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Retrospektive „Unzensiert. Annegret Soltau“ im Frankfurter Städel

Annegret Soltau jetzt!

Ursula Grünenwald


Annegret Soltau, Mit mir Selbst, 1975/2022, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Rolf Gönner

Seit dem 9. Mai 2025 ist im Frankfurter Städelmuseum die Ausstellung „Unzensiert. Annegret Soltau“ zu sehen, die einen umfassenden Überblick über das Werk der Darmstädter Künstlerin Annegret Soltau gibt. Warum ihre Körperdarstellungen aktueller denn je sind und sich ein Besuch der Retrospektive lohnt, erklärt Ursula Grünenwald.

 

Annegret Soltau, die von 1967 bis 1972 an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste studiert hat, stellt früh den menschlichen Körper, meist den eigenen, in den Mittelpunkt. Sie entwickelt eine radikal subjektive Perspektive auf den Frauenkörper und zeigt ihn als ein umkämpftes Terrain, auf dem persönliches Erleben und gesellschaftliche Zuschreibungen miteinander ringen. Ihr Werk führt auch heute noch vor Augen, wie politisch das Private ist. Der von Svenja Grosser sorgfältig konzipierte Ausstellungsparcours zeichnet Soltaus künstlerischen Weg von großformatigen Radierungen hin zu körper- und raumbezogenen Praktiken nach.

 

Von der Linie zum Faden

Ein wiederkehrendes Motiv in Soltaus Werk sind graphisch-linienhafte Elemente, die den Körper überlagern, deformieren, zusammenhalten. Akribisch aneinandergereihte feine Linien überziehen in ihren Radierungen und Zeichnungen die dargestellten Menschen und wirken wie eine zu enge zweite Haut.


Bild 2 Zeichnung: Annegret Soltau, Umschlossene, 1973, SAMMLUNG VERBUND, Wien, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Fotostudio pixelstorm, Wien (Manfred Kostal und Christian Schindler)

Diese Linien finden ihre Fortsetzung in den Performances der Künstlerin, auch in der Arbeit „Permanente Demonstration – Bewußtseinszustände durch Berührungen realisierter Linien im Raum“ von 1976. Mit geduldig ausgeführten Bewegungen hüllt die Künstlerin die teilnehmenden Personen nach und nach in ein Gespinst schwarzer Fäden ein: Der Faden kerbt sich in die Gesichtshaut der Performer*innen ein, verschließt deren Augen und hemmt die Bewegung ihrer Körper. Die sukzessive Stillstellung der Körper läßt an die Ambivalenzen von Carearbeit denken, die ein fürsorgliches (mütterliches) Subjekt ebenso zum Wohl wie zur Domestizierung des Gegenübers einsetzt. Soltaus Performances schließen an die künstlerischen Experimente der 1970er Jahre an, die den Körper als Austragungsort ästhetischer und politischer Fragestellungen entdecken.


Muttersäule: Annegret Soltau, Geteilte MUTTER-Säule, 1980/81, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Ulrike Hölzinger-Deuscher

 

In den „Tages-Diagrammen“ thematisiert sie die Ambivalenzen und massiven Selbstzweifel, die sie während ihrer ersten Schwangerschaft heimsuchten. Auf insgesamt 58 Blättern versammelt sie in selbst entworfenen Diagrammen tägliche Ereignisse, zwischenmenschlichen Beziehungen und Gefühle. Sie schafft ein Archiv ihrer Realität, das durch seine minimalistische Form und genau ausgeloteten Begriffe berührt.

 

Geburt

Dass Soltau für ihre Auseinandersetzung mit existentiellen reproduktiven Zuständen auch witzig-makabere Bilder findet, zeigt das Video „…“. Ja, das Gewebe reißt während der Geburt, macht das Video unmissverständlich klar und führt etwas vor Augen, was man sich weder vor, während noch nach der Geburt vorstellen mag. Die Künstlerin richtet das Objektiv der Kamera zwischen die Beine einer Frau, aus deren Unterleib sich nach und nach ein wurmartiges Wesen herauswindet. Als wäre diese Ansicht nicht schon genug, ist während des Vorgangs auch noch das Reißen von Papier zu hören.

Soltaus Inszenierung nimmt es in ihrer Direktheit und ihrem Witz spielend mit Gustave Courbets berühmten Gemälde „L’Origine du monde“ von 1866 auf. Soltau nimmt Courbets Titel wörtlich und zeigt die Vulva im Prozess des Gebärens. Damit bringt sie einen Vorgang zur Anschauung, dessen Details in der Regel – wie etwas zutiefst Obszönes – im Verborgenen bleiben.

Tabus rund um Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft beschreibt auch die kanadisch-britische Autorin Rachel Cusk in ihrem bemerkenswerten Buch „Lebenswerk“ 2001. Nüchtern und doch zugewandt legt sie in ihrer Erzählung, die sie „an alle Frauen“ adressiert, körperliche und emotionale Zustände von Mutterschaft offen. Cusks Satz „Ich staune darüber, dass jedes einzelne Mitglied unserer Spezies auf einem so beschwerlichen Weg geboren und in die Unabhängigkeit entlassen wurde, und ich habe versucht, dieses dem Leben der Frau abverlangte Werk zu beschreiben.“, könnte auch von Soltau stammen. Man mag sich gerne ein Gespräch zwischen Soltau und Cusk als vergnüglichen Dialog über die Zumutungen des Gebärens und der Mutterschaft vorstellen.

 

Ambivalente Nähe

Die neunteilige Arbeit „Nähe (Selbst mit Sohn)“, zwischen 1980 und 1985 entstanden, basiert auf Fotografie der Künstlerin, die unbekleidet auf dem Boden kniet und ihren Säugling schützend umfasst. Die Nähe und Zärtlichkeit, die den beiden aufeinander bezogenen Körpern eigen ist, wird sukzessive mit Strichen bedeckt und schließlich mit einer schwarzen Fläche überzogen. Diese Auslöschung der fotografischen Abbildung wirkt so, als wolle Soltau eigene Ambivalenzen gegenüber der „innigen, beinahe verschmelzenden Liebe“, so Sabine Kampmann im Ausstellungskatalog, zum Ausdruck bringen und zugleich überzogene gesellschaftliche Vorstellungen von Mutterliebe abwehren.

Soltau kämpfte in den 1970er Jahren gegen das Vorurteil an, dass sich Mutterschaft und künstlerische Kreativität nicht miteinander verbinden lassen. Dass diese Debatte nur wenig an Brisanz verloren hat, formulieren die Guerilla Girls 2022 in einem Multiple für den Nassauischen Kunstverein in Wiesbaden: „Du hast die Möglichkeit, zwischen Karriere und Mutterschaft zu wählen.“ Dass die Carearbeit immer noch mehrheitlich von Frauen übernommen wird, kostet Karrieren.

 

Identitätssuche

Soltau wurde 1946 als uneheliches Kind geboren und wuchs bei ihrer Großmutter auf, weil ihre Mutter sie nicht alleine aufziehen konnte. Ihren Vater hat Soltau nie kennengelernt. Dieses Schicksal einer zerrissenen Familie teilt sie mit vielen Kindern ihrer Generation. Die 2003 entstandene Arbeit „Vatersuche“ thematisiert die Suche der Künstlerin nach ihrem unbekannten und verschollenen Vater: Sie ersetzt das eigene Gesicht mit den Zeugnissen ihrer Suche, mit ihren Briefen ebenso wie amtlichen Schreiben, mit Landkarten und Fotos.

Vielleicht ist es gerade dieser unerfüllten Sehnsucht nach dem verlorenen Elternteil zu verdanken, dass im Werk eine konstante Beunruhigung spürbar ist. Ungeachtet der überbordenden Präsenz der Körper spielen Fragen der Identität eine wesentliche Rolle, die alle Menschen betreffen. Soltau zeigt ein untrügliches Gespür für gesellschaftliche Konstellationen, die das Persönliche überformen. Sie spürt Rollenklischees auf, gleicht sie mit dem eigenen Erleben ab und übersetzt die von ihr ermittelten Widersprüche in ihre Arbeiten.

