das wie ein Drehbuch konzipiert ist. Die Beschreibung der Jugendlichen, die sich in die Disco drängen, lässt die Atmosphäre der 80er Jahre in Temeswar wieder aufleben: bunte Klamotten, ausgefallene Frisuren, Musik und „eine ungezügelte Freude [...], ein dunkles Pulsieren von Erwartung und grenzenlosem Verlangen (S. 35)“. Außerdem finde ich das Gespräch zwischen Vlad und seiner Frau Emilia im 7. Kapitel, wo ein Gedicht auf „Banaterisch“ auftaucht und sich rund um dieses eine Diskussion zu Sprachen, Mundarten und Kultur entspinnt, sehr unterhaltsam und clever zugleich.
Habt ihr als Übersetzerinnen eine „geheime Signatur“, die ihr irgendwo im Buch versteckt habt?
Gundel Große: Ich denke, das haben wir nicht, aber es gibt genügend Stellen, über die wir uns gemeinsam amüsiert haben.
Miruna Bacali: Ich habe noch keine geheime Signatur als Übersetzerin, aber die Idee ist interessant!
Wie seid ihr beim Übersetzen vorgegangen? Gab es etwas, das besonders für die Dynamik in eurer Zusammenarbeit gesorgt hat?
Gundel Große: Eine echte Dynamik unserer Zusammenarbeit ergab sich bei dem wunderbaren Workshop in Cluj, in dem wir ausreichend Zeit hatten, uns mit bestimmten Stellen des Textes auseinanderzusetzen.
Miruna Bacali: Wir haben das 1. Kapitel gemeinsam übersetzt und den Roman danach aufgeteilt: Gundel hat eine Hälfte übersetzt, ich die zweite, und wir haben uns die jeweiligen Kapitel zum Gegenlesen geschickt. Wir haben durchaus unterschiedliche Stile und haben an vielen Stellen konstruktiv diskutiert und Kompromisse gefunden. Diese Zusammenarbeit fand ich persönlich sehr inspirierend, Als Highlight in unserer gemeinsamen Arbeit am Roman möchte ich hier die ViceVersa-Werkstatt in Cluj im Mai 2023 nennen (danke, Manuela Klenke und Jan Schönherr!), wo Gundel und ich viele Impulse für die Feinarbeit am Text bekamen Das war unheimlich bereichernd und sehr wichtig für uns, denn der Großteil unserer Zusammenarbeit fand über Zoom, Mails und Telefon statt.
Ihr habt das Buch auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt – sind weitere Lesungen geplant, vielleicht auch Online-Veranstaltungen, oder lasst ihr euch überraschen?
Gundel Große: Direkt geplant haben wir keine Veranstaltung, wiewohl wir sicher beide sehr aufgeschlossen für eine Präsentation wären.
Miruna Bacali: Wir haben einige Ideen für weitere Veranstaltungen mit verschiedenen Partner*innen, das Publikum kann also gespannt bleiben!
Vielen Dank für die Einblicke in eure Arbeit! Zum Schluss noch eine kurze Frage: Meint ihr, dieses Buch eignet sich auch für Jugendliche, zum Beispiel im Rahmen eines Leseklubs oder sogar für den Schulunterricht, um Themen wie Mehrsprachigkeit und Multikulturalismus zu verdeutlichen? Oder würdet ihr eher sagen Adults only?
Gundel Große: Ich denke, das Buch eignet sich mit Blick auf ältere Jugendliche dazu, ihnen einen Eindruck zu vermitteln, was das Leben im Kommunismus konkret bedeutet haben könnte. Auch was es bedeutet haben könnte, die Staatshymne im jugendlichen Leichtsinn zu verhunzen, wie es Vlad noch als Schüler getan hat, und dass man eben nicht mit einer Verwarnung davonkam, sind eindrucksvolle Passagen, die ahnen lassen, wie dieses politische System auf widerständische Menschen reagiert hat. Nicht zuletzt fällt in diese Kategorie auch das entwürdigende Verhalten der Grenzbeamten ihren eigenen Mitbürgern gegenüber, die auf schäbige Weise gedemütigt wurden.
