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Der Westen, Europa und seine Feinde (2. Teil)

Abrechnung (2)

Claus Leggewie


Ausweg. Foto: Bernd Leukert

Nur im gemessenen zeitlichen Abstand werden Historiker feststellen können, wann die neue Zeit begann. Was wir aber schon wissen, ist, dass die Deutschen, von deren Boden nach dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg nie wieder ein Krieg ausgehen sollte, die deshalb militärische Rüstung eher symbolisch verstanden und ihre Sicherheit den transatlantischen Verbündeten anvertrauten, durch Russlands Aggressionskrieg gegen die Ukraine und die antieuropäische Haltung der US-amerikanischen Regierung sich neu erfinden müssen. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie setzt sich mit Positionen, Theorien und der Realität auseinander. Wir bringen den Text in zwei Teilen. Hier ist Teil zwei.

V

Europa war nach 1945 am Boden und konnte sich ohne Amerika kaum gegen Stalin wehren, der – so wie sein Bewunderer Putin jetzt – mit vergifteten Neutralitäts-Noten lockte. Europa war damals sehr viel Wirtschaft und Währung, weit weniger supranationale Politik und sehr schwach Verteidigung. Es gab in den 1950er und 1960er Jahren zwei Versuche, neben einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – das war immer der Primat – auch eine EVG zu gründen: Der Pleven-Plan 1950 sah vor: „Eine Armee des geeinten Europas, gebildet aus Männern der verschiedenen europäischen Nationen, soll, soweit dies irgend möglich ist, eine vollständige Verschmelzung der Mannschaften und Ausrüstung herbeiführen, die unter einer einheitlichen politischen und militärischen europäischen Autorität zusammengefasst werden.“ Die EVG wurde aufgelegt, um die Deutschen im Zaum zu halten und ihre Wiederbewaffnung zu verhindern, das aber schon vor dem Hintergrund des außereuropäischen US-Engagements im Korea-Krieg. Die EVG war schon fast beschlossen, als das Projekt 1954 am Widerstand der Gaullisten und Kommunisten in der französischen Nationalversammlung scheiterte. Das Resultat war der westdeutsche Eintritt in die NATO. Ein nächster Versuch folgte 1959ff. mit dem von Charles de Gaulle betriebenen schrittweisen Austritt aus der NATO und dem Aufbau einer eigenen französischen Atombewaffnung. In Deutschland eröffnete das seinerzeit eine Debatte zwischen „Gaullisten“ und „Atlantikern“, die mit dem klaren Sieg der letzteren und dem Eintreten der Entspannungspolitik endete, bis in die 1980er Jahre hinein. Dieses Thema kehrt jetzt heftig zurück. Es ist widersinnig, dass Europa angeblich 27 Armeen und noch mehr Rüstungsunternehmen benötigt, um jedes Vaterland extra zu schützen, wenn nun Putin einen Angriff führt, der ganz Europa treffen soll. Man müsste endlich Synergien schaffen.

VI

Wie es weitergeht? Die Flatterhaftigkeit und Widersprüchlichkeit der Trump-Administration seit ihrem Machtantritt führte zu einer massiven Irritation der Weltöffentlichkeit, von der die Expertise der Denkfabriken ebenso ergriffen wurde wie die journalistische Berichterstattung. In dieser Lage verlässliche Analysen vorzulegen und valide Prognosen zu unterbreiten, ist fast unmöglich. Die Unsicherheit betrifft unverkennbar auch die politischen Verbündeten und Gegner der Vereinigten Staaten. Trump und seine Entourage stört es offenbar nicht, dass der Rest der Welt über den Sinn der täglich wechselnden Meldungen rätselt und eine Linie zu erkennen sucht. Trump fürchtet keinen Faktencheck seiner Lügen, Musk keinen Widerspruch gegen seine regel- und rechtswidrigen Aktionen. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass diese Verwirrungsstrategie gewollt ist und kein mittelfristiger Plan zugrunde liegt. Trumps bisweilen geisteskrank wirkenden Irrungen und Wirrungen haben offenbar die Absicht oder Funktion, die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmen zu lassen, wie Steve Bannon das Wesensmerkmal totalitärer Propaganda mit dem Slogan „Flood the Zone with Shit“ treffend charakterisiert hat. Das analoge, auf Putin gemünzte Motto „Nichts ist wahr. Alles ist möglich“ trifft nun auf die US-Innen- und Außenpolitik zu, und genau diese Strategie, Freund und Feind zu verwirren, gibt Diagnosen und Prognosen eine geringe Halbwertzeit. Ereignet hat sich nicht nur ein radikal politischer Paradigmenwechsel, der das Regelwerk und die Rationalität der internationalen Beziehungen nach 1945 auf den Kopf stellt, sondern auch ein epistemischer Bruch, der dadurch funktioniert, dass Trump und Konsorten, anders als altbackene Diktatoren, über alte und neue elektronische Medien eine Massenbasis hinter sich versammeln und als demokratisch legitimierte Zustimmungs-Autokraten regieren.

