Zugewandt, mit dichten Beschreibungen und klarem Blick auf die poetische Herangehensweise hat die Schriftstellerin Ronya Othmann drei mit dem Horst-Bingel-Preis für Literatur Ausgezeichnete gelobt. Ein Langgedicht von Björn Kuhligk, Kolumnen von Katja Petrowskaja und ein Gedichtband von Alexandru Bulucz wurden einzeln bedacht und doch mit einer gemeinsamen Idee eingebunden, der Bildlichkeit und der Beziehung zur Fotografie. Das Visuelle in der Schrift ist ein Augenöffner.
Guten Abend lieber Alexandru Bulucz, lieber Björn Kuhligk, liebe Katja Petrowskaja,
Liebe Jurykollegen, liebe Barbara Bingel, liebe Festgäste,
Eine Lobrede auf drei sehr unterschiedliche Werke zu schreiben, war eine ganz schöne Herausforderung. Ich wollte nicht vermengen, schließlich stand doch jedes Werk für sich. Aber je länger ich mich mit ihnen beschäftigte, desto mehr begannen sie miteinander ins Gespräch zu treten. Ich werde nun also jedes Werk einzeln vorstellen und alle gemeinsam.
Björn Kuhligks Langgedicht beginnt in der Rückschau. „An einem Morgen im März“, heißt es, „als die Lerchen aufflogen/ die Felder zwischen Grün und Winter standen“.
Es ist der März 2020. Die Weltgesundheitsorganisation stuft den Ausbruch der Covid-19-Krankheit als Pandemie ein. Die USA erlassen einen Einreisestopp für EU-Bürger aus dem Schengenraum. Dänemark schließt seine Grenzen, dann Polen. Wir wissen wie die Geschichte zu Ende geht. Eine Geschichte, die im Grunde keine Geschichte ist, sondern eine Aneinanderreihung, eine Verkettung unzähliger Ereignisse, die sich verschlagworten lassen in Maßnahmen, Lockdown, Testzentrum, Inzidenz , in PCR und Astra-Zeneca in Maskenpflicht und Corona-Leugner, hinter denen Menschenleben stehen, verstorben, genesen, chronisch erkrankt. Eine Episode unserer jüngeren Geschichte, die man zeitlich fassen könnte, 2019, mit der Entdeckung des Virus im chinesischen Wuhan, bis April 2023, als bundesweit alle Corona-Maßnahmen endeten.
Aber soweit sind wir noch lange nicht.
Gerade befinden wir uns noch auf der Autobahn, nach einem abgebrochenen Urlaub, zurück nach Berlin – „Auf der Höhe/ der Schorfheide fotografierte ich die Leere/ vor mir und mich selbst im Rückspiegel/ mit der Leere hinter mir.“
Der fotographische Blick geht also nach vorne, während er durch den Spiegel gleichzeitig nach hinten geht und zu sich selbst. Das ist programmatisch. Und lässt sich auch auf uns übertragen, die Leser, und Leserinnen dieses Langgedichts, das dann erschien, als alles für beendet erklärt wurde, nämlich im Frühjahr 2023. Wir lesen in der Rückschau. Wir, die Zeitgenossinnen Kuhligks, und Zeitzeuginnen dieser Pandemie. Und auch die Autobahn ist programmatisch. Man hat noch nicht ganz erfasst, da ist man schon weiter. Die Pandemie, die größte Krise zu Friedenszeiten, gefolgt vom brutalen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und so weiter und so fort. Aber dort sind wir noch nicht.
Rasender Stillstand, beschreibt es vielleicht. Ein Eindruck, der sich einstellt, bei der Lektüre dieses - auch dokumentarischen - Gedichts. „In dem Partydorf Ischgl“, heißt es, „der Deutsche Finanzminister sagte im Radio“, „das Toiletten-Papier war ausverkauft“ und „festgefroren trieb/ das Forschungsschiff „Polarstern“ in der Arktis“. Halbsätze, Sätze in ihrer Schlichtheit, glatt poliert, doch liest man weiter, in die nächste Zeile, wendet sich der Blick, oder besser gesagt - er stürzt - bis er sich wieder verfängt, zum Halten kommt, in dem nächsten glatt polierten Halbsatz, Satz, nur um darauf wieder ins Straucheln zu geraten. Man richtet den Blick nach vorne, aber, weil vorne ein Rückspiegel ist, wirft es den Blick auch zurück.
