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Mozarts „Mitridate“ an der Oper Frankfurt

Achterbahn der Gefühle

Andrea Richter


Bianca Tognocchi (Aspasia) mit ihrem Double Foto: Matthias Baus

Ein Feuerwerk menschlicher Gefühle in musikalischer und tänzerischer Form prasselte bei der Premiere von Mozarts erster großer Oper „Mitridate, re di Ponto“ auf das Publikum in der Frankfurter Oper ein. Freuden- oder Wutkoloraturen in einem Moment, Liebe, Ängste, Zweifel und Trauer im nächsten. Einblicke in Innen- und Außenwelten wechselten in rasender Geschwindigkeit mit der Präzision und Schönheit eines Schweizer Uhrwerks. Am Ende blieb für Andrea Richter nur eine Frage: Wie konnte ein 14-Jähriger so etwas komponieren?

 

Schon während der flotten Ouvertüre erahnen wir, dass viel los sein wird. Mozart stimmt uns bereits in den ersten Takten ein: entschlossene Akkorde und federleichte Streichermelodien, die von niemand anderem als von ihm stammen können. Auf einem Vorhang der Text mit der Vorgeschichte: Mitridate, der König von Pontus (heute die türkische Schwarzmeer-Region), wurde von den Römern besiegt. Obwohl er lebt, lässt er das Gerücht über seinen Tod verbreiten, um zu sehen, wie seine Söhne Farnace und Sifare reagieren werden. Seine junge Braut Aspasia, die er bereits vor der Schlacht zur Königin gekrönt hatte, war bei ihnen zuhause geblieben. 
Das Zuhause: die Innenräume eines großzügigen Hauses in 1960-er Jahre Architektur. Dort wohnen keine armen Leute, sondern wohlhabende Unternehmer. Ein arroganter junger Mann (Farnace) lässt sich vom Majordomus (Hausdiener, stumme Rolle) in grüner Livree bedienen und kommandiert ihn gestisch herum. Außerdem bedrängt er eine junge Frau (Aspasia), ihn zu heiraten. Sie ist verzweifelt: Ihr ungeliebter Bräutigam, der König-Boss, tot, Farnace will sie nun zur Frau, aber sie liebt (heimlich) seinen Bruder Sifare. Ihr gehört die erste Arie der Oper: „Qual destin …“, mit der Sopranistin Bianca Tognocchi, die die Latte für den folgenden Gesangs-Wettbewerb sofort mit brillanten Koloraturen sehr hoch legt. Inzwischen trifft Sifare ein und Sopranistin Monika Buczkowska-Ward bekennt sich in der Hosenrolle mit berührend sanften Koloraturen zu seiner/ihrer Liebe zu Aspasia. Da wird Farnace (Countertenor Franko Klisović) sauer: Die Abneigung einer schönen Frau könne er ertragen, aber keinen Rivalen. Doch genau das sind die Brüder: Rivalen. Und nicht nur die Beiden gegeneinander, sondern vor allem im Verhältnis zum Vater Mitridate (Tenor Robert Murray, wunderbar rasender Möchtegern-Patriarch, allerdings mit kleinen Problemen in den Registerübergängen), der unerwartet wieder auftaucht und Farnaces Verlobte Ismene (großartig Younji Yi, Sopran!) mitbringt. Damit brechen sich alle Familien-, Konkurrenz- und Generationskonflikte, die es in einer Unternehmerfamilie geben kann, ihre Bahn. Die bewussten und den Anderen kommunizierten Vorgänge sind im Haus zu erleben, die unbewussten oder den Anderen verheimlichten im leeren, weißen Raum der gedrehten Bühne. Dort werden die Protagonisten von dunklen Angst- und Schatten-Gestalten begleitet, bedroht, umfangen oder sehen sich ihren eigenen Doubles gegenüber. Keine angenehmen Begegnungen! Kann das gut ausgehen? Es musste. Denn damals war das lieto fine der Opera seria Pflicht. Und so lässt denn Dirigent Leo Hussain Orchester und Ensemble nach der zuvor musikalisch sensibel ausgeloteten und formidabel zu Gehör gebrachten Arien-Achterbahn der Gefühle (inklusive höchst bemerkenswerter à capella Passagen der Sänger:innen) zum Finale noch einmal herrlich auftrumpfen. 