            Was kann man in dieser „neuen Unübersichtlichkeit“ mit aller Vorsicht konstatieren? Vor allem hat die Aufkündigung der militärischen und logistischen US-Unterstützung die Chancen der Ukraine massiv verschlechtert, den russischen Aggressor zurückzuschlagen und ihre Souveränität zu bewahren. Trump wird Selenskyi weiterhin in brutaler Offenheit die Legitimation absprechen, das ukrainische Volk zu repräsentieren, selbst wenn sich dieses noch einmal einmütig hinter ihn gestellt hat. Die europäischen Nationen haben ihre Unterstützung verstärkt, aber den Wegfall der amerikanischen Geheimdiensterkenntnisse und Luftüberwachung können sie ebenso wenig kompensieren wie essentielle Waffen- und Ersatzteillieferungen. Trump ist offenbar entschlossen, sich die Ukraine, vor allem ihre Bodenschätze, mit Putin aufzuteilen und sie in einen Vasallenstatus zurückzubefördern. Die Ukraine muss nach einem über ihren Kopf beschlossenen Waffenstillstand oder „Friedensschluss“ jederzeit einen neuerlichen Vorstoß russischer Truppen gewärtigen. Zahllose Kriegsverbrechen und genozidale Akte werden nicht gesühnt werden, vor allem Frauen und Kinder bleiben großen Risiken sexueller Gewalt und Entführung ausgesetzt. Von der Front werden besiegte und traumatisierte Veteranen „nach Hause“ kommen, in zerstörte Städte und Dörfer und eine Restnation, deren Infrastruktur schwer beschädigt ist und für deren Reparatur das russisch-amerikanische Kodirektorium sich kaum groß einsetzen wird. Damit ist eine neue Flüchtlingswelle zu erwarten, die Putin bisher schon für die Destabilisierung der EU ausgenutzt hat. Denkbar ist auch, dass ukrainische Guerilla-Gruppen weiterkämpfen wollen. Vor diesem Hintergrund dürfte Präsident Selenskyi an Ansehen verlieren und womöglich einem Quisling-Regime von russischen Gnaden weichen müssen.

VII

Damit zur Lage und zu erwartbaren Folgen für die europäischen Gesellschaften und die Europäische Union. Die Ankündigungen und Erpressungen Trumps lassen erwarten, dass die Vereinigten Staaten diesen weder in Friedenszeiten noch im Kriegsfall militärischen Beistand leisten wollen. Das wäre der Totenschein für die „hirntote“ NATO, die nur als transatlantische Allianz wirksam sein und überleben könnte. Den Europäern würde mit einem Einfrieren des Kriegs die Aufgabe zufallen, den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren und für „Sicherheitsgarantien“ Bodentruppen abzustellen. Letztere könnten in eine „afghanisch“ anmutende Hilfslosigkeit gedrängt sein oder gar als russische Geisel genommen werden. Eine ernsthafte Garantie erforderte eben jene Aufrüstung, die beim tendenziellen Wegfall des atomaren Schutzschilds der Vereinigten Staaten ohnehin ansteht – und sie müsste jene „Kriegstüchtigkeit“ unter Beweis stellen, die sie für den Fall eines russischen Angriffs auf ein NATO-Land derzeit weder waffentechnisch noch im Zivilschutz besitzt.