Ein Beispiel: „In einem Altenheim, Berlin-Mitte, sagte/ eine 87Jährige mit den ausfransenden Erinnerungen/ am Laufgestell An irgendetwas muss man sterben// 878 Kilometer Luftlinie entfernt/ sagte der französische Präsident/ Wir sind im Krieg“
Ein weiteres: „Der Papst ging durch leere Straßen, begleitet/ von Personenschützern, und besuchte das Pestkreuz/ in der Kirche San Marcello al Corso// das Pestkreuz wurde in den Vatikan getragen/ den verlassenen Petersplatz vor sich/ segnete der Papst im Beisein/ des Kreuzes die Menschheit“
Nun ist so ein Langgedicht über die Pandemie, das erste Corona-Jahr, ein risikoreiches Unterfangen. Ja, im Grunde kann so ein Projekt nur scheitern. An einer Stelle heißt es „der Buchhändler in der Straße/ der Trostliteratur verkaufte/ sagte, die Corona-Romane, die bald/ kämen, die wolle er nicht lesen“ Natürlich, man ist froh, es hinter sich zu haben, dieses zu Hause Herumsitzen, Sorgen, Bangen, Warten. Diese so ereignisarme Zeit, in der doch so viel Ungeheuerliches geschah. Und ob man sich das später erklären kann, im Rückblick. Allein das Vokabular dieser Zeit: Abstandsregelungen, Reproduktionszahlen, Maskenpflicht. „Niemand will, sagte der Sänger, wenn diese Zeit/ vorbei ist, davon lesen“, heißt es an einer anderen Stelle. Und natürlich. Es wurde ja fast drei Jahre von nichts anderem geredet. Und auch wir haben von nichts anderem geredet, weil so schien es, ja nichts anderes geschah. Und schließlich sind wir doch auch alle dabei gewesen. Und doch -, muss man nach der Lektüre dieses Langgedichts entgegnen, obwohl wir alle dabei gewesen sind, obwohl wir alle alles erlebt haben, sehen wir es noch einmal neu. Das ist eine große Kunst.
„An einem Morgen im Februar/ mit der Geschwindigkeit von 4000 Anschlägen pro Minute/ schrieb ein Kind in den Klassen-Chat/ Das Leben ist langweilig“
Und es ist nicht so, dass wir in dem Gedicht etwas anderes sehen, als wir selbst gesehen haben. Wir sehen die Nachrichten, einen wartenden Hund, die Flaschensammler, den U-Bahn Schönleinstraße. Nur wartete auch eine Frau, verdiente nicht nur der Flaschensammler nichts, auch die Junkies, die Dealer verdienten nichts. Und der „U-Bahnhof Schönleinstraße/ war still wie ein Blütenkelch“ Es ist ein wenig, als wäre der Blick geschärft, hätte jemand heran gezoomt, und wieder heraus. Den Bildausschnitt so sorgfältig gewählt, den Fokus auf das Wesentliche gesetzt, (dass es einem schwindelt). Eine gestochen scharfe poetische Genauigkeit liegt in diesen Bildern. Diese Bilder, die im Grunde keine Bilder sind, sondern Fotografien. Der Vergleich mit der Fotografie drängt sich auf. Zumal Björn Kuhligk ja auch Fotograf ist. Ein Blick in seine Fotografie-Bücher lohnt sich. , „Schöne Orte“ beispielsweise, mit dem Smartphone aufgenommen, eine Reihe von Dixie-Klos, stählerne Fahrradständer vor einer Ziegelmauer, eine leere Bowlingbahn, Menschen fehlen auf diesen Bildern. Oder „Schönefeld“, ein Band mit Fotografien aus der Gemeinde Schönefeld, südöstlich von Berlin, bekannt durch den Flughafen BER. Man findet dort etwas, das sich auch in „An einem Morgen im März“ finden lässt. Eine Konzentration, eine Klarheit, eine Komposition, von scheinbar im Kontrast zu einander Stehendem. Eine Poesie, eine Schönheit, die sich aus eben diesem im Kontrast zu einander Stehendem, ergibt. Der U-Bahnhof Schönleinstraße und der Blütenkelch. „Ich hatte nicht vorgehabt/ jemals das Wort Reproduktionszahl/ in einem Gedicht zu verwenden“, heißt es.