Ensemble. Foto: Matthias Baus

 

Regisseur Claus Guth stellt den Vater-Söhne Konflikt sehr überzeugend und richtigerweise in den Mittelpunkt seiner Inszenierung. Denn genau diesen Konflikt durchlebte auch Mozart mit seinem Vater Leopold, der für seinen Sohn einen Lebensweg in sicherer Anstellung bei einem König oder Fürsten vorgesehen hatte; ein Begehren, das der Sohn nicht zu erfüllen bereit war. Er wollte der Musik und keinem Herrn dienen. Außerdem mochte er seine Schwiegertochter nicht, die sein Sohn jedoch sehr liebte.  
Das, was die Eltern Anna Maria und Leopold Mozart mit ihren beiden überlebenden, von insgesamt sieben Kindern, taten, würde heute als Kindesmissbrauch bezeichnet. Denn sie trimmten sie zunächst systematisch zu Wunderkindern und nutzten anschließend ihre Fähigkeiten aus Karriere- und Einkommensgründen erbarmungslos aus. Weder Maria Anna Walburga Ignatia (*1751), genannt Nannerl, noch Johannes Chrysostomos Wolfgang Theophil (*1756), so die Taufnamen von Wolfgang Amadeus, besuchten je eine Schule, wurden allein vom ambitionierten und sehr gebildeten Vater und Hofkomponisten des Fürstbischofs in Salzburg  unterrichtet. Insbesondere in Musik. Mit Erfolg. Beide spielten bereits in sehr jungen Jahren ausgezeichnet Klavier und „Wolferl“ zusätzlich Geige und vor allem komponierte er sehr früh. Seine erste dokumentierte Klavier-Komposition (KV1/1) stammt von 1761. Leopold ließ die Kleinen erst in ihrer Stadt auftreten, ab 1762 begann die Reiserei, weil Leopold meinte, dass die Musikalität seiner Kinder der Welt präsentiert werden müsse. Von da an verbrachten die Mozart-Kinder ihr Leben in Kutschen und bei Konzerten an den Höfen des Hochadels, an Akademien und in den Häusern von Adel und Bürgertum in Mittel-Europa. „Leopold Mozart […] setzte gezielt Empfehlungen ein und suchte unentwegt, förderliche Bekanntschaften zu machen, die zu neuen Empfehlungen führen sollten“, beschreibt Ulrich Konrad in seinem Buch „Wolfgang Amadé Mozart. Leben – Musik – Werkbestand“ die Situation.  Leopold kannte kein Erbarmen, selbst nach schwersten Erkrankungen (Typhus und Pocken) mussten sie bald weiter. Längere -sprich ein paar Wochen dauernde - Aufenthalte gab es nur zwischendurch mal in Wien und Salzburg, die aber für Wolfgang keineswegs Müßiggang, sondern schwere Kompositions- und Aufführungstätigkeiten beinhalteten. Dabei muss immer im Hinterkopf behalten werden, dass er noch ein Kind war, auch wenn Kinderarbeit damals nichts Ungewöhnliches war. Trotzdem: was von ihm verlangt wurde, war übermenschlich.  Aber eben auch sein Genie und sein Wille, das zu tun, was er tat. Seine Kunst sprach sich über Salzburg hinaus herum. 
 


Monika Buczkowska-Ward (Sifare) und Tanzensemble. Foto: Matthias Baus

 