            Denn schon wird die Frage aufgeworfen, welcher Krieg eigentlich wo und wofür geführt werden müsste, in der Ukraine – oder weiter im Westen? Das Ungeheuerliche wird wahrscheinlicher, dass Putin nach der drohenden Aufgabe der Ukraine Nadelstiche gegen NATO- und EU-Länder setzen wird, wie an der Schwarzmeerküste und neben Moldawien dann in Rumänien und Bulgarien, in Estland und Litauen. So testet er die Glaubwürdigkeit der Beistandspflicht, die den Mitgliedsländern ohnehin freigestellt ist. Am schleppenden Aufbau einer ständigen Bundeswehr-Brigade an der Grenze Litauens zu Belarus, die sich ohne jede Emphase der deutschen Bevölkerung vollzieht, ist erkennbar, dass eine solche Maßnahme einem ernsthaften Angriff Russlands derzeit kaum etwas entgegenzusetzen hat, sie ist also höchstens ein Vorgriff auf spätere Eventualitäten, wenn auch alle anderen Projekte der europäischen Selbstverteidigung greifen sollen, beginnend mit besser koordinierten Armeen und endend mit einer glaubhaften, auf britischen und französischem Arsenal beruhenden atomaren Abschreckungsmacht mit deutscher Beteiligung. Pessimisten erkennen hier keine Zustimmung der deutschen Bevölkerung, eher die Gefahr, dass Frankreich demnächst von Marine Le Pen regiert und Großbritannien unter dem Druck Nigel Farages den Brexit-Kurs noch einmal verstärkt.

            Der Regierungswechsel in Deutschland kann Bedeutung annehmen, wenn der prospektive Kanzler den pompös angekündigten „Politikwechsel“ von sauerländischer Provinzialität in eine globalpolitische Dimension überführen würde. Dazu müssen die Konservativen gewaltig über ihren Schatten springen wie seinerzeit Konrad Adenauer, der in seinem Inneren ein großer Reaktionär war, aber die Union auf den langen Weg nach Westen geführt und lange gegen die Ansteckungsgefahr von Rechtsaußen (vulgo: Brandmauer) geimpft hat, der die meisten Christdemokraten und Liberalkonservativen im Rest Europas unterdessen erlegen sind. Es ginge also (unter uns) zunächst einmal darum, ob Sie, meine Damen und Herren noch an eine westliche Wertegemeinschaft „glauben“ und in sie investieren mögen!?

            Nicht unwesentlich ist dabei, wie wir zu Amerika stehen. Und das hängt zunächst davon ab, ob sich der in Washington entfachte Wirbelsturm beruhigen und sein Zerstörungswerk beenden wird. Dass Duo Trump/Musk ist nicht frei von erheblichen inneren Friktionen. Trump tritt als freihändiger neoimperialer Deal-Maker auf, der Territorien von Grönland bis Gaza und Ukraine zu besetzen und zu besitzen droht. Doch anders als der hypernationalistische, im Kern eigentlich isolationistische MAGA-Wahn betreibt Musk eine radikale Infragestellung des Staatensystems selbst, durch eine Privatisierung, die bei ihm bis in den Weltraum zielt. Die im Milieu der Broligarchen beliebten Kryptowährungen entziehen sich den Regularien des etablierten Weltfinanzsystems, wodurch die Geldmenge außer Kontrolle gerät. Staaten (und was von deren verfemten Bürokratien übrigbleibt) werden durch Voodoo-Ökonomen systematisch entmachtet, es geht allein um die ungehinderte Platzierung von Investitionen, mit Unterstützung einer riesigen Schar von Konsumenten, die den Influencern in sozialen Netzwerken ergeben folgen. Diese Entwicklung des globalen Kapitalismus ist mit einer pseudo-protestantischen Ethik unterlegt.

