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Als Kathederphilosophin kann man sich Hannah Arendt nur schwer vorstellen. Eigensinnig, mutig und widersprüchlich hat sie den Lehr- und öffentlichen Meinungen, der herrschenden Moral und den Ideologien ihre Überlegungen entgegengesetzt, über die bis heute gestritten wird, weil sie nicht ignoriert werden können. Eine andere, nicht weniger selbstbewusste Seite ihrer Persönlichkeit offenbarte sie als Briefeschreiberin. Ria Endres hat ihre Korrespondenz mit Kurt Blumenfeld gelesen und lässt uns wissen: Hannah Arendt mag vor 50 Jahren gestorben sein. Tot ist sie aber immer noch nicht.
In der Zeit der Beschleunigung von Information wird nach Ansicht von Paul Virilio, einem wichtigen Diagnostiker unserer Kommmunikationsgesellschaft, beinahe alles vermischt oder atomisiert, was dazu führt, sich nicht mehr als „Zeitgenosse“ zu fühlen, als ein Mensch, der noch zum Nachdenken kommt über sein Leben in der Welt.
Die Geschichte der Geschwindigkeit ist für ihn die Geschichte des verschwindenden Subjekts. Ein heute sehr veraltet wirkendes Mittel gegen die Beschleunigung ist z. B. das Briefeschreiben. Es bedeutet, mit dem kleinen Gewicht der Wörter und Sätze, die schwarz auf wei“ dastehen, die Gegenwart des Briefpartners hervorzurufen, um auf diese Weise der flüchtigen Präsenz, die etwa in einem Telefonat entsteht, eine dauerhaftere Dimension zu geben: Briefeschreiben als Zeitverzögerung, als Möglichkeit für Erzählung, Reflexion, Konfliktbewältigung, als Wunsch, eine Beziehung zur Realiät über weite Räume hinweg herzustellen. Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde von einer Kultur des Briefeschreibens gesprochen.
Hannah Arendt war nicht nur eine herausragende politische Theoretikerin, die sich mit ihren zahlreichen Essays und Büchern eine einzigartige Stellung unter den Denkern ihrer Generation erschrieben hat, sondern sie kann ganz ohne Übertreibung auch als eine bedeutende Briefschreiberin gesehen werden. Obwohl sie Briefeschreiben einmal als „gefährlichen Unfug“ bezeichnet hat, hielt sie mit unglaublicher Ausdauer und über Jahrzehnte am Briefeschreiben fest. Allein mit ihrem Doktorvater Karl Jaspers hat sie von 1926 - 1969 über vierhundert Briefe gewechselt. Es gibt hunderte von Briefen an ihren geliebten Mann Heinrich Blücher und an ihre Schriftstellerfreundin Mary McCarthy. Sie haben etwas sehr Inniges und begleiten sie auf ihrem Lebensweg. Ihre geistige Freiheit dokumentieren auch die Briefe an Walter Benjamin, Herrmann Broch, Martin Heidegger, Uwe Johnson oder Gershom Scholem, alles wertvolle zeitgeschichtliche Dokumente und Belege für ihre gelebte Philosophie. Für die deutsch-jüdische Exilantin, die aus Deutschland fliehen musste, machen die Briefe oft „unfreiwillige Weltreisen.“ So unterschiedlich ihre Briefparter auch sind, so großen Wert legt sie auf ein dialogisches Schreiben.
Nicht so bekannt sind die 125 Briefe zwischen Hannah Arendt und Kurt Blumenfeld, die zum großen Konvolut der Veröffentlichungen gehören. Der Briefwechsel umfasst den Zeitraum zwischen 1945 bis 1963. Ein einziger Brief aus dem Jahr 1933 ist erhalten, die Korrespondenz zwischen 1933 bis 1945 muss leider als verloren gelten.
Wer war nun dieser Kurt Blumenfeld? Die Hannah-Arendt-Biographin Elisabeth Young-Bruehl glaubt, Hannah Arendt hätte Kurt Blumenfeld in ihrer Jugend genauso bewundert wie Heidegger und Jaspers. Hannah Arendt betont in ihren Briefen auch immer wieder, wie dankbar sie ihrem Freund dafür war, dass er ihr die Welt des aktiven Judentums aufgeschlüsselt hat.