Mitte Dezember 1769 brach er mit seinem Vater ins gelobte Land der Musik auf: nach Italien, im 18. Jahrhundert eine Wallfahrtsstätte für Musiker aus allen Nationen. Romain Rolland schrieb in „Musikalische Reise ins Land der Vergangenheit“: „Italien war der große Markt für Sänger, Virtuosen, Instrumentalisten, Komponisten und Opern. Es führte sie zu Hunderten nach England, Deutschland und Spanien aus, nach der Befriedigung seines eignen unglaublich großen Bedarfs: denn es war unersättlich in musikalischen Dingen, und es brauchte Neues, Neues, immer wieder Neues.“  Das Ziel der Mozarts: Mailand. Unterwegs gab es Übernachtungen und Auftritte bei wichtigen Menschen und Würdenträgern. Im März 1770 brillierte Wolfgang mit drei von ihm komponierten Arien bei einer Soirée des Grafen Firmian, einem einflussreichen und die Künste liebenden Österreicher in Mailand. Die Folge: er bekam seinen ersten Auftrag für eine große, abendfüllende Opera seria, die zur Eröffnung der Spielzeit 1770/71 am Teatro Regio Ducale (Vorläufer des Teatro alla Scala) in Mailand aufgeführt werden sollte.  Sie sollte im Köchel-Verzeichnis die Nummer 87 tragen. Was so viel heißt, dass der 14-Jährige zuvor bereits 86 andere Werke aller Art komponiert und aufgeführt hatte, so das Singspiel „Bastien und Bastienne“ oder die komische Oper „La finta semplice“.  Doch der Auftrag bedeutete nicht etwa, dass er sofort loslegen konnte. Nein, das Textbuch erhielt er erst Monate später, nachdem er mit dem Vater bis nach Neapel und zurückgereist war, bedeutende italienische Komponisten kennengelernt und in Rom von Papst Clemens XIV. den „Orden vom Goldenen Sporn“ verliehen bekommen hatte. Erst Ende Juli erhielt er das Libretto und konnte während eines längeren Aufenthaltes auf dem Landgut eines italienischen Feldmarschalls bei Bologna mit der Komposition beginnen.  Man stelle sich vor, welcher Druck auf diesem heranwachsenden Jugendlichen lastete. 

Er wusste, dass ihm ein sehr gutes Sänger:innen-Ensemble zur Verfügung stehen würde. Zwei von ihnen kannte er bereits, hatte den Klang ihrer Stimmen im Ohr, konnte für sie direkt schreiben: den Alt-Kastraten Giuseppe Cicognani, der für die Rolle des Farnace vorgesehen war. Mit ihm zusammen war Wolfgang Amadé bereits im März aufgetreten und dieser hatte ihn in mehrfach auf dem Landgut bei Bologna besucht, war zum Freund geworden.  Auch Antonia Bernasconis Stimme war ihm im Ohr, weil er sie zwei Jahre zuvor in Wien als Alceste von Willibald Gluck erlebt hatte. Ihr schrieb er die dramatische Partie der Aspasia auf den Leib. Mitte Oktober ging es nach Mailand, um die Komposition zu beenden und die Vorbereitungen für die Aufführung voran zu treiben. Dort sah er sich unter anderem mit dem Problem konfrontiert, dass die Italiener einem 14-jährigen Salzburger nicht zutrauten, italienische Arien zu schreiben. Doch Cicognani und vor allem Bernasconi unterstützten ihn nach Kräften, das Werk wurde schließlich zum großen Erfolg und katapultierte den jungen Wolfgang Amadé in die Liga der ernst zu nehmenden Komponisten. 

 

 

Siehe auch:
Mitridate

 

 

 

 

Foto: Matthias Baus

Mitridate, re di Ponto
Opera seria in drei Akten 

Musik: Wolfgang Amadeus Mozart 1756–1791 
Text: Vittorio Amedeo Cigna-Santi nach Jean Baptiste Racine

Uraufführung 1770, Teatro Regio Ducale, Mailand
In Koproduktion mit dem Teatro Real, Madrid, dem Teatro di San Carlo, Neapel und dem Gran Teatre del Liceu, Barcelona

Musikalische Leitung:
Leo Hussain

Inszenierung:
Claus Guth

Szenische Leitung der Neuproduktion:
Axel Weidauer

Bühnenbild:
Christian Schmidt

Kostüme:
Ursula Kudrna

Choreografie:
Sommer Ulrickson

Licht:
Olaf Winter

Dramaturgie:
Konrad Kuhn

Mitridate:
Robert Murray

Aspasia:
Bianca Tognocchi

Sifare:
Monika Buczkowska-Ward

Farnace:
Franko Klisović

Ismene:
Younji Yi

Marzio:
Jihun Hong

Arbate:
Kudaibergen Abildin

Majordomus:
Philippe Jacq

Tänzer*innen
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Weitere Vorstellungen: 11., 14., 20., 22., 28. Dezember 2025 sowie 4. und 10. Januar 2026 

Oper Frankfurt

Erstellungsdatum: 11.12.2025