            Ging es bei der Korruption klassischen Typs um den Einsatz von Geld zur Beschaffung von Aufträgen, Grundstücken, Anteilen und dergleichen unter Umgehung der bürokratisch-legal gebotenen Pfade, wird Geld nunmehr zur Erringung der ganzen Macht, fast Allmacht eingesetzt, auch jenseits der nationalen Grenzen. Der Celebrity-Status steigert sich bei Musk in die Wahnidee, er gehöre einer auserwählten, von Natur aus überlegenen Spezies technologischer Supermenschen an, die sich nach dem Skript der Fantasy-Literatur alles herausnehmen darf. Das erinnert – genau wie Trumps Überzeugung, von der Vorsehung beschützt zu sein – an Über- und Herrenmenschen-Erzählungen. Es gibt schon Anzeichen, dass Trump Musk demnächst loswerden möchte – zwei Narzissten im Weißen Haus sind ihm wohl bald zuviel. Aber es geht nicht nur um Eitelkeiten. Zu erwarten ist ein Konflikt zwischen ethno-nationalistischen und techno-globalistischen Strategien, den der Harvard-Ökonom Dani Rodriock auf den Punkt gebracht hat: „Die Wirtschaftsnationalisten wollen zu einer mythischen Vergangenheit zurück, die vom industriellen Ruhm Amerikas geprägt ist, während das Tech-Lager sich eine von KI verwaltete utopische Zukunft vorstellt. Die einen sind populistisch, die anderen elitär. Der eine glaubt an die Alltagsweisheit und den gesunden Menschenverstand der einfachen Leute, der andere nur an die Technologie. Die einen wollen die Einwanderung generell stoppen, die anderen heißen qualifizierte Neuankömmlinge willkommen. Der eine ist engstirnig provinziell, der andere im Wesentlichen globalistisch. Der eine will das Silicon Valley zerschlagen, der andere es stärken. Der eine will die Reichen schröpfen, der andere sie mit dem goldenen Löffel füttern.“ Und wer gewinnt? „Wer auch immer, die Tragödie besteht darin, dass die weniger gebildeten Wähler aus der Arbeiterklasse, die auf Trumps anti-elitäre Botschaft hereingefallen sind, die Verlierer sein werden. Keiner der konkurrierenden Flügel von Trumps Koalition bietet eine überzeugende Vision für sie.“

            Während die Demokraten in Schockstarre verharren und bis zu den Midterm Elections einen Kandidaten finden müssen, der nicht mehr aus dem Washington Beltway kommt, regen sich bei den Republikanern kaum Dissidenten; der Druck des POTUS ist immens – wer nicht spurt, wird „primairisiert“, d.h. schon bei den Vorwahlen zur Kandidatur brutal vom MAGA-Mob eliminiert. Auch hat der Supreme Court kaum den Schneid, sich Trump entgegenzustellen, bei anderen Bundesgerichten kann man gespannt sein, die auch schon von Trump eingesetzt worden sind. Vor diesem Hintergrund der Entmachtung der Legislative und Judikative und gestützt auf eine vasallengleiche, an den Rändern putschistische Basis, die jeden Unsinn und jeden Schwenk aus den Propagandazentralen des Weißen Hauses zu kaufen bereit ist, stehen die Aussichten auf einen inneren Wandel schlecht, selbst wenn die Presidential approval rates zu sinken beginnen. Ob eine Wirtschaftskrise den Kälbermarsch ins Verderben verhindern kann, ist unzweifelhaft, wenn weniger die berühmten Bread&butter issues zählen als die Angst der (nicht mehr nur männlichen) weißen Mehrheit vor dem Verlust ihrer demografischen und kulturellen Dominanz und Suprematie.

VIII

Damit komme ich zu meinem letzten Punkt, dem postkolonialen Verhältnis von Nord und Süd. Für viele erfüllt sich mit dem Abstieg Europas nur die Annonce Frantz Fanons aus dem Jahr 1961: „Ganze Jahrhunderte lang hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und zu seinem Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen eines angeblichen geistigen Abenteuers fast die ganze Menschheit erstickt ... Brüder, wie sollten wir nicht begreifen, dass wir etwas Besseres zu tun haben, als diesem Europa zu folgen. Diesem Europa, das niemals aufgehört hat, vom Menschen zu reden, niemals aufgehört hat, zu verkünden, es sei nur um den Menschen besorgt: Wir wissen heute, mit welchen Leiden die Menschen jeden der Siege des europäischen Geistes bezahlt haben. Los, Genossen, Europa hat endgültig ausgespielt, es muss etwas anderes gefunden werden... Wir haben es nicht mehr zu fürchten, also hören wir auf, es zu beneiden. Die Dritte Welt steht heute als kolossale Masse Europa gegenüber; ihr Ziel muss es sein, die Probleme zu lösen, die dieses Europa nicht hat lösen können.“