Miruna Bacali: Ich bin der Meinung, dass Literatur als Spiegel der Gesellschaft funktioniert und deshalb sehr wertvoll sein kann, um historische und gesellschaftliche Entwicklungen besser zu verstehen. Fiktionale Einzelschicksale können dabei Jugendlichen helfen, sich selbst, ihre Familiengeschichte und ihre Umwelt besser einzuordnen.
Lieber Peter, herzlichen Glückwunsch zur neuen Übersetzung aus dem Rumänischen, und zwar dem Roman Das Tagebuch der 99. Die Nacht, in der ich brannte von Alexandra Furnea, erschienen im Dittrich Verlag! Wie kam es dazu, dass du diese Autobiografie übersetzt hast, und was hat dieses Buch in dir verändert?
Peter Groth: Tatsächlich habe ich das Buch in einer Buchhandlung in Hermannstadt/Sibiu „entdeckt“. Den Hintergrund mit der Katastrophe im „Club Colectiv“ kannte ich noch aus den Schlagzeilen von damals und war sofort von dem Titel gefesselt. Als mir dann noch eine befreundete rumänische Literaturagentin dieses Buch ans Herz legte, stand mein Entschluss eigentlich fest. Wobei ich natürlich auch mit gemischten Gefühlen an die Lektüre gegangen bin. Die Arbeit an dem Buch und dadurch die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte, ihren Hintergründen und vor allem dem individuellen Schicksal von Alexandra Furnea – was die anderen Brandopfer ja in ähnlicher Weise erlebt und durchgemacht haben - hat mich tief beeindruckt und wird mich sicher nicht mehr loslassen. Was ein Mensch alles ertragen und danach weiterleben kann, das war mir bisher nicht klar und ist mir auch heute noch fast unvorstellbar.
Ein Teil der rumänischen Literatur ist von Humor und Ironie geprägt, nach dem Motto: Wenn man schon nichts ändern kann, dann zumindest darüber lachen. Bei Alexandra Furnea ist das jedoch überhaupt nicht der Fall. Sie beschreibt eine Tragödie und geht durch dieses Buch auf direkte Weise mit allen Beteiligten ins Gericht. Ich finde diese ungeschönte Ehrlichkeit einzigartig. Wie hat sie auf dich gewirkt?
Es ist ganz bestimmt einzigartig. Und zugleich ist ihre Haltung bescheiden, fast demütig angesichts der Schmerzen und des Schicksals, das auf diese grausame Weise zugeschlagen hat. Und ich muss eine Aussage korrigieren oder besser präzisieren: Wie sie im Vorwort schreibt, geht es ihr mit dem Buch nicht darum, sich zu rächen und bestimmte Personen an den Pranger zu stellen. Deshalb hat sie ja auch alle negativ konnotierten Personen mit erfundenen Namen gekennzeichnet, und nur die positiv gelesenen mit dem Anfangsbuchstaben ihres echten Nachnamens. Und obwohl sie niemand vor das Gericht der Öffentlichkeit zerren will und ganz andere Intentionen hat, so wird natürlich klar ersichtlich, wer was getan, oder eben nicht getan hat.
„Wir sind jung genug, dass wir nicht von der Geschichte überwältigt sind, zugleich aber auch nicht ausreichend weit davon entfernt, um nicht mehr Opfer ihrer Fehler zu werden,“ sagt Furnea. Wird sie dadurch zur Stimme ihrer Generation?
Ja, ich würde sagen, dass man sie als Stimme ihrer Generation bezeichnen kann. Sie spricht für eine Gesellschaftsgruppe, die die Zeit der kommunistischen Diktatur nur noch vom Hörensagen kennt, die aber unter Bedingungen aufgewachsen sind, wo die alten Überzeugungen und Ideologien nicht mehr existieren und die Elterngeneration oft gar nicht weiß, wohin die Reise geht oder gehen soll.
Warum ist dieses Buch auch für ein deutschsprachiges Publikum relevant? Denkst du, dass deutsche Leser:innen die Passagen, in denen die Autorin von der Behandlung in deutschen Einrichtungen berichtet, als Dank sehen oder eher kritisch betrachten werden? Im Endeffekt wird Deutschland, mit seinem Gesundheitssystem und den gut ausgebildeten Ärzt:innen, im Buch als „die Normalität“ dargestellt.
Für das deutschsprachige Publikum ist das Buch sicher in mehrfacher Hinsicht interessant und wichtig. Zuallererst erinnert es natürlich an ein tragisches Ereignis, das im Westen tatsächlich gar nicht oder nur am Rande wahrgenommen wurde. Obwohl es ja neben dem Ausmaß der Katastrophe und den vielen Todesopfern sogar zu Massendemonstrationen bis hin zum Rücktritt der Regierung in Rumänien geführt hat. Das Buch zeigt viele Facetten und Probleme, mit denen die rumänische Gesellschaft bis auf den heutigen Tag zu kämpfen hat, und die solche Folgen haben können. Damit werden auch Eindrücke und Einblicke von einer Gesellschaft im Umbruch vermittelt, von denen man im Westen noch immer fast gar nichts weiß. Die auf Deutsch verfügbare Literatur über Rumänien beschäftigt sich doch überwiegend mit der Zeit des Sozialismus, mit Ceaușescu und der Securitate und dergleichen mehr. Die jüngste Vergangenheit ist kaum ein Thema.
Welche Bedeutung hat Musik für die Autorin, und wie wird sie als Symbol für Hoffnung und Resilienz genutzt?
Die Autorin spricht ja von der „Generation Underground“ und bezieht sich dabei auch auf die Musik. Das präferierte Genre ist Metal in seinen verschiedenen Varianten, also eine von vielen als sehr laut und brachial empfundene Musik. Dabei finde ich es interessant, dass ja dieser Stil in Osteuropa schon immer sehr politisch und gesellschaftskritisch war und weiterhin ist. Wenn die „Westrocker“ von Sex und Drugs und Rock’n‘ Roll sangen, dann ging es bei den „Ostrockern“ schon immer auch um gesellschaftliche Zustände und um die Einsamkeit des modernen Menschen. Der Gestus ist insgesamt – auch in seiner darstellerischen Ausgestaltung von Kleidungsstil und Cover-Art der Alben – eher düster und morbid und oft von einer gewissen Antihaltung gegenüber dem Establishment, den als „weichgespült“ empfundenen Produkten des Mainstreams, wie man sie im Fernsehen oder den Playlists der Eltern findet. Dabei ist die Musik niemals nur Musik, sondern Ausdruck einer bestimmten Überzeugung und (Protest-)Haltung.
Die Autorin bedankt sich in den sozialen Medien bei ihrem „empathischen Übersetzer“. Es ist großartig, wenn Schriftsteller:innen bewusstwird, wie sehr wir uns bei der Arbeit in ihr Werk hineinversetzen. Hattest du bestimmte sprachliche oder kontextabhängige Fragen?
Es war mir eine große Ehre, als ich dieses Lob erhielt. Es gab natürlich die eine oder andere Frage, doch die Zusammenarbeit lief ganz fantastisch mit der Autorin. Aber natürlich war es auch eine ganz besondere Herausforderung mit diesem Buch, da es keine ausgedachte Story war, kein Fantasieprodukt einer besonders einfallsreichen Autorin. Hier ging es immer um das, was die Autorin am eigenen Leib erlebt und erlitten hat. Das spielte an ganz vielen Stellen eine Rolle und war bei der gesamten Arbeit an dem Text die Folie, auf der jede (sprachliche) Entscheidung getroffen wurde. Es gab verschiedene Leitmotive im Text, die in der deutschen Übertragung zunächst etwas unglücklich oder ungewöhnlich klangen, doch da fanden wir dann gemeinsam Lösungen. Zum Glück kann die Autorin auch Deutsch, was die Diskussion natürlich erleichtert hat.