Und es gibt noch etwas anders, das augenscheinlich ist, und das sind die Oberflächen. Als Fotograf kann man ja nur Oberflächen fotografieren, das Äußere, die Erscheinung. Die Dinge stehen für sich. Eine Fotografie erläutert nicht. Auch Björn Kuhligk verzichtet auf Erklärungen. Die Dinge stehen im Gedicht für sich und sie stehen nebeneinander und im Nebeneinander entsteht das Bild. Im Grunde ist das Gedicht auch eine Aufnahme, eine Bestands-, eine Moment-Aufnahme, Inventur. „Immer war ein Tag, am Morgen der Morgen/ am Mittag der Mittag, abends war Abend/ und nachts war es dunkel“ und an einer anderen Stelle „In der Dunkelheit ging ich spazieren und begegnete/ denen, die in der Dunkelheit spazieren gingen“.
Man kann „An einem Morgen im März“ auch als Bildband lesen. Man kann die aufeinanderfolgenden Bilder betrachten, und zwischen den aufeinanderfolgenden Bildern, da wo es weiß wird, das Gedicht.
„ich fotografierte die Blütenblätter der Tulpen/ die auf den Wohnzimmertisch gefallen waren/ ich fotografierte aus dem Küchenfenster/ aus dem Badezimmer, dem Schlafzimmerfenster/ ich fotografierte die Bäume in verschwindender in wiederkehrender Helligkeit/ ich hielt die Zeit an“
Beginnen wir mit dem Titel „Das Foto schaute mich an“. Kolumnen, die in den Jahren 2015 bis 2021 alle drei Wochen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen sind. Das Buch, ein Kolumnenband, ein Bildband auch. Die Fotos sind dem Text voran- oder nachgestellt. Die Fotos stammen aus dem Familien-Archiv, wurden Bildbänden entnommen, auf Aufstellungen entdeckt oder von Freunden zugesandt. Die Texte wurden zu den Fotos geschrieben, sind Bildbetrachtungen, Prosaminiaturen, und poetisch im besten Sinne.
„Das Foto schaute mich an“ ist nicht nur titelgebend und als Programm zu verstehen, obgleich diese Kolumnen keinem dezidiertem Programm folgen, wenn überhaupt nur der größtmöglichen Freiheit und der größtmöglichen Genauigkeit. „Das Foto schaute mich an“ ist auch der erste Satz zu der Fotographie eines Bergmanns vom Donbass. „Die Nähe fesselte mich, erschreckte mich sogar“ heißt es weiter. Und im nächsten Absatz: „Die Fotografin hatte viele Fotos in dieser Gegend gemacht und darüber geschrieben, wie die Bergleute stur zur Arbeit gingen, kein Gehalt seit Oktober, aber sie arbeiteten, denn Arbeit war Frieden und der Krieg absurd, und wie diese Arbeiter die Normalität des Friedens wiederherstellten, nur dadurch, dass sie zur Arbeit gingen. Ich las Kommentare eines Gewerkschafters und dann die Nachrichten über den Krieg in der Ukraine, als wäre mein Lesen und Schauen ein Akt des Waffenstillstands, als würde nicht geschossen, so lange ich läse.“
Katja Petrowskajas Bildbetrachtungen sind Akte des sich aus- und in Beziehung- Setzens. „(…) dieser Mann stand vor mir viel zu Nah, und blies mir seinen Rauch ins Gesicht.“ Und ein paar Sätze weiter: „Ich war noch nie dort gewesen, in Donezk, Luhansk, ich schaute auf die Karte.“
„Die Augen des Bergmanns haben mich über Monate hinweg verfolgt“, heißt es. „Ich musste nur zurückschauen (…)“
Und am Ende der Kolumne: „Vor Monaten bin ich im Internet auf diesen Bergmann gestoßen, und nun ist er im ukrainischen Pavillon der Biennale von Venedig ausgestellt, als hätte er selbst Karriere gemacht. Nur wenige Schritte von der Arsenalbrücke entfernt, auch nachts zu sehen, hinter der Glasfront. Man kann zusammen mit dem Bergmann rauchen, vielleicht wird sein Gesicht im gemeinsamen Rauch verständlicher. Ich habe mit ihm geraucht, als es dunkel wurde.“
Katja Petrowskaja verweilt dort, wo wir meist weitergehen.