Der ostpreußische Jude Kurt Blumenfeld wurde 1884 geboren, war 22 Jahre älter als Hannah Arendt, ein Jahr jünger als Jaspers und fünf Jahre älter als Heidegger. Als sie Blumenfeld 1926 bei einer Versammlung des zionistischen Studentenvereins in Heidelberg kennenlernte, war dieser nach einem abgebrochenen Jurastudium Hauptsprecher der deutschen Zionistenorganisation geworden, ein begabter Redner, äußerst vital, ein Mann der Art, die Hannah Arendt „masculini generis“ nannte. Er liebte die Frauen, und die gerade 2ojährige Hannah, die eine schwierige und geheime Liebesgeschichte mit Heidegger quälte, und deren Verhältnis zu Jaspers eine Art Tochter-Vater-Verhältnis war, konnte in der Gegenwart von Kurt Blumenfeld frech und kokett sein, aber vor allem ihre Weiblichkeit genießen. Er wurde ihr Mentor in Sachen Politik. Auf unaufdringliche, spielerische Weise geriet Hannah, die sich bisher ausschließlich der „reinen“ Philosophie gewidmet hatte, plötzlich zu Fragestellungen, die sie ihr ganzes Leben lang mit sich herumtragen wird und die Blumenfeld „objektive Judenfrage“ nannte. Durch seine Kritik an der Assimilation wurde sich Hannah Arendt erst so richtig bewusst, dass sie selbst Jüdin war.
Sie schieb eine Biographie über Rachel Varnhagen. Mit dem Begriffspaar „Paria-Parvenu“, das Kurt Blumenfeld benutzte, um die schwierige Stellung der Juden in Deutschland zu charakterisieren, kann sie exemplarisch den Weg der Rahel verfolgen. Die Wirklichkeit des rein Geistigen war also Hannah Arendt nicht genug, und als sie mit 23 Jahren nach Berlin ging und Günter Stern heiratete, der sich später Günter Anders nannte, trat der autonome Raum der Philosophie immer mehr in den Hintergrund. Kurt Blumenfeld diskutierte mit ihr die „höllische Zwickmühle“, in die Rachel nach ihrer Flucht aus der Freiheit der Ausgestoßenen geraten war. Wenn sich Hannah Arendt in die Lebensgeschichte der Frühromantikerin versenkt, so ist es ihr, als versenkte sie sich in ihre eigene Geschichte. Ihre Schlussfolgerung lautet: Selbstbewusstsein als Paria ist notwendig, um nicht die eigene Identität zu verlieren, um nicht zum Parvenu zu werden. Am Außenseiterleben, am Rande der Geselllschaft, hat Hannah Arendt bis zu ihrem Tod festgehalten.
Auch ihre Briefe sind voll von Äußerungen, die diese Weigerung, sich zu integrieren, immer wieder betonen. Für sie ist es selbstverständlich, keinen materiellen Besitz anhäufen zu wollen, und das hat Konsequenzen im Umgang mit den Freunden. So schreibt sie 1945 von New York aus an Blumenfeld nach Jerusalem:
„Ich kenne gut die Angst, alte Freunde wiederzusehen. Bei Bohemiens, wie wir es sind, das heißt bei Menschen, die in keinem Besitz verwurzelt sind, und darum ihr Milieu sozusagen immer mit sich herumtragen oder, richtiger, darauf angewiesen sind, es immer neu zu produzieren, wächst diese allgemein menschliche und natürliche Angst sich leicht zur Panik aus, weil sie ja wissen, daß ihre Sensiblität von keiner Bibliothek (bildlich gesprochen) und von keinem Mobiliar geschützt sind. Freundschaften und menschliche Beziehungen werden da noch wichtiger, obwohl es klar ist, daß man an sie immer übertriebene Anforderungen stellt. Da sie das einzige Milieu sind, mit dem man sich privat zufriedengeben kann, können sie sich trotz aller Treue und Loyalität nur erhalten im lebenden Kontakt. Wenn man Mobiliar hat, kann man sich gut daran gewöhnen, auch Menschen als Teile seinen Mobiliars hinzunehmen. Wenn man aber ohne Mobiliar existiert, nämlich als Bohemien, ist die Sache erheblich schwieriger."
Schon im Berlin der 20er Jahre war es nie ihr Bedürfnis, bürgerliche Bequemlichkeiten um sich herum aufzubauen. Sie ist zu sehr von Innen heraus beschäftigt mit geistigen Dingen und mit ihren politischen Aktivitäten, zu denen sie durch den sich immer mehr verschärfenden Antisemitismus gezwungen wird. Sie trifft sich mit zionistischen Freunden, während Günter Stern mehr in kommunistischen Kreisen verkehrte. Wohl wegen Kurt Blumenfeld, der Hannahs romantisches und zugleich kompromissloses Wesen mehr lieben und respektieren konnte als ihr Mann, gab es laut Elisabeth Youg-Brühl oft Streit. Hannah rauchte die stinkenden Zigarren Blumenfelds, eine unkonventionelle Geste, die Stern hasste. Er floh in der Zeit des Reichstagsbrandes nach Paris, und Hannah Arendt versteckte in ihrer Wohnung politische Flüchtlinge. Blumenfeld bat sie, in der Preußischen Staatsbibliothek antisemitische Äußerungen als Material für den 18. Zionistischen Weltkongress zu sammeln. Da wurde sie verhaftet und kam nur durch ihren Charme wieder frei.