Das Buch wurde auf der Frankfurter Buchmesse auch in englischer Sprache vorgestellt. Was war der Plan hinter der Veröffentlichung in beiden Sprachen? Sind Übersetzungen in weitere Sprachen geplant? Wie könnten kulturelle Unterschiede die Wahrnehmung und Interpretation des Buches in verschiedenen Ländern beeinflussen?
Hinter der parallelen Veröffentlichung der beiden Übersetzungen lag kein bestimmter Plan. Wenn man sich mit einem Verlag zur Veröffentlichung entscheidet, dann weiß man nicht unbedingt, ob das Buch auch in andere Sprachen übersetzt wird, und wann das geschieht. Wir erfuhren, dass das Buch auch auf Englisch erscheinen und die Autorin zur Präsentation auf der Buchmesse sein würde. Deshalb hatten wir die deutsche Veröffentlichung ein paar Monate vorgezogen, um diese Gelegenheit zu nutzen. – Ich habe gehört, dass es auch aus anderen Ländern großes Interesse gibt, konkret weiß ich aber nicht, wie dabei der aktuelle Stand ist. – Im Hinblick auf die kulturellen Unterschiede beim Lesepublikum kann ich sagen, dass die Autorin die englische Version um manche Details ergänzt hat, um verständlich zu bleiben. Was dem rumänischen Publikum wohlbekannt ist, ist es nicht unbedingt auch für das deutsche. Ähnlich wird es sich sicher auch in anderen Ländern verhalten. Ich glaube allerdings nicht, dass es verschiedene Lesarten des Buches gibt, was mögliche Unterschiede in der Interpretation des Geschehens betrifft. Der Eine wird beim Lesen vielleicht bestätigend nicken, die Andere wird entsetzt den Kopf schütteln.
„Ich will meinen Schmerz in ein Leuchtfeuer für andere Menschen verwandeln und ihnen dabei helfen, der Dunkelheit zu entfliehen. Doch es ist nicht einfach, diese Unterstützung zu leisten“, sagt Alexandra Furnea im letzten Teil ihres Buches. Denkst du, dass ihr das durch Das Tagebuch der 66 gelungen ist? Hast du das Gefühl, ihr dabei durch deine Übersetzungsarbeit geholfen zu haben?
Die Autorin war im Sommer 2024 zu Gast in dem Videopodcast „Vorbitorincii“ von Radu Paraschivescu. Dort wurde ihr die Frage gestellt, ob sich in der Zwischenzeit etwas verändert hätte. Alexandra Furnea hat das verneint. Dabei kam ihre große Betroffenheit zum Ausdruck, wie sie es ja auch in dem Buch ausdrückt. Wenn die Brandkatastrophe im Club Colectiv vor neun Jahren Anlass gewesen wäre, um die gesellschaftlichen Zustände zu ändern, die letztendlich zu dem Brand und den vielen Verletzten und Toten geführt haben, dann hätte dieses schreckliche Ereignis wenigstens einen guten Effekt gehabt. Offenbar ist das jedoch nicht geschehen. Doch die Hoffnung bleibt und je länger und je eindringlicher diese Dinge im kulturellen Gedächtnis der heutigen Gesellschaft bleiben und immer wieder erinnert werden, desto größer ist die Chance, dass sich am Ende vielleicht doch ein wenig ändert. Ich wünsche mir, dass ich mit meiner Übersetzung dazu einen kleinen Teil beigetragen habe.
Alexandra Furnea, Peter Groth
Das Tagebuch der 66
Die Nacht, in der ich brannte
344 S., brosch.
ISBN: 978-3-910732-31-5
Dittrich Verlag, Weilerswist 2024
Radu Pavel Gheo
Disco Titanic
Roman
aus dem Rumänischen von
Gundel Große und Miruna Bacali
574 S., brosch.
ISBN: 978-3-948156-83-1
Klak Verlag, Berlin 2024,
Erstellungsdatum: 10.12.2024