            Wir haben den Wind gesät, er ist der Sturm, beschrieb Jean-Paul Sartre diesen Aufruf im Vorwort der „Damnés de la terre“ von 1961. Die Sturmvorhersage ist eingetroffen: ein scharfer Südwind, dessen Stärke mit der Erinnerung an das eher zunimmt, was Europäer und Nord-Amerikaner im kolonialen Zeitalter gesät haben. Sie – oder muss man noch sagen: wir? – verübten unzählige Verbrechen gegen die Menschlichkeit, organisierten einen kolossalen, meist gewalttätigen Transfer von Ressourcen und Artefakten und die Verschleppung, Vertreibung und Versklavung von Millionen ‚Indigenen‘, wie die Vereinten Nationen die dezimierten Bewohner jener Räume genannt haben, die der kolonialen Durchdringung ausgesetzt waren. Die umfassende politische, wirtschaftliche und kulturelle Subordination erhob eine auf (Nord-west) Europa und (Nord)Amerika zentrierte Weltsicht zum globalen Maßstab und ging einher mit einer rassistischen Abwertung der nicht-weißen Mehrheit. So etablierte sich eine Kartografie von Zentrum und Peripherie, von Metropolen und Hinterland. Und: eine Mesalliance von Nord und Süd, die seit einigen Jahrzehnten in einer großen Zahl von postkolonialen Studien, Konferenzen und Kunstausstellungen aufgearbeitet wird. Dagegen hat sich seit der Konferenz von Bandung 1955 eine politische Allianz der Dritten Welt formiert, die den Magnetismus der Windrose umdrehen wollte.

            Das ist die Wahrheit des Postkolonialismus, aber nicht die ganze Wahrheit, und die halbe Wahrheit wird instrumentalisiert für eine neoimperiale Politik Russlands und Chinas in eben jenem Globalen Süden, dessen Mythos sie eifrig pflegen. Ich zitiere Sergej Lawrow, den russischen Außenminister: „Alle Welttragödien sind von Europa ausgegangen. Kolonisierung, Kriege, Kreuzzüge, der Krimkrieg, Napoleon, der Weltkrieg, Hitler. Amerika sagt, sie wollen Frieden, Europa will den Krieg“. In diese Falle darf man bitte nicht tappen. Die berechtigte Kritik des Postkolonialismus an Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen der Vergangenheit und Gegenwart darf nicht so vereinseitigt und dogmatisiert werden, dass damit analoge oder neue Kolonialabhängigkeiten und Herrschaftsansprüche von heute ignoriert, minimiert oder entschuldigt werden, wie es in der politischen Debatte, einem Teil der Kultur- und Sozialwissenschaften, im globalen Kulturbetrieb und nicht zuletzt im Alltagsdiskurs der Fall. Damit sind Rückfälle in Stereotypen und Vorurteile verbunden, bei denen nicht problematisiert wird, was jemand – eine Person, eine Gruppe, eine Organisation, eine Institution – tatsächlich tut, sondern lediglich geortet wird, wo sie „gelegen“, also im Norden oder Süden situiert ist. Dieses Schicksal ereilte Israel, auf das sich nicht erst seit dem Gaza-Krieg alle Aversionen richten. Derart unterkomplexe Zurechnungen entsprechen paradoxerweise den klassischen Vorurteilsformen des Rassismus und Antisemitismus, die der Postkolonialismus doch (wenigstens als Anti-Rassismus) zu bekämpfen vorgegeben hat. Hier aber wird eigentlich nur der Spieß herumgedreht und der Orientalismus zum Okzidentalismus

 

            Der Westen ist in die Defensive geraten, aber die Weltgesellschaft ist damit keineswegs in eine bessere Balance und Verfassung gebracht worden. Gesellschaften und Regime des Ostens und Südens haben sich als ebenso unfähig erwiesen, für mehr soziale Gerechtigkeit, individuelle Freiheit, Wohlstand für alle und Einklang mit der nicht-menschlichen Natur zu wirken. Gebraucht werden die USA und die EU-Länder, wenn Klimaanpassung, Entwicklungsprojekte und der Wiederaufbau zerstörter Regionen finanziert werden sollen. Damit rufe ich nicht das falsche Bild des „Zahlmeisters“ auf – der Westen ist reich genug, um für die von ihm historisch und aktuell mitverursachten Schäden aufzukommen, zumal westliche Waffenlieferungen und Korruptionsnetzwerke die Territorial- und Bürgerkriege noch angefeuert haben. Nur haben auch diese Kompensationen noch zur Stabilisierung autoritärer Regime beigetragen und ihre Zahl bis in die Gegenwart vermehrt. Nicht sie, die oft antikolonialen Befreiungsbewegungen entstammen, sind die postkolonialen Protagonisten, sondern die mutigen, meist jungen Oppositionen, die sich den heimischen Autokraten entgegenstellen. Zum postautokratischen Wieder-aufbau gehören nicht nur Reparaturen zerstörter Städte, sondern vor allem ein institutioneller Wandel auf dem Fundament demokratischer und pluralistischer Normen. Also, ohne pardon: im Ursprung westlicher Werte. Es ist Zeit für ein so demütiges wie zuversichtliches Selbstbewusstsein des Westens.