Mit dem Bildern ist es ein wenig so, wie mit der Landschaft, wenn man in einem Schnellzug sitzt. Die Landschaft rauscht vorbei. Man hat den Baum, das Feld, das Haus gerade erblickt, da ist man schon weiter. Und ist am nächsten Baum, Feld, Haus angelangt, das zugleich hinter einem liegt. Der Blick findet keinen Halt, kein Halten. Täglich werden mit den Smartphone-Kameras Fotos aufgenommen. Die Zeiten von 27 Bildern pro Film sind vorbei. Die Zeiten der Dunkelkammern, der Cyanotypien und der Negative. Man liest, im Jahr 2023 wurden allein auf Instagram durchschnittlich 1074 Bilder pro Sekunde, das sind 4 Millionen Bilder pro Stunde hochgeladen. „Die Inflation der Bilder“, nennt Katja Petrowskaja das. Und natürlich sehen wir nicht alle diese Bilder, aber wir sehen viele Bilder. So viele Bilder, dass wir im Grunde keine Bilder mehr wirklich sehen. Wir sehen nicht mehr, wir überfliegen, scrollen, speichern, für später, und später rückt, mit jeden weiteren gespeicherten Bild, in unbestimmbare, Ferne.
Dagegen ist Katja Petrowskajas Kolumnen-Band, eine Schule der Langsamkeit, der Entschleunigung (was zugegeben ein etwas blödes Wort ist). Und Katja Petrwoskaja tritt dabei nicht als Lehrerin in Erscheinung. Sie belehrt, doziert nicht, auch wenn sie einstreut, was man noch nicht wusste, nicht wissen konnte. Etwas über den Fotografen etwa, das Gebäude, das darauf zu sehen oder auch nicht zu sehen ist. Die abgebildeten Personen, den Anlass und die Zeit.
Es ist eher, als ob sie den Vorhang beiseite schiebt, das Fenster öffnet, dass Licht darauf fällt.
Vielleicht könnte man sagen, wie jeder sein eigenes Gedicht liest, seinen eigenen Roman liest, sieht auch jeder sein eigenes Bild. Geht man durch das Buch, Seite für Seite, sieht man und liest, tut sich ein Drittes auf. Man sieht das Bild noch einmal mit anderen Augen, von einer anderen Seite, durch den Blick des Textes, mit der Sprache.
Der Text schaute sich das Foto an. Wie ein Spiegel, der bei genauerem Betrachten kein Spiegel, sondern ein Fenster ist.
In der Kolumne „Am Schwarzen Meer“ heißt es „Jedes Foto ist das Fragment einer Welt, aus Zeit und Raum herausgerissen. Wir können nur dieses Fragment sehen, das sich als ganze Welt darzustellen versucht oder als repräsentativer Teil - wenn nicht als Metapher, dann als Pars pro toto. Jedes Foto birgt eine Vergänglichkeit. Nichts wird wieder so sein wie in diesem verewigten Moment, als die Kinder im Hafen einer Stadt am Schwarzen Meer ins Staunen geraten.“
Fotografien sind auch Dokumente, sind Zeugnisse, halten fest, bewahren das Verlorene.
„Dieses Buch handelt nicht vom Krieg, aber es wird vom Krieg umklammert“, heißt es im Nachwort des Bandes. „Der erste Text entstand als der Osten, der Ukraine von Russland angegriffen wurde. Er handelt vom Entsetzen des Krieges, aber auch auch von seiner Normalisierung – von einem Krieg, der mit der Zeit an den Rand der alltäglichen Aufmerksamkeit gerutscht ist. Damals habe ich angefangen, über Fotos zu schreiben, aus Ohnmacht vor der Gewalt.“
Und ein paar Absätze weiter: „Krieg tötet, negiert Sinn, Normalität und Vielfalt, alles, was wir lieben. Krieg möchte unsere leisen Worte lösten.“
Was Katja Petrowskaja dem Krieg entgegen stellt, ist eine große Zärtlichkeit. Eine Sich-Hinwenden. Der Blick auf eine Babuschka, die in dem Skilift über die Berge des Kaukasus schwebt, auf die eigene Familie in den 70ern in der Sowjetunion, gekleidet wie Hippies, auf sich selbst mit einer Katze auf dem Arm, auf einen Mann 1986 vor einer ausgebrannten Häuserzeile in Prag, das die Truppen des Warschauer Paktes so sehr beschossen hatten, auf ein syrisches Paar, Flüchtlinge, am Strand von Lesbos, die Frau in eine goldene Rettungsdecke gehüllt.
Über die Frau in der goldenen Rettungsdecke schreibt sie „Die Göttin stieg aus dem Wasser, und man konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Vielleicht nur ein Aufblitzen der Poesie, aber mir schien sich damit das Ende Europas in seinen eigenen brutalen Ursprung zu verwandeln.“
Katja Petrowskaja lenkt den Blick auf das, was wir sehen, wenn wir wirklich sehen. Und sie tut das auf eine leise, gewissenhafte, sorgfältige, poetische und zugleich kraftvolle Weise. Ihre Texte sind Bilder. Und diese Bilder schauen uns an.
Das Stundenholz, sagte Alexandru Bulucz einmal in einem Interview, sei ein Glockenersatz. Toaca ist der rumänische Begriff dafür. Es ist ein Stück Holz, auf das ein orthodoxer Mönch schlägt, um zum Gebet zu rufen. Das Bild kam zu ihm über den rumänischen Auberginen-Salat. Wenn die Aubergine mit dem Holzäxtchen kleingehackt wird, entstehen die gleichen Geräusche, wie wenn der Mönch das Stundenholz schlägt.
Das Heilige im Profanen. Das Holz der Stunden. Die Zeit.
Die Zeit, wollen wir sie hier einmal umfassen, ist eine Kindheit in Rumänien, Himmel und Hölle zugleich, eine Dorfkindheit, mit den Kinderschuhen noch in der Diktatur, dann Migration, Deutschland, Sportinternat. Ein Heute gibt es auch (auf der Terrasse in Tegel). Die Zeit ist auch jahrhundertealte Riten, wie das Schlagen des Stundenholzes, die Urgroßmutter, die Mutter, der Stiefurgroßvater, der Vater. Die Zeit, in der es noch eine jüdische Gemeinde in Alba Iulia gegeben hat, und die ihrer Vernichtung.
Die Zeit ist gefasst in der Erinnerung. „Erinnerungen Erinnyen“, so der Titel eines Gedichts. Und in der Erinnerung, da steckt wieder das Heute. Es sind, man darf sich nicht täuschen lassen – von Stiftsbasilika und Stillleben, dem Kreischqueller Heuweg, von der Herstellung von Hausseife auf dem Gehöft – durch und durch gegenwärtige Texte. Gegenwärtige Texte, auch in der Form. Gedichte, die oszillieren, zwischen Essay, Prosaminiatur. Dazwischen ein Kommentar, eine Anmerkung. Aufklärerische Gedichte sind es, im besten Sinne. Gedichte, die sich auf sich selbst verlassen, auf ihre Trittfestigkeit, ihre Genauigkeit, ihre Klarheit in der Sprache. Ohne dabei einfach zu sein. Ja, es sind überaus komplexe Gebilde, aber das ohne zu Raunen.
Es sind Auseinandersetzungen, und das eher im Sinne eines Streitgesprächs, eines Haderns, etwa mit den „gebrannten Kinder Cioran, Eliade, Ionesco“, über die Versuchung des Totalitarismus. Oder mit dem Abschied vom eigenen Vater.
Die Sprache wird abgeklopft, auf Paronomasien hin (Paronomasien auch der Titel eines Zyklus), Gleichklänge, die Verwandtschaft stiften, auch wo keine Verwandtschaft ist. Über das minta das Rumänische Wort für Minze, das neben dem rumänischen Wort für minte liegt.
„Minzgeist// Die Flasche ist längst verschenkt, doch eine Überlegung bleibt:/ mintă u. minte bedeuten auf Rumänisch Minze resp. Geist. /Teilen sie einen Ursprung, einen flüchtigen Hauch ohne phonetischen Wert/ wenigstens? Entwickeln sie sich unter Umständen vergleichbar?//Sonne, zum Beispiel, ist für beide wichtig, das Menthol intensiviert sich bei Sonneneinwirkung. Bei langer Trockenheit erhalten die kahlen/ u. drüsigen Minzformen eine dichte Behaarung. Ist Geist qua Geburt/ minzig, sind seine Auswüchse Anpassungen ans Klima?“
Wie liest man diese Gedichte? Zu jeder vollen Stunde, wenn das Schlagen des Stundenholzes erklingt? in einer kargen Kammer, beim kontemplativen Gang durch die Landschaft. Es ist diese Konzentration, diese profane Stille, die das Lesen dieser Gedichte erfordert. Diese Gedichte, die oszillieren zwischen Schmerz, Witz, Melancholie. Wo andere verdichten, legt Alexandru Bulucz offen. Diese Gedichte setzen sich aus. Und das ist ihre große Stärke. „Träumte von der Notwendigkeit, mit mir unbarmherzig zu sein“, heißt es an einer Stelle. Es sind Texte die hinaus gehen, auf einen zu gefrorenen See, aufs Glatteis. Ohne dabei aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Denn auch wenn sie spielen, mit der Form, dem Klang, der Sprache, so bleiben sie dabei doch immer ernst.
Im Zyklus „Abschied vom Vater“ gibt es ein Gedicht mit dem Titel „Der Phantomschmerz der Fotografie“ Darin heißt es „…als sollte ich mir von Vater kein Bildnis machen, ist mir keine einzige/Fotografie von ihm o. Uns beiden erhalten geblieben aus der/Zeit bis zu unserer Trennung, als er mich zum Bus brachte, des Reiseunternehmens Atlassib. Alles, was ich von damals habe, steckt/ in einem Teletubbies-Album“ und weiter „Ich beneide, jene Unbekannten, die im Besitz von Fotografien o./ Aufnahmen auf Videokassetten sind, die Vater beim Singen,/ Gitarrespielen, Rauchen u. Trinken zeigen“. Der Vater, der Hochzeitsmusiker, der Trinker, mit das lyrische Ich nur noch über die Telefonleitung in Verbindung steht, eine fragile Verbindung, wie die zur rumänischen Sprache. Der Mutter-, der Kindheitssprache. Und dem Land.
Rumänien, zitiert Alexandru Bulucz die Philosophin Marta Petreu, liefere gern das traumatische Rohmaterial zu lesenswerter nicht rumänischer Literatur.
„Gegengesang für eine Gegenheimat“ heißt ein Gedicht, über „Abtreibungen im Untergrund“ „Dekret 770“. „Führers Familienpolitik“ „Doch am schlimmsten/ waren die misslungenen Abtreibungsversuche der Schwangeren/ mit Drähten, die Geburten ungewollter Säuglinge, ob gesund/ o. behindert, ihre Abstoßung in Sozialwaisenhäuser, Aussetzung/ gar. Die Identifikation mit den Opfern aus meiner Alterskohorte/ u. Herkunftslandschaft ist zu groß, als dass ich sprechen sollte/ darüber. Mangel setzt andere Normen. Übernimm du, Aurora, du verwandelst Nacht in Tag, hast dir die Augen rot geweint/ im Blickduell mit der Ockerfarbe. Jetzt hast du Triefaugen./ Morgenrot, Schlechtwetter droht.“ Ein großes Gedicht, das den Bogen spannt von der Dokumentation, dem Zeugnis, zum Klang, zum Lied. Die Hölle liegt auf Erden, genauer in Cighid. Die Hölle ist ein Kinderheim, ein „eisernes Bettgestell“, ist „ins Land gestrichene Zeit ohne Zuwendung“, „ein Zwinger für Zweibeiner/ mit einem Bein im Grab- u. Dem anderen eigentl. auch.“
Und das Paradies? Der Heuweg ist zwar noch da, auch wenn sich Google-Streetview noch nicht dort hingewagt hat und obgleich er befahrbar ist - das Paradies bleibt verschlossen. „Keine Tür weit u. Breit, in deren Schlüsselloch ich mich hineinschlüsseln könnte“, heißt es.
Wo - wenn nicht gleich das Paradies zumindest etwas Glück zu finden ist: im Kleinen, in Tegel auf der Terrasse, in Erwartung, der Fledermäuse, die zum Flieder flattern. Im Vergessen, in der Möglichkeit Wildbeeren pflücken und zu Verspeisen, in der Zeit.
Und sicher auch bei der Lektüre dieser Gedichte.
Und wenn man gerade weder ein Kloster, noch ein Stundenholz zur Hand hat, kann man sich auch das Daumenkino ansehen, das stumm schlagende Stundenholz ganz unten am Rand der Seiten.
Dem Stundenholz, konnte man übrigens schon im Vorgängerband „Was Petersilie über die Seele weiß“ begegnen. Dort hieß es “Wir flogen // über Holzrauch von Klöstern, über liturgische Rufe aus Stundentrommeln / von Mönchen, toaca-Klänge spannten eine Himmelsleiter / auf uns zu u. über uns hinaus.“
Björn Kuhligk
An einem Morgen im März
Langgedicht
80 Seiten
ISBN 978-3-446-27638-3
Hanser Berlin, März 2023
Katja Petrowskaja
Das Foto schaute mich an
Kolumnen
256 Seiten
ISBN 978-3-518-22535-6
Suhrkamp, Mai 2022
Alexandru Bulucz
Stundenholz
Gedichte
144 Seiten
ISBN 978 3 89561 508 5
Schöffling & Co. , März 2024
Erstellungsdatum: 02.11.2024