 

Tabuthema Altern

Ihr klarer, unerschrockener Blick, der auch vor einer abgründigen Ästhetik nicht zurückschreckt, kennzeichnet ihre Auseinandersetzung mit dem alternden weiblichen Körper.
In der Werkreihe „generativ“ inszeniert sich die Künstlerin als nackte stehende Figur neben drei weiteren Frauengestalten, die die Rollen von Tochter, Mutter und Großmutter einnehmen. Soltau hat Teile der Körper herausgerissen, ausgetauscht und mit den charakteristischen schwarzen Nähten zusammengefügt. Wie schon in ihrem Arbeiten zu Mutterschaft ignoriert sie gesellschaftliche Tabus. Selbstbewusst präsentieren sich die vier Frauen.


Ausstellungsansicht „Unzensiert. Annegret Soltau – Eine Retrospektive“, Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

 

Mit Erstaunen erfährt man in der Ausstellung, dass diese Werkgruppe noch in den 2000er Jahren von Ausstellungen ausgeschlossen oder gar verhüllt wurde, weil sie als ästhetische Zumutung wahrgenommen wurde. Tatsächlich rütteln Soltaus künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Alter an der Vorstellung, was jung und was alt ist. „Das Junge ist im Alten und das Alte im Jungen“, sagt die Künstlerin und unterläuft mit diesem einfachen Satz ein identitäres Denken, das Menschen in Alterskohorten einteilt und die Generationen gegeneinander auszuspielt.

 

Der Frauenkörper als umkämpftes Terrain

Wie Sex und Gender, biologisches und soziales Geschlecht, aus gesellschaftlichen Praktiken hervorgehen, hat Judith Butler in ihrer wegwesenden Schrift „Gender Trouble“ von 1990 dargelegt. Soltaus Arbeiten bringen dieses Wissen mit den Mitteln der Kunst zur Anschauung: Sie perforiert die Körperoberflächen, greift in das Körpergefüge ein und revidiert gesellschaftliche Zuschreibungen durch Übermalungen und Auslöschungen. Soltaus Oeuvre ist den feministischen Debatten der 1970er Jahre verbunden und schließt doch überraschend bruchlos an gegenwärtige Diskurse an. Ihre Körperbilder widersetzen sich einem aktuellen Konservatismus, der eine überzeichnete Männlichkeit kultiviert und eine gebärfreudige Frau am heimischen Herd imaginiert.

 

Fazit

Dass das Städelmuseum das Schaffen Annegret Soltaus gerade jetzt würdigt, ist ein großer Glückfalls. Gerade weil Soltau ihr Werk von einem radikal subjektiven Standpunkt aus entwickelt, kommt sie ohne dogmatische Festlegungen aus. Ihr Schaffen öffnet einen Raum, um über die vielfältigen Möglichkeiten des Zusammenspiels von Sex und Gender nachzudenken, aber auch die Zumutungen identitärer Zuschreibungen in den Blick zu nehmen. Soltaus Fotovernähungen sind Einladungen, die Konstruiertheit von Körpern und Identitäten zu reflektieren und sich Essentialisierungen aller Art zu widersetzen.

Gerne würde man Soltaus Arbeiten neben anderen feministischen Positionen sehen: etwa neben Louise Bourgeois Spinnenskulpturen oder Martha Roslers Video „Semiotics of the Kitchen“ von 1975. Doch auch ohne den internationalen Dialog ist die Präsentation ein Vergnügen. Der lesenswerte, schön gestaltete Katalog zur Ausstellung bietet eine umfassende kunsthistorische und politische Kontextualisierung.

 

 

Die Ausstellung „Unzensiert. Annegret Soltau“ ist noch bis zum 17. August 2025 im Städelmuseum zu sehen. Der gleichnamige Katalog ist im Hirmer Verlag erschienen. 

Kulturtipp „Unzensiert. Annegret Soltau“

 

Erstellungsdatum: 14.06.2025