            Man sieht: Das Schicksal des Westens, dem jetzt allerorts das Toten-glöckchen geläutet wird, hängt intrikat mit dem Schicksal des Südens zusammen, und hier meine ich vor allem Afrika. Wenn die NATO implodiert, sollen wir Bündnisse mit jenen schließen, die dem Druck Russlands und Chinas widerstehen. Richtig: Das erfordert eine ganz andere, reziproke Kooperation auf Augenhöhe, aber eben auch eine Kritik der korrupten postkolonialen Staatsklassen und Neokolonialisten, die wir vornehm vermeiden. Die Fälle von Robert Mugabe, Daniel Ortega e tutti quanti sollten Warnung genug sein, vor jenem „Schmalspurfaschismus“, den bereits Frantz Fanon befürchtet hat, und sie sollten erst recht vor kapitalen Klassifikationsirrtümern bewahren, die Michel Foucault und Judith Butler gegenüber den Mullahs und den Hamas-Terroristen unterlaufen sind.

            Die Weltgesellschaft ist im postkolonialen Narrativ übermäßig kulturalisiert worden, ein Unterfangen, das übrigens auch der Neuen Rechten gefallen hat. Denn die entscheidenden Gegensätze verlaufen zwischen einer superreichen Plutokratie und jenen, die in Nord wie Süd unter Ausbeutung, Armut und kapitalen sozialen Disparitäten zu leiden haben. Kann man also noch sagen: die Verdammten der Erde, oder Leidtragende von Verhältnissen, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist»? Die G20-Finanzminister haben sich jüngst für eine wirksame Besteuerung der Superreichen eingesetzt; nach Berechnungen des französischen Ökonomen Gabriel Zucman würde eine globale Mindeststeuer von 2 Prozent auf die Vermögen der rund 3000 reichsten Personen der Welt jährlich schon etwa 250 Milliarden Dollar einbringen, die zur Bekämpfung von Hunger und Armut eingesetzt werden könnten. Globale Praxis dürfte „Tax the Superrich“ kaum werden, eher werden autokratische Regime ihre Milliardärsklientel noch stärker begünstigen und ihnen Steuererleichterungen verschaffen. Gleichwohl ist diese Initiative bemerkenswert, sprengt doch auch sie das binäre Schema Süden gegen Norden, da Superreiche eben auch in Sao Paulo, Luanda, Bangalore und erst recht in den Golfstaaten vorkommen, die sich zum Global South rechnen, obwohl sie Massen von Steuerflüchtlingen aus aller Welt beherbergen. Das heißt: Die Spaltungslinie, die der Postkolonialismus zwischen Nationen gezogen hat, verläuft in Wahrheit zwischen denen, die auch im Norden oft in bitterer Armut leben, und den Geldeliten, die sie auch im Süden ausbeuten und verachten. Meine zentrale Kritik am Postkolonialismus ist, dass er eine innergesellschaftliche Spaltungslinie der kapitalistischen Globalisierung übersieht, von denen auch die Spitzfindigkeiten des racial capitalism nichts wissen wollen. Genau hier wäre ein Brückenbau wichtig, der den postkolonialen Radikalismus mit der Kompromisslinie der Realpolitik versöhnt und autoritäre Bündnisse nach dem BRICS-Muster konterkariert. Das gilt erst recht, wenn wir globale Phänomene wie gefährlichen Klimawandel und rasantes Artensterben ernsthaft zu bekämpfen anträten. Die von Immanuel Wallerstein begründete Theorie des Weltsystems mit Zentren, Semi-Peripherien und Peripherien besitzt eine bizarre Lebensdauer, wenn man bedenkt, dass sich die VR China mit einem Bruttoinlandsprodukt von über 14 Bio. US-Dollar auf internationalen Konferenzen weiter als Entwicklungsland registrieren lässt und entsprechend berücksichtigt wird, obwohl sie zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Erde aufgestiegen ist und auch mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von über 10.000 USD im weltweiten Mittelfeld liegt. Und China spricht sich, genau wie die Golf-Emirate, so auch aus der Verantwortung für Klimamitigation und -anpassung frei, die allein der „Norden“ mit Billionen US-$ und € leisten soll. Das „Einholen und Überholen“ Nikita Chruschtschows aus der Zeit der Ost-West-Konkurrenz bekommt hier eine noch fatalere Zerstörungskraft, denn die von Putin und Xi Jinping angeführte BRICS-Allianz führt genau wie Trumps Leugnung des menschengemachten Klimawandels schnurstracks in eine drei bis vier Grad wärmere Welt, und es würde Europas Ansehen stärken, wenn die EU ernsthaft behaupten dürfte, durchgreifende Nachhaltigkeitstransformationen voranzutreiben.