Aber der Schock der neuen Politik saß ihr im Nacken. Zugleich war ihr klar: Sie musste Widerstand als Jüdin und als politischer Mensch leisten. Sie flieht mit ihrer Mutter über Prag nach Paris und arbeitet in einer zionistischen Flüchtlingsorganisation, während Blumenfeld 1933 nach Palästina emigriert und dort zunächst die Abteilung „Organisation und Information“ der Hebräischen Universität in Jerusalem leitet. 1935 wird er Direktionsmitglied, später Geschäftsführer der Keren Hayessod (der Spendenorganisation für die Finanzierung des Aufbaus in Palästina), nimmt 1939 am zionistischen Weltkongress teil und 1942 an der amerikanischen Zionistenkonferenz in New York, wo er wieder Hannah Arendt trifft, die 1941 mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher nach Amerika ausgewandert war und zunächst als Journalistin tätig ist. Sie war froh, in Amerika leben zu können, ohne sich assimilieren zu müssen. Als Blumenfeld 1945 nach Palästina zurückkehrt, arbeitet er kaum noch in seinen alten Funktionen. Offensichtlich lag ihm nichts daran, Machtpositionen innezuhaben oder als Funktionär an irgendwelchen Posten festzuhalten. Immer wieder betont er in seinen Briefen an Hannah Arendt, dass er keinen Partei angehört und im Grunde keinen Aufstieg gemacht hat. Aber das gefällt Hannah Arendt gerade, der nichts mehr verhasst ist, als der bürgerliche Leistungsbegriff. Sie schätzt und liebt die Unabhängigkeit Blumenfelds, auch wenn er sie mit politischer Isolation bezahlen muss. Trotz aller Ambivalenz hat er Palästina zu seiner neuen Heimat gewählt. 1945 schreibt er:
„Es gibt im jüdischen Leben Palästinas genug unerfreuliche Erscheinungen. Aber Palästina ist wahrscheinlich das einzige Land, in dem Geld nicht ausreicht, um zu Ansehen zu kommen. Ein großes Problem ist die neue Einwanderung, von der ihr naturgemäß nur das hört, was man erzählen will. Ich habe oft das Gefühl, daß Menschen kommen, wie sie in der Zeit nach dem 30jährigen Krieg in Deutschland existiert haben. Kameradschaft und Treue sind Begriffe, die einem großen Teil völlig fremd sind. Man stiehlt dem frierenden Kameraden die letzte Decke, um sie auf dem schwarzen Markt zu verkaufen. Gleichzeitig haben wir hier das Problem der orientalischen Juden, für die der Superman die Idealgestalt ist. Der Goi ist kein Mensch, auf den Rücksicht zu nehmen ist.“
Hannah Arendt wäre nie auf die Idee gekommen, sich in Palästina niederzulassen. Heimat kann für sie nur die Beziehung zu Freunden sein. Ihr Festhalten an Brieffreundschaften, auch an der mit Blumenfeld, ist vor allem aus diesem alten Heimatgefühl, das im Innerern überlebt hat, zu erklären.
