Ernstalbrecht Stiebler, der im Juni 2024 gestorben ist, war eine der letzten Persönlichkeiten der musikalischen Nachkriegsavantgarde. Der Komponist und hr-Redakteur gehörte zu den profilierten Komponisten, die in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts an Arnold Schönberg und Anton Webern sowie an Karlheinz Stockhausen anknüpften, um dann ein eigenes, radikales Musikdenken zu entwickeln. Stefan Fricke, einer der Nachfolger Stieblers in der Redaktion der Neuen Musik des Hessischen Rundfunks, beschreibt sein musikalisches Denken.
Langsamkeit – In den Klang gehen – Reduktion – Im Klang sein – Wiederholungen – Klangraum – Reibungen – Schwebungen – Klangkonturen – Leisigkeit – Zwischen den Tönen… Die Musik von Ernstalbrecht Stiebler braucht eine lange Weile, um fortzuschreiten, um sich zu entfalten, um Zeit zu gestalten: Note um Note, Zeile um Zeile – mit jeweils minimalen Veränderungen.
Der 1934 in Berlin geborene Ernstalbrecht Stiebler studiert zwischen 1954 und 1959 an der Musikhochschule Hamburg Komposition bei Ernst Gernot Klussmann und Schulmusik; Geografie belegt er an der Hamburger Universität als zweites Fach. Seine schriftliche Arbeit zur Prüfung für das künstlerische Lehramt an Höheren Schulen schreibt er 1960 über Die vier Streichquartette von Arnold Schönberg, dessen Werk ihn in jener Zeit fasziniert und inspiriert. Schon 1958, als drittes Stück seines Werkkatalogs, komponiert er das dreiminütige Flötensolo Hommage à Schoenberg, dem 2004 das dem eng befreundeten Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger gewidmete, ebenfalls sehr knappe Klaviersolo Hommage à Schönberg II folgt, das die Takte 13 bis 21 aus dem ersten der Schönberg’schen Fünf Klavierstücke op. 23 (1920/23) produktionsästhetisch reflektiert.
Die Bezugsgröße Schönberg, wozu auch dessen Schüler Anton Webern zählt, verkleinert sich dann durch Stieblers Erfahrungen bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, an denen er in den 1950er und 1960er Jahre regelmäßig teilnimmt. Dort besucht er die Kurse von Karlheinz Stockhausen, dessen Musikdenken wiederum produktive Spuren im eigenen Oeuvre hinterlassen. So etwa in Stieblers 1961 entstandenen Klangmomenten für zwei Klaviere. Das im selben Jahr während der Ferienkurse uraufgeführte Werk mit allerhand Arabesken und manchen Lautheiten – beidem begegnet man alsbald kaum mehr in Stieblers Oeuvre –, ist in allen Details genau kalkuliert. Die konzipierte Expression resultiert aus einem strengen Reglement der Texturen, die seriell grundiert und ausgearbeitet sind. Auch als Stiebler kurz darauf in den Musikkonzeptionen von Giacinto Scelsi, Morton Feldman und LaMonte Young nachhaltige Impulse für sich entdeckt und einlöst, gibt er das systematische Arbeiten, das Vor-Strukturieren des dann in der Partitur gültig Ausformulierten nicht auf. Die intuitiven Wege Scelsis und Feldmans sind nicht die seinen. Die kritische Befragung des bisher Komponierten führt ihn zu seinem eigenen Weg der Reduktion und der ausgedehnten Zeit. Das erste Artefakt dieser ästhetischen Neubestimmung ist das 1963 geschriebene Extension I für Streichtrio. Diese langsame Musik der Reduktion auf der Basis von Wiederholungen, die anders funktioniert als die repetitiven und einnehmenden Pattern-Techniken der US-amerikanischen Minimal Music, entspricht ganz und gar nicht den damaligen Zeitläuften und wird von so manchem Weggefährten vehement beargwöhnt. In Extension I geht es – der Titel legt es bereits nahe – um Dehnung, um das Festhalten des Klanges, um das Artikulieren einer elementaren Kontinuität, einer fließenden Fixierung und Umspielung des Tritonus f-h, unterbrochen von gelegentlichen Ausbrüchen in andere Regionen. Aber insgesamt nur wenige Töne.
Langsamkeit – In den Klang gehen – Reduktion – Im Klang sein – Wiederholungen – Klangraum – Reibungen – Schwebungen – Klangkonturen – Leisigkeit – Zwischen den Tönen... – Alle diese Wörter benennen Grundsätzliches in der Ästhetik Ernstalbrecht Stieblers. Anders gesagt: Seit Mitte der 1960er Jahre befindet sich Stiebler auf dem Weg, alle diese Wörter und ihre Assoziationsfelder musikalisch einzulösen. Und das, obwohl er für die eigene Musik ab 1969 nur noch recht wenig Zeit hat. Bis 1995 arbeitet er als Redakteur für Neue Musik beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt am Main und engagiert sich in aberhunderten von Sendungen, Konzertveranstaltungen und Produktionen intensiv für die Werke anderer. Zeit bleibt ihm, dem skrupulös Arbeitenden, nur für das Entwickeln von ein oder zwei kleinbesetzten Stücken pro Jahr; ein erstes Orchesterwerk entsteht erst 1999; es heißt Unisono Diviso, mit dem er ästhetisch neuerlich bestätigt, was er 1963 mit seinem Streichtrio Extension I begonnen hat. 2013 und 2018 entstanden zwei weitere Orchesterstücke: De-crescendo und ein gruß, eine Stele für den im Mai 2018 gestorbenen Freund Dieter Schnebel; alle drei Kompositionen hat das hr-Sinfonieorchester im Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main in den Entstehungsjahren uraufgeführt.