 

            Fazit: Die Welt wird nicht besser, wenn Werte wie Menschenrechte, Menschenwürde postkolonial dispensiert würden. Die in vieler Hinsicht defekte liberale Demokratie auf den Scheiterhaufen der Geschichte zu werfen, ist so absurd, wie eine Straßenverkehrsordnung aufzuheben, weil eine Menge Verkehrsteilnehmer bei Rot über die Kreuzung fahren oder falsch in Autobahnauffahrten einbiegen. Das gilt erst recht, wenn so viele politische Geisterfahrer unterwegs sind wie jetzt gerade. Um es also deutlich zu sagen: Der Westen als Idee und seine Institutionen sind keineswegs am Ende, und man kann auch Amerika nicht einfach aufgeben. Gerade die postkoloniale Korrektur kann ihn stärken, wenn er genug Selbstbewusstsein hat und die Selbstverzwergung bleiben lässt. Wie „nördlich“ Israel ist, wie westlich die Ukraine bleiben kann und letztlich auch Ostdeutschland bleiben soll, sind die aktuellen Testfälle des postkolonialen Narrativs.

Postskriptum: Mein eigener „Testfall“ als ceterum censeo zum Abschluss: Seit über drei Monaten sitzt mein Freund Boualem Sansal in einem Gefängnis in Algerien. Ihm werden „Vergehen gegen die Staatsgewalt“ nach Artikel 87 des algerischen Strafgesetzbuches vorgeworfen, der eine mehrjährige Haftstrafe androht. Sein „Vergehen“ waren Ausführungen über den Status der Westsahara, die zwischen Algerien und Marokko strittig sind; darüber kann man trefflich streiten, aber niemanden wegen einer Äußerung einkerkern. Mit unserem Thema hat dies in dreierlei Hinsicht zu tun: Erstens belegt es mit vielen anderen Fällen von Willkür auch in vielen weiteren Regionen, wie sich eine antikoloniale Befreiungsbewegung mit ihrem Resistance-Mythos in eine postkoloniale Diktatur verwandelt hat, wie also aus Befreiung Unfreiheit wurde, die unter keinen Umständen zu verharmlosen, zu ignorieren oder gar zu billigen ist, weil sie im Globalen Süden stattfindet. Der Fall müsste zweitens alle freiheitsliebenden Menschen zur Verteidigung der Meinungs- und Kunstfreiheit bewegen, egal, ob man eine Meinung teilt oder nicht. Aber Teile der Linken tun dies nicht, weil sie nach dem Beifall und den Stimmen der dritten und vierten Generation algerischer Immigranten schielen, darunter von erklärten Islamisten, und sie jede Verletzung von Grundrechten in einer ehemaligen Kolonie ignorieren, weil sie einmal ein Kolonie war und somit zum Globalen Süden zählt. Drittens wird in diesem Kalkül Antisemitismus hingenommen, wenn Sansal, der auch in Israel gelesen und Kontakte hat, ein Verteidiger verweigert wird, der (und weil er) Jude ist und im sogenannten „antizionistischen Frontstaat“ Israel zum globalen Süden gezählt wird. Solche Frivolitäten darf sich ein ernsthafter Postkolonialismus nicht leisten. Abgegriffen, aber treffend ist die Zeitdiagnose von Antonio Gramsci: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“ Wer sich da unbeirrbar auf der Seite der Guten weiß, ist blind.

 

 

Siehe auch: Abrechnung 1

Claus Leggewie hielt diesen Vortrag am 15. März 2025 bei den 57. Römerberggesprächen in Frankfurt am Main.

Erstellungsdatum: 13.04.2025