Sie, die sozusagen immer mitten im Leben steht, schwierigste Emigrantensituationen überwunden hat und als politische Denkerin unaufhaltsam ihren Weg machen wird, von ihrem zweiten Mann Heinrich Blücher geliebt und verehrt wird, fühlt sich oft einsam und melancholisch. Sie schreibt 1946:
„Du weißt natürlich nicht, wie ich mich über jeden Brief freue, wie ich ihn aufreiße, wie ich dich vermisse und mich vereinsamt fühle, seit du weg bist. Sieh, versteh doch, daß diese Zeiten einem den Atem verschlagen und daß man sich nicht mehr traut, noch persönliche Gefühle auszudrücken – weil der allgemeine Kummer zu groß ist. Das alles überwindet man durch Gegenwart, weil man sich da eben gehen läßt und ausruhen kann. Schuld bist natürlich du; Du hättest niemals davon fahren dürfen.“
Immer wieder werden von ihr Freundschaft und Treue als die wichtigsten Elemente diskutiert, um Denken frei äußern zu können. Hannah Arendt, deren Vater früh gestorben war, hat sich ihr Leben lang an Vaterfiguren abgearbeitet. Besonders die Vaterfiguren Jaspers und Blumenfeld blieben so etwas wie ein lebenslanger, väterlicher Schutz. Auf diesem skizzierten Hintergrund müssen die Briefe zwischen Hannah Arendt und Kurt Blumenfeld gelesen werden. Ihr Briefwechsel nach 1945 bezieht sich immer wieder ganz emphatisch auf gemeinsame politische Erlebnisse in Deutschland, aber ihr Leben verlief in völlig unterschiedlichen Bahnen. Obwohl Blumenfeld nie ein zionistischer Nationalist war, bedeutete für ihn die Gründung Israels eine Voraussetzung dafür, dass man in „erträglicher Unzufriedenheit“ leben konnte, während Arendts Kritik an Israel immer mehr an Schärfe zunahm. Er zog sich zunehmend ins Privatleben zurück, Hannah Arendt hingegen wurde mit ihren Publikationen in deutscher und englischer Sprache immer berühmter. In den Briefen werden oft die Begriffe der Freundschaft, des Vertrauens, aber auch der Einsamkeit benutzt. 1953 schreibt Blumenfeld:
„Die Einsamkeit wird immer größer. Es gibt natürlich Menschen, die vom Recht mehr halten als vom Terror, aber unter ihnen nur wenige mit bürgerlichem Mut, durch den ihre Meinung erst wichtig wird. Ich höre viel Mozart und Bach, lese Dinge, die mindestens 150 Jahre alt sind, rede oft mit jungen Menschen. (...) Dich hätte ich gern noch einmal wiedergesehen. Mir scheint, daß es nicht mehr dazu kommen wird. Ich richte mich (...) auf ein großes Abschiednehmen ein. Ich will jetzt anfangen, soweit die Zeit ausreicht, meine Erinnerungen zu sammeln. Wahrscheinlich ist auch das sinnlos, da es kaum noch Menschen gibt, die für so etwas Interesse haben.“
Hannah Arendt antwortet prompt: „Ja, die Einsamkeit wird immer größer und der Abstand zwischen dem, was man selbst macht und denkt und dem, was die anderen treiben und meinen, wird zu einer Art Abgrund, über den zu springen man nicht einmal sonderlich Lust hat (...). Daß es Menschen gibt, die vom Recht mehr halten als vom Terror, ist ganz unerheblich. Denn auch für diese sind Recht und Terror nichts als verschiedenen Werte, die man beliebig gegeneinander vertauschen kann, so wie das Gute in der modernen Welt ein Wert geworden ist, den man (...) gegen den Wert des Opportunen eintauscht. Wer das nicht tut, ist halt ein Idealist, eine Art Narr, der sich nicht entschließen kann, im Falle der Not ein Stück seines Hausrats zu versilbern. (...) Dein Brief kam wie ein Stück eines nie endenden Gesprächs."
Beide Briefpartner fühlen sich, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, von historischen Entwicklungen isoliert. Zu richtigen Briefen gehört aber auch der intensive Gedankenaustausch und der Klatsch über Freunde und die Familie. Wir finden ihn reichlich. Je mehr Zeit indes vergeht, um so deutlicher wird es, dass Blumenfeld der Werbende ist. Kaum ein Brief, in dem er nicht ein Wiedersehen herbeisehnt und Hannah Arendt nach Jerusalem einlädt oder sich mit ihr in Deutschland, der Schweiz oder Italien treffen will, obwohl er für Auslandreisen nie genug Geld hat.
„Meine liebe Hannah, ich bekam ganz unerwartet ein Telegramm von meinem Anwalt in Berlin, daß ich zur Durchführung meiner Ansprüche hinkommen soll (...). Wenn ich Gelegenheit hätte, würde ich auf der Hinreise gern eine Woche in Italien sein. Ist es vielleicht möglich, dich in Europa zu treffen? (...) Ich muß dich vor meinem Tod noch einmal sehen. Auf Deinen Besuch in Jerusalem wage ich nicht mehr zu hoffen. Ich bin also bereit, dir auf halbem Weg entgegenzukommen.“
Hannah Arendt antwortet: „Mein liebster Kurt! (...) Wie gerne käme ich! Warum konntest Du nicht voriges Jahr nach Europa kommen? (...) Schau, Lieber, ich bin doch kein Krösus, obwohl ich mich voriges Jahr so benommen habe. Wichtiger aber ist, daß ich wegen verschiedener Verpflichtungen nicht gut weg kann. Ich habe bis Ende April eine Serie von Vorträgen hier in New York. Im Herbst muß ich 6 Vorträge in Princeton halten; die müssen genau eigentlich in Buchform ausgearbeitet sein. Es ist nicht teaching, sondern eine der hier üblichen Lecture-series, für die man königlich bezahlt wird. (...) Im Juli bin ich in Harvard. Et Voila!"