Den Anfang der 1960er Jahre beschrittenen ästhetischen Pfad hat Stiebler, der seit 2016 in Berlin lebt – etliche Jahre lang pendelt er monatsweise zwischen Frankfurt am Main und Berlin, um den Musikerfreunden wie Heinz-Klaus Metzger, Dieter Schnebel, Walter Zimmermann und Hauke Harder nah zu sein – bis zu seinem Tod am 7. Juni 2024 nicht verlassen. Vielmehr hat er die Wegmarken zunehmend enger gezogen, die Techniken verfeinert, das Material und seine Parameter soweit reduziert, das er eigentlich den Nullpunkt erreicht haben müsste. Doch zwischen dem Etwas und dem Nichts gibt es bei aller Reduktion – und das lehrt Stieblers Musik wie fast keine zweite – immer noch einen zu erforschenden Zwischenraum. Der mag derart eng und für viele auch deshalb so unattraktiv sein, für Stiebler besitzt noch die kleinste Distanz und das kleinste Detail genügend Substanz, um damit zu operieren, sie ästhetisch auszuloten. Seine klanglichen Setzungen aber versteht er als Angebote, als Offerten an den Hörer, sich frei zu bewegen. Er gibt ihnen keine, von was auch immer handelnde, wortlose Story an Hand.
Stieblers Musik ist immer nur Klang; Klang weitestgehend ohne Bedeutung; purer Klang, unter größtmöglichem Verzicht auf vertraute Rhetorik. Aber dass Musik generell im mitteleuropäischen Verständnis stets auch eine Rede ist, glaubt Stiebler allerdings schon, ebenso, wie er einmal in einem Gespräch geäußert hat, dass „Musik eine Möglichkeit ist, auch frei zu sein und sich im Geiste zu bewegen“. Und solche geistigen Bewegungen evoziert er in und mit seiner Musik durch eine bewusst gestaltete Langsamkeit, die allerdings nie so extreme Spreizungen entfaltet wie Feldmans Spätwerk-Stücke von teils mehreren Stunden Dauer. Die äußere Langsamkeit von Stieblers Kompositionen dauert meist zwischen zwanzig und dreißig Minuten, ist für das Publikum also recht kommod. Aber sie reicht aus, um die „übergroße Sorgfalt des Gehirns gegenüber allen Einzelheiten“ – so heißt es in Stan Nadolnys 1983 publiziertem Roman Die Entdeckung der Langsamkeit – für seine Musik zu aktivieren, um so auch neue Klangebenen, mithin verborgene Klangdetails erleben und erkennen zu können. Langsamkeit, um die präzisen Detail-Betrachtungen überhaupt zu ermöglichen; Langsamkeit und Wiederholung, um über Redundanz neue Informationen mitzuteilen, die sich von den vorherigen nur jeweils leicht unterscheiden – aber stetig. Langsamkeit, Wiederholung und Reduktion des Materials, um die Prozesse so transparent zu artikulieren wie irgend möglich. All das dient der Ermittlung und Gestaltung des Klangs, dessen elementare Substanz mannigfaltiger ist, als sie in der eloquenten und dezidiert Form-orientierten Musik in Erscheinung tritt. An den Klang herangehen und in ihn hinein...
Zeilen betitelt Ernstalbrecht Stiebler 1970 ein Klavierstück, ein programmatischer Hinweis, denn spätestens seit dieser Zeit arbeitet er stets mit einem Schema, das an die strenge Versform eines Gedichts erinnert, an ein Sonett oder an ein japanisches Haiku, oder – weil Stiebler ja mit Modifikationen von Zeile zu Zeile operiert – an die Isorhythmie des Mittelalters, in der sich bei gleichbleibendem Rhythmus die Tonhöhenverläufe stetig verändern. Da gibt es Kompositionen, denen hat Stiebler 19 Zeilen zugrunde gelegt: etwa seinem Klavierstück ‘87 oder dem 1995 entstandenen und mit einem durchaus autopoetologischen Titel versehenen Bassflöten-Solo Zeile um Zeile. Andere Kompositionen basieren auf einer anderen Anzahl von zuvor festgelegten Zeilen. Der Werkkommentar Stieblers für seine beiden Stücke Sequenz I für ein bis drei Instrumente von 1982 sowie Sequenz II für Cello und Tonband aus dem Jahr 1984 mag das Zeilen-Prinzip verdeutlichen: „Veränderung als Wiederholung / Wiederholungen von Veränderungen / Überlagerungen von Veränderungen / Veränderungen von Veränderungen.“
Ernstalbrecht Stiebler hat ein Oeuvre geschaffen, das sich absetzt von der weitverbreiteten komponierten Expressivität, das aus einer bewusst emotionsfrei gehaltenen Musik seitens des Komponisten besteht. Stiebler: „Ich finde es einfach schade, wenn die Musik missbraucht wird für ganz persönliche Gefühle. Ich finde, Musik ist einfach eine Welt, die weit darüber hinaus geht. Und ich finde es immer schade, wenn das auch für Kunststückchen, für Brillanz und so etwas verwendet wird. Ich versuche das zu vermeiden.“ Und das hat er, der seit einiger Zeit seine Kompositionsideen quasi konstruktionsimprovisatorisch und wohl immer noch nicht intuitiv am Klavier realisiert, zuweilen auch mit instrumentalen Partnern und in öffentlichen Auftritten, eingelöst: Zeile um Zeile, Klang um Klang, Klang als Klang.
Erstellungsdatum: 09.07.2024