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Stefan Geyers „Der Stadtwanderer“

Ausschweifendes Leben

Ulrich Breth


Frankfurt am Main 1617. Ausschnitt eines Kupferstichs von Matthäus Merian d.Ä., Foto: wikipedia

„Es ginge vieles besser, wenn man mehr ginge“, schrieb der Fußgänger Johann Gottfried Seume, der es wandernd bis nach Syrakus schaffte. Dass man beim Fahren weniger erfährt als beim Gehen, hat mit dem Tempo zu tun, mit dem man die Welt durcheilt. Selbst wenn die Welt sich auf Frankfurt beschränkt, das Stefan Geyer durchwandernd stets neu entdeckt, gehören seine dabei gewonnenen Erkenntnisse zu den kleinen Bausteinen einer globalen Aufklärung. Ulrich Breth hat das Buch mit kundigem Blick gelesen.

Bevor Stefan Geyer im Mai 2024 seinen ersten Band als Autor unter dem Titel „Der Stadtwanderer“ publiziert hat, ist er als Herausgeber und Mitherausgeber von elf Anthologien und Sammelwerken an die Öffentlichkeit getreten. Das vergleichsweise späte Debüt markiert nicht den Beginn einer bürgerlichen Schriftstellerexistenz, und es ist auch nicht so, dass sich hier einer vom Sammler fremder zum Verfasser eigener Texte emporgeschrieben hätte. Seine literarische Arbeit ist die Tätigkeit eines Schriftnomaden, der sich durch völlig unterschiedliche Lektüreformen gebildet und dessen Produktion von kurzen Impressionen, Porträts und Miniaturen im Internet und regelmäßigen Einträgen als Blogger ihren Ausgang genommen hat.

Vieles von dem, was in seinem „Stadtwanderer“ aufzufinden ist, ist bereits in den vorausgegangenen Bänden angelegt. Dabei ist seine Arbeit oft über die reine Herausgebertätigkeit in Form von eigenen Beiträgen, Vor- und Nachworten hinausgegangen. Vier der Bände („Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten“, 2014, „SÜSS SAUER PUR“, 2016, „Vom Warten“, 2018, und „Stöffche“, 2019) versammeln ausschließlich Originalbeiträge der Beteiligten. Kenner des Metiers wissen, wieviel Ausdauer das den für die Edition Verantwortlichen abverlangt. In vier Bänden („Auf buntbewegten Gassen“, 2011, „Mit des Blitzes Schnelle“, 2012, „Vom Glück, Fahrrad zu fahren“, 2017, und „Die Kunst des Gehens“, 2019) geht es um die menschliche Fortbewegung, entweder per pedes oder mit den Hilfsmitteln des Velozipeds bzw. der Eisenbahn. Angesichts der Beschleunigungserfahrungen der Moderne, in denen Zeit zur knappen Ressource geworden ist, kommt der Wiederentdeckung des Gehens und Wanderns das wachsende Bedürfnis der Menschen nach Entschleunigung entgegen. Der Sammelband „Vom Warten“ (2018) bietet gewissermaßen den Extremwert solcher Prozeduren. Lediglich die kulinarischen Erlebnissen gewidmeten „Tafelspitzen“ (2014) und der Band „Gefangen – Leben und Hoffen hinter Gittern“ (2017) scheinen dem Stadtwanderer keine große Hilfe zu sein, denn unterwegs fehlt es in der Regel am großen Besteck, und wer eingesperrt ist, kann der hölderlinschen Einladung „Komm ins Offene, Freund“ schwerlich folgen.

Von besonderer Bedeutung für den Stadtwanderer erweisen sich neben dem Band „Siegfried Kracauer – Das bunte Frankfurt“ (2013) die beiden bereits erwähnten Bände „Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten“ und „Die Kunst des Gehens“.

 

Der „Stadtwanderer“ besteht aus einem Eingangskapitel („Schuhe schnüren, herumgehen, Kopf lüften“), vierzehn Kapiteln, die jeweils einem Spaziergang in Frankfurt oder dessen Umgebung gewidmet sind, sowie einem Verzeichnis von subjektiven Leseempfehlungen, die um das Thema Gehen, Spazieren und Wandern kreisen. Anders als es das Eingangskapitel und die Leseempfehlungen vermuten lassen, stehen in dem Band nicht das Gehen und seine Methodik im Mittelpunkt. Beim „Stadtwanderer“ haben nicht die Peripatetiker der aristotelischen Schule, eher schon die Adepten der Promenadologie (Spaziergangswissenschaften) Pate gestanden. Es geht weder um den Flaneur, der sich in der großstädtischen Masse treiben lässt, noch um den kostensparenden sonntäglichen Schaufensterbummel, auch nicht um den romantischen Wandersmann oder seine Nachfolger, den klassischen Spaziergängertypus Robert Walser oder den postmodernen Spaziergängertypus, der als radikaler Gedankenmensch in der Prosa Thomas Bernhards sein Unwesen treibt.

Es geht vor allem um den mitunter leicht morbiden ästhetischen Reiz, den die Stadt Frankfurt am Main demjenigen bietet, der sich die Zeit nimmt, sie in alle Himmelsrichtungen zu durchstreifen, Umwege in Kauf nimmt, sich von Hindernissen, die sich ihm in den Weg stellen, nicht aufhalten und sich von überraschenden Begegnungen und Ereignissen in Anspruch nehmen lässt.

In seinem Moskauer Tagebuch notiert Walter Benjamin unter dem Datum des 15. Dezember 1926: Man kennt eine Gegend erst, wenn man sie in möglichst vielen Dimensionen erfahren hat. Auf einen Platz muß man von allen vier Himmelsrichtungen her getreten sein, um ihn inne zu haben, ja auch nach allen diesen Richtungen ihn verlassen haben. Diese Erfahrung muss sich auch dem Stadtwanderer mitgeteilt haben, den man aus allen Himmelsrichtungen auf den Erzeugermarkt an der Konstablerwoche zugehen sieht.  

Im Unterschied zu den hässlichsten Plätzen der Stadt, denen er als Mitherausgeber der „Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten“ ein Denkmal gesetzt hat, geht es dem Stadtwanderer um meist Übersehenes, um Landschaften und Orte, die sich ihm, der sich ihnen ambulatorisch zu nähern weiß, erst auf den zweiten Blick erschließen. Die Entdeckung der Langsamkeit des Gehens ist also die Voraussetzung dafür, sich die Stadt, deren südlicher Teil ihm seit seinen Kindheitstagen vertraut und in die er nach jahrzehntelanger Wanderschaft zurückgekehrt ist, wieder anzueignen. Statt mit dem Blick des Jugendlichen auf die Trümmer der Nachkriegszeit, mit dem städtearchitektonisch geschulten Blick des nicht mehr ganz jungen Mannes, der sie nicht zur Projektionsfläche seiner Hoffnungen und Wünsche macht, sondern ihrer Silhouette, den sich öffnenden Blickachsen und all dem, was die Stadt- und Zeitgeschichte aufgetürmt, unter sich begraben oder beiseite gefegt hat, die Möglichkeiten entnimmt, sein Leben in einer Umgebung, die ebenso urbane wie dörfliche Züge trägt, im voranschreitenden 21. Jahrhundert einzurichten.

Eine solche Existenz ist von Reibungen nicht frei. So leidet der Stadtwanderer unter einem antiautomobilistischen Affekt, der sich äußert, sobald er gewahr wird, dass Bürgersteige und Radfahrwege von großkalibrigen Fahrzeugen, sogenannten Stadtpanzern, zugeparkt sind. Oder sich ein ebenso mächtiges wie hässliches Gebäude, das nicht für Menschen, sondern für Autos gebaut wurde, nämlich das in bester Innenstadtlage gelegene Parkhaus an der Konstablerwache, städtebaulich in unanständiger Weise zur Geltung bringt. Das hindert ihn nicht, einen der markanteren Söhne Frankfurts, den Gangsterboss und späteren Bestsellerautor Henry Jaeger, durch das Bonmot zu charakterisieren, dass er zeitweise ein ausschweifendes Leben mit schönen Autos und schnellen Frauen geführt habe. Ein klassischer Chiasmus als Reminiszenz an die Stadt der IAA, an dem Gunter Sachs sicher Gefallen gefunden hätte.  

Zu den Herausforderungen, vor die sich der Stadtwanderer gestellt sieht, gehören die individuelle Fitness und die Widrigkeiten des Wetters. Einmal macht ihm ein veritabler Kater, ein anderes Mal ein lädiertes Knie zu schaffen. Auf dem letzten der von ihm geschilderten Spaziergänge ist der Regen sein zuverlässigster Begleiter.

Bereits beim ersten Spaziergang, der den Stadtwanderer von Bad Homburg nach Frankfurt führt, erfährt der Leser manches aus dessen Leben oder aus der Geschichte der Stadt und ihrer Umgebung: dass er durch die Lektüre eines Buches von Erling Kagge vom passionierten Fahrradfahrer zum Fußgänger geworden ist, dass auf der Wanderstrecke, dem Hölderlinpfad, nicht nur das Ausflugslokal Kronenhof, sondern auch ein Tierfriedhof liegt, und was aus dem 1992 stillgelegten Bonameser Flugplatz geworden ist. Dass er seine Spaziergänge gerne nach dem Genuss einer Tasse Cappuccino aufnimmt, nicht gerne auf Beerdigungen geht, eine besondere Beziehung zur Gaststätte Weida und zu den Wasserhäuschen Nox am Seehofpark und Fein in der Petersstraße pflegt. Dass er der Frankfurter Eintracht die Treue hält, aber auch die Geschicke des unterklassigen FSV verfolgt. Und der Leser wird seine Erleichterung beim Anblick eines Stolpersteins darüber teilen, dass die Familie Strauss 1937 den Weg aus Nazideutschland heraus nach Uruguay gefunden hat, ebenso wie er zerstreut zur Kenntnis nehmen wird, dass die Eintracht am 3. September 2023, als der Wanderer auf dem Weg zum Goetheturm war, ihr Sonntagsheimspiel gegen den 1. FC Köln mit einem 1:1 beendet hat.

Dabei kann er die Erfahrung machen, dass der lakonische, vom New Journalism beeinflußte Stil des Autors keine stilistische Attitüde ist, sondern Ausdruck eines nonkonformistischen Lebensgefühls, dem eine bestimmte Lebensform korrespondiert.

Obwohl dem Band eine Karte mit den Frankfurter Stadtteilen vorangestellt ist, verhält es sich nicht so, dass der Stadtwanderer auf seinen Wegen den Großraum Frankfurt kartographiert. Seine Wegbeschreibungen zeichnen vielmehr das Bild eines sozialen Raumes, in dem Personen und Dinge, vertraut und ungewohnt, einnehmend oder verstörend, in menschenfreundlicher oder lebensfeindlicher Gestalt aneinanderstoßen. In den vierzehn Kapiteln des Bandes entsteht kein Stadtplan, der Menschen, Dinge und Ereignisse inventarisiert, sondern ein dreidimensionaler Raum, den er die Straßen querend, wie eines der von ihm bevorzugten Verben lautet, durchmisst. Dabei kommt es zu Augenblicken seltener Nähe, etwa im Gespräch mit einem 95jährigen Passanten, flüchtigen Begegnungen, wie der mit einer schwarz gekleideten, schlanken Frau mit langen blonden Haaren in der Nähe des Stadtwalds, Momenten jäher Sympathie oder Antipathie, Ausweich- oder Fluchtbewegungen oder der Konfrontation mit dem Unvermeidlichen, dