Wenn Wahrheit der Anspruch des Schreibens ist, dann kann sie nicht in der Widerspiegelung der Realität bestehen, sondern in der Radikalisierung des Vorgefundenen. Und der kann man nicht vertrauen. In „Kafkas Schere“ hat Thomas Lehr Geschichten erzählt oder aufgegriffen, um sie verschärfend zu verändern und in ihre Konsequenzen zu führen. Ewart Reder hat das Buch gelesen.
Etüden werden von Musikern gespielt, damit deren Technik besser wird. Gute Etüden werden von Komponisten geschrieben, die das Handwerk des Musizierens, das Aufgabenfeld eines Instruments überblicken und zugleich wissen, worum es in der Musik geht. Thomas Lehr nennt die zehn Texte, die er unter dem Titel „Kafkas Schere“ zusammengefasst hat, „Etüden“. Insofern ist es nicht abwegig, ihm ein didaktisches Anliegen zu unterstellen: Er will seine Leser besser machen im Lesen, im Verstehen und Nachvollziehen von Literatur. Als ernsthafter Schriftsteller will er nebenbei selbst besser werden. Denkt man an Chopin und Schumann, gilt außerdem: Der Weg des Lehrenden wie der Weg des Lernenden sind zugleich das Ziel. Etüden von Könnern können nicht anders, als selbst Kunst zu sein.
Die Titeletüde von Lehrs Buch erzählt nicht, ist also keine Geschichte, eher eine Rede. Wen spricht sie an? Die Sprechsituation nicht nur dieses Textes ist unklar. Spricht der Redner mit sich selbst? Spricht er den Leser an? Jedenfalls warnt er sein Gegenüber, und zwar vor dem im Titel genannten Gegenstand: „Kafkas Schere“. Besser sei, der Gegenstand werde nie gefunden, nie benutzt. Denn mit dieser Schere werde der Angesprochene seine Welt zugleich berühren und für immer zerteilen. Tantalosqualen bereitet die Schere: Die Geste der Berührung wird zur Erfahrung der Unerreichbarkeit. Nur wer die Schere nicht hat, nie gefunden hat, kann sich einbilden, die Welt biete sich seinem Zugriff dar. Wer dagegen mit der Schere in die Sprache und in die Welt schneidet, verliert den Zusammenhang, tauscht ihn ein gegen eine extreme Erfahrung. Vielleicht der wichtigste Gedanke des Textes: Kafkas Schere ist keine literarische Methode, nicht wie Brechts Verfremdung oder Hoffmanns serapiontisches Prinzip ein Werkzeug zur Verfertigung von Literatur, zum Gewinn von Erkenntnis. Ein Verhängnis ist diese Schere, ein Zwang, der den Schneidenden in letzter Konsequenz das Leben kosten wird. Am Ende seiner Meditation spricht Lehr pathetisch allgemein: „Dir, Mensch, ist es ganz klar, dass der unvermeidliche Schnitt nur gelingen wird, wenn du keinesfalls entscheiden kannst, was deine freie Hand zwischen die Scherenblätter zwingt, die eigene gestraffte Nabelschnur oder jenen seidenen Faden, an dem das Leben hängt. Du wirst schneiden, und du fällst wie endlos in die eine oder in die andere Welt.“
Extreme spielen in Thomas Lehrs Werk schon lange eine Rolle. Ob in „42“ die ganze Welt stehenbleibt und nur ein einziger Mensch weiterlebt zwischen den Salzsäulen einer abgerissenen Kontinuität, ob in „Schlafende Sonne“ das übermächtige Sonnenlicht, metaphorisch, jede geordnete Orientierung der Figuren überflutet, Lehr hält sich nicht mit konventionellen Erzählsituationen auf. Es sei denn, um sie mit Extremereignissen oder -kräften zu konfrontieren, denen gegenüber sie als Lügengebilde zerfallen. Wahrheit ist durchaus ein Anspruch dieses Schreibens. Wie in Hoffmanns „Sandmann“, wie in Canettis „Die gerettete Zunge“, wie vor allem überall bei Kafka vom „Brief an den Vater“ bis zum „Schlag ans Hoftor“ gibt es den Beobachter, der verbotene Kenntnisse hat, der die Welt an verbotenen Stellen berührt und das mit seiner Ausstoßung bezahlt. Diese wird ihm zur Bestätigung dafür, dass das Gesehene, das Berührte real sind. Also weitermachen, weiterschreiben, auch wenn es das Leben oder zumindest die behagliche Normalität kostet – eine entsprechende Überzeugungskraft hat Literatur nur noch selten. Bei Thomas Lehr spürt man sie. Seine Sprache ist so sicher gesetzt, so nuancenreich, dass klar wird: Dieser Schriftsteller ist auf seinem Gebiet nicht freiwillig tätig, eher ausgesetzt, ein Robinson hinter dem Lügenmeer, der den Zwang, aber auch die Zeit hat, ganz aus dem Selbstgefundenen zu leben. Wohl darum ist radikale Literatur die besser geschriebene Literatur.
Radikal zeigen sich die Texte in der Ausgestaltung von Albträumen und ihren Welten. Kein Anhaltspunkt für eine Verlässlichkeit findet sich. „Die Hunde waren aus dem Blau der Nacht aufgetaucht. Niemand hatte je von ihnen gehört. Ihr Gebell entsetzte uns, wir verloren die Kontrolle.“ So beginnt „Tage ohne Kopf“, die Eingangserzählung, und setzt sich fort in einer atemlosen Flucht. Das Schlimmste, das Verstörendste ist, dass die hündischen Verfolger ihre Aktivität vollständig an der des Fliehenden ausrichten. Wird er langsamer, werden es auch die Hunde, schnappen sie nach ihm, bleibt immer eine Abwehrmöglichkeit, die die Zähne der Hunde ins Leere schlagen lässt. Der Leser kann nicht anders, als die Bedrohung im Innern des Bedrohten zu verorten, was den Schrecken keineswegs mindert. Aufhören wird dieser erst mit dem Leben, mit den Wahrnehmungen des Gejagten.
In „Die Fliegenden“ ist ein uralter Menschheitstraum wahr geworden: Menschen können fliegen. Nicht alle, aber eine stetig wachsende Zahl von Menschen erhebt sich mühelos in die Lüfte, was allerdings oft heißt: nur bis zur Zimmerdecke. Denn das Wunder vollzieht sich in einem mitleidlosen Alltag, inmitten der altbekannten, gegen das Rettende perfekt abgedichteten Welt. Vielleicht hätte man sich mit der irgendwann noch abgefunden. Aber jetzt, wo das Erträumte geschieht und nichts zur Folge hat außer die Entwertung der menschlichen Fähigkeit zu träumen, wird es bitter. „Jetzt aber fliehen sie nach oben und wieder in die Nacht, in Länder, die sie besser ertragen oder die schlechter gerüstet sind. Ein neues Kapitel wurde aufgeschlagen. Doch leider scheint es, als stünde auch dieses im alten, verzweifelten Buch.“ Dann dreht der Autor das Spielbrett. In der nächsten Geschichte ist ein Buch die Heterotopie, der Fluchtort aus einem Albtraum. In dem ist die Welt ein gigantischer Touchscreen, der jede Bewegung, jedes Wort, jeden Gedanken seiner Bewohner aufnimmt und mit unbeeinflussbarem Ergebnis weiterverarbeitet. Wie weit sind wir, die screentouchers von Milliarden digitaler Endgeräte, von dieser Vision wohl noch entfernt? „Das Notizbuch“ heißt die Erzählung, heißt zugleich die Welt, die alles von uns mitschreibt, bis sie alles über uns weiß. Nur in der Schublade eines Krankenhausschränkchens liegt noch ein vergessenes Notizbuch aus alter Zeit, mit Seiten aus „PAPYRH“, jungfräulich rein. „Klaglos und verschwiegen wartet das Notizbuch auf die Tätowierung durch das unvermutete, unkontrollierbare Wort. Wenn ihr ein solches findet, so schweigt wie es selbst und schreibt leise und verbergt es beim Schreiben mit der Hand.“
Einen Schwerpunkt des Erzählbands bilden Variationen und Fortschreibungen antiker Mythen. Als Bilderbuch zu den menschlichen Urängsten benutzte sie Freud, als Folien hinter selbstbewegten Oberflächen dienen Sie häufig bei Kafka. Dessen chinesische Mauer outet sich in der Erzählung über ihren Bau als das geplante Fundament zu einem Babylonischen Turmbau 2.0. Neben und inmitten der vorwiegenden Deutungsangebote von „Beim Bau der chinesischen Mauer“ – K.u.K. Österreich, Imperialismus, Verwaltungsstaat – taucht damit das Projekt Zivilisation auf, als denkbar größter Rahmen, in den sich die Handlung des Textes und zugleich die Geschichte der Menschheit stellen lässt. Weniger die Absurdität, die Kafka an den Handlungen der Baumeister interessierte, als ihr Gefangensein beschreibt Thomas Lehr in „Die Babylonischen Maulwürfe“. Sein Turm ist bereits so hoch, dass das Leben der am Bau Beteiligten sich nur noch im Innern abspielt. Seit Generationen. Forschungen haben ergeben, dass das Fundament nicht Menschen errichteten, sondern gigantische Maulwürfe, die in einer Schlüsselpassage mit Kindern verglichen werden. Abwärtsbewegungen sind den Turmbewohnern verboten, damit auch jede Forschung an Originalschauplätzen ihrer Frühgeschichte. Man erfährt, dass die fertiggestellten Stockwerke jeweils ausgegossen werden, womit alles Frühere zu einem zwar toten, aber zukünftiges Leben in immer gewaltigerer Höhe ermöglichenden Sockel wird. Weitere Details der Erzählung sollte man unbedingt in deren eigener Gangart kennenlernen. Am Ende, behaupte ich, steht man vor einem atemberaubenden Bild des Geschichtsprozesses. Sexualtrieb und Todestrieb, Freuds bekannte Antagonisten, wirken da fast wie Verbündete beim letztmöglichen Versuch, aus dem falsch Begonnenen noch je wieder auszusteigen. In Versen von Horst Samson könnte ein ähnlicher Versuch anklingen: „Einen guten Tod / bei jemandem haben, sich streicheln, miteinander / faulenzen, den lieben langen Tod lang“.
Auch den Orpheus-Mythos bearbeitet Thomas Lehr, auch ihn in der Nachfolge Kafkas, von dem mehrere Erzählungen sich auf den Ur-Künstler Orpheus und seine Superkräfte beziehen. Kafkas „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ erzählt von einer angeblich hochbegabten Sängerin, die in einem Volk von Pfeifenden die Königin ist. Erzählt ist der Text aus der Perspektive einer anonymen Maus, deren Bild von Josefine zwei scheinbar widerstreitende Eindrücke zusammenführt. Eine Verehrung der Künstlerin, bei deren Darbietungen man gemeinsam mit anderen den Alltag vergessen kann, steht der Vermutung gegenüber, Josefine tue in Wahrheit nichts anderes, könne nichts anderes als alle anderen Mäuse auch: pfeifen. Eine Dekonstruktion des klassischen Kunstbegriffs hat unter anderem Gerhard Oberlin in seinem Band „Die letzten Mythen. Untersuchungen zum Werk Kafkas“ hierin gesehen. Andererseits, schreibt er, „klingen Elemente des orphisch-eleusinischen Mysterienwesens ebenso an wie eine spezifisch mystische Spiritualität“. Wie so Vieles bei Kafka ist die Figur der Josefine eben deutungsoffen, ihre ironische Darstellung seitens der betont unkünstlerischen Durchschnittsmaus nicht als objektiv zu betrachten. Deutlicher noch begegnet ein utopisches Moment von Künstlertum in der Kafka-Erzählung „Das Schweigen der Sirenen“. Das Verhältnis des singenden zum zuhörenden Part dreht sich hier um. Odysseus wird zum herausragenden Genius dadurch, dass er es schafft, dem betörenden Gesang der Sirenen zu entgehen. Wie macht er das? fragt sich Kafka und behauptet: mit Naivität. Dass er auf das Wachs in seinen Ohren vertraut, verwirrt die mächtigen Sirenen derart, dass sie zu singen vergessen und ihn stattdessen bewundern. Er hört sie deshalb nicht, weil sie nicht singen. Laut der Schlusspointe des Textes ist es dabei egal, ob Odysseus tatsächlich naiv ist oder aber, als der sprichwörtlich Listenreiche, seine Naivität nur vortäuscht. In jedem Fall macht der Eindruck unbedarften Vertrauens auf die eigenen Kräfte die Götterwelt inklusive den Tod nervös.
Thomas Lehr weist seinen Paralleltext zu Kafkas „Josefine“ als solchen schon in der Bauform des Titels aus: „Orpheus / Gesang der Köpfe im Styx“. Wie bei Kafka gibt es die wirkmächtige Einzelfigur und die Masse, den Künstler und seine Rezipienten. Die Köpfe, die körperlos im Unterweltfluss treiben, sind bei Lehr Tote, die den zumindest vorübergehend über den Tod triumphierenden Orpheus verständlicherweise bewundern. Aber warum genau tun sie es? Wie bei Kafka zeigt sich, dass es ihre heimliche Gleichartigkeit ist, die sie dem Sänger lauschen beziehungsweise sein Andenken hochhalten lässt. Anders als Kafka macht Lehr den Inhalt des Gesangs für die Übereinstimmung verantwortlich. Lehrs Orpheus singt von Liebeserfahrungen der Jugend, und die hat jede/r andere auch gemacht oder zumindest machen können. Als Tote, die hier nur noch einen Kopf und keinen Körper mehr haben, nur noch denken und nicht mehr begehren können, halten sie jede Erinnerung an die Liebe fest wie ein Pfand darauf, dass sie gelebt haben. Jeder von ihnen – auch Orpheus, wie sie vermuten – hat allerdings erleben müssen, dass der Glanz jugendlicher Leidenschaft mit der Zeit verblasste. „Wenn man aber bedenkt, dass der Verlust der vollkommenen Beglückung, die sich nur im Ursprung, in der Überwältigung der Frühe, bei der Geburt des Gefühls einstellen kann, schwerer wiegt als der des geliebten Menschen selbst, dann könnte man dem Biss der Schlange (die Eurydike tötete, E.R.) dankbar sein, welcher es dem Orpheus ersparte zu erleben, wie das Entzücken der Liebe immer unvollkommener und schwächer wurde mit jedem erneuten Besuch bei Euridike.“ Orpheus’ Schicksal besteht aus Sicht der Toten darin, dass auch seine Jugend, auch sein Leben irgendwann vergangen sein müssen, er also mutmaßlich unerkannt zwischen ihnen im Styx treibt – wie sie nur noch als Kopf. Apollo, dessen Leier Orpheus empfing, damit er seine Musik machen konnte, hat das Instrument wieder eingezogen und Orpheus zum Schweigen verurteilt, erfahren wir zuletzt. Vollständiger als Kafka demontiert Lehr mit seiner Erzählung den Nimbus einer Kunst, die potenziell den Tod besiegt. Ist dann aber die Schere, die den Weltzusammenhang zerschneidet, wirklich Kafkas oder vielleicht eher Thomas Lehrs Erfindung? Besteht Lehr auf purer Leidenschaft / Eros, wo Kafka noch offen bleibt auch für Liebe / Agape? Oder josefinisch gefragt: Geht es nur um ein inbrünstigeres Pfeifen oder doch um Musik, den „Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung“ (Die Verwandlung)? Diese und viele andere Fragen lohnen die Lektüre eines Buchs, dessen Bildräume und dessen Sprache im Leser noch lange nachhallen werden.
Thomas Lehr
Kafkas Schere
Zehn Etüden
83 S., geb.
ISBN: 978-3-8353-5586-6
Wallstein-Verlag, Göttingen 2024
Erstellungsdatum: 29.04.2025