Buchmessen führen eine Übererfüllung unserer Lesewünsche mit sich. Und auch Hochgeschwindigkeitsrechner helfen nicht beim gründlichen Lesen, das bei uns Menschen eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Das Gastland Italien hatte in Frankfurt neben dem Erwartbaren auch so manche unbekannte Lektüre ausgelegt. Zwei ungewöhnliche Romane, meint Andrea Pollmeier, sollten wenigstens erwähnt werden.
Inmitten der italienischen Literatur, die im Kontext des Buchmesse-Gastlands „Italien“ erschienen ist, finden sich auch erkennbar widerständige Werke. Ein Beispiel ist Marta Barones Roman „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“, der in der Übersetzung von Jan Schönherr im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Dem Werk ist ein Satz des Komponisten Eric Satie vorangestellt: „Es genügt nicht, die Ehrenlegion abzulehnen: Man darf sie gar nicht erst verdienen.“ Von solch einer klaren, von Anfang an widerständig gelebten Haltung erzählt Marta Barone in ihrem autofiktionalen Roman. Sie beschreibt darin den Weg einer Tochter, die diese Besonderheit ihres Vaters erst posthum entdeckt. Irritiert ob ihres mangelnden Wissens über die väterliche Lebensgeschichte beginnt sie nachzuforschen und entdeckt, dass er, ein in jungen Jahren hoffnungsvoller Arzt, im Gefängnis gewesen war. Anhand von Gerichtsakten vertieft sie sich immer umfassender in die Hintergründe dieses Prozesses und entdeckt so nicht nur, von welchen Idealen der Vater in jungen Lebensjahren angetrieben war, sondern wie die kommunistische Bewegung in den sechziger Jahren gegen restaurative Kräfte kämpfte. Das Werk gibt detailliert und atmosphärisch dicht Einblick in die italienische Zeitgeschichte und die Degradierungen, die es in Verbindung mit linkspolitischen Bewegungen zu riskieren galt.
Die unterschiedlichen Spielformen von Liebesbeziehungen leuchtet die Autorin Chiara Valerio in ihrem Roman „Kein Herz nirgends“ aus. Der ausschließlich auf italienische Literatur spezialisierte Freiburger nonsolo-Verlag hat den ins Phantastische führenden Roman, der von Christiane Burkhardt ins Deutsche übersetzt wurde, publiziert. Valerio, die in Mathematik im Fach Wahrscheinlichkeitsrechnung promoviert hat und mit ihrem neuesten (noch nicht ins Deutsche übersetzen) Roman 2024 auf der Shortlist des Premio strega stand, erzählt die Geschichte eines auf griechische Mythologie spezialisierten Wissenschaftlers, der auf wundersame Weise seine inneren Organe verliert, ohne zu sterben. Statt also, wie es in den Mythen vorkommt, ein Organ mehr zu bekommen und sich einem hundertäugigen Argus oder dreiköpfigen Zerberus anzunähern, vollzieht sich in dem Wissenschaftler Andrea Dileva der umgekehrte Prozess. Nur noch ein Schatten seines Herzens ist bei ärztlichen Untersuchungen zu erkennen. Mit skurrilem Witz beschreibt Valerio diesen Verlustprozess und weist dabei parallel auch auf zwischenmenschliche Defizite hin. So erinnert sich Dileva, nachdem er die Leerstelle am Platz seines Herzens entdeckt hat, scheinbar zufällig an den plötzlichen Unfalltod seiner ersten großen Liebe. Was von nun an in seinem Leben fehlt, ist zwar für ihn nicht unmittelbar lebensbedrohlich, schafft aber einen kaum wahrzunehmenden Mangel, der zur inneren Auflösung des Lebens beiträgt.
Marta Barone
Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand
Aus dem Italienischen von Jan Schönherr
352 S., geb.
ISBN: 978-3-462-00069-6
Kiepenheuer&Witsch, Köln 2024
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Chiara Valerio
Kein Herz, Nirgends
Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt
216 S., brosch.
ISBN: 978-3-947767-21-2
Nonsolo Verlag, Freiburg im Breisgau 2024
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Erstellungsdatum: 26.01.2025