Hannah Arendt hat immer wichtige Gründe, sei es die Fertigstellung von Manuskripten oder eine Reise, die sie aus beruflichen Gründen nach Deutschland oder Frankreich oder in die Schweiz machen muss nach Jerusalem bezahlen kann. Die Begründung wird deshalb immer unglaubwürdiger, weil sich Stipendien und Buchverkäufe häufen und ihr Mann Heinrich Blücher Professor geworden ist.
Ab 1951 beginnt auch ihre Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten. Nein, Hannah Arendt will einfach nicht nach Israel und versucht, ihre Reisen nach Europa mit denen von Kurt Blumenfeld zu koordinieren oder vertröstet ihn auf ein Wiedersehen in Bälde. Sie möchte ihn in Deutschland, der Schweiz oder Italien treffen, aber es klappt nur zweimal unter größten Mühen für ein paar Tage.
Blumenfeld bleibt der ständig Bittende. Hannah Arendt findet aber durchaus Zeit für einen 14tägigen Besuch bei Jaspers.
Blumenfelds Insistieren auf einem Wiedersehen hat schon fast etwas Tragisches, weil er immer kränker und schwächer wird. Er weiß natürlich, dass Hannah ihm in der theoretischen Arbeit haushoch überlegen ist und sagt es auch. Sie bittet ihn, ihren wachsenden Ruhm nicht ernst zu nehmen, und ihre Gefühle der Freundschaft sind echt und anrührend. Obwohl aber Hannah Arendt immer von der großen Freude spricht, wenn sie einen Brief von ihm erhält, reichen ihre Gefühle doch nicht mehr ganz, um ihm im wahrsten Sinne des Wortes entgegenzukommen. Ihr genügen seine Briefe.
Die Bemühungen um Klarheit des Ausdrucks und der Gedanken ist übrigens in den Briefen an Jaspers (den „sehr verehrten, lieben Herrn Professor“) weitaus intensiver, als in den Briefen an Blumenfeld. Als sie dann 1961 doch nach Israel fährt, kommt sie vor allem als Berichterstatterin des Eichmannprozesses.
Blumenfeld, der sie immer grenzenlos bewundert hat, begleitet sie, schwer krank, zum Prozess. In ihrem späteren Bericht versuchte sie, Eichmann zu entdämonisieren. Der ehemalige SS- Obersturmbandführer ist für sie, (so in einem Brief an Jaspers) „kein Adler, eher ein Gespenst.“ Auch das heikle Thema der Kollaboration der Judenräte thematisiert sie. Daraufhin begann eine große Diffamierungskampagne gegen Hannah Arendt. Auch zu ihrem alten Freund entstand plötzlich eine Kluft, die nicht mehr überbrückt werden konnte. Schon vom Tode gezeichnet wollte sich Blumenfeld noch öffentlich von ihr distanzieren. Beiden war es gelungen, ein Leben lang anständige Paria zu bleiben. Die Aussage von Paul Valéry, dass der Mensch nur an seiner Oberfläche Mensch sei, hätten die beiden nie akzeptieren können, denn für sie war das Menschsein an geistig-seelische Werte gebunden. Ob die Arendtsche Sicht auf Eichmann und die Banalität des Bösen am Ende unversöhnlich zwischen ihnen stand, bleibt ungeklärt. Auch der Kontakt zwischen Scholem und Hannah Arendt erlischt nach dem Eichmannprozeß, denn die Vorwürfe, sie würde die Schuld der Nazis relativieren, blieb bestehen.
Das Interesse an Hannah Arendt ist in den letzten Jahren immer weiter angewachsen. Viele sprechen von einer Art Renaissance. Wer sich in unserer Gegenwart mit Freiheit, Denken und Urteilskraft beschäftigen will, kann sich in ihr großes, modern gebliebenes Werk vertiefen. Auch die Briefe der einzigartigen Intellektuellen und Philosophin dokumentieren, was Nachdenken in der Welt und über die Welt heißt.

Hannah Arendt, Kurt Blumenfeld
„ ... in keinem Besitz verwurzelt“
408 S., brosch.
ISBN: 978-3880228061
Die Korrespondenz, Herausgegeben von Ingeborg Nordmann und Iris Pilling
Rotbuch Verlag, Hamburg 1995
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Erstellungsdatum: 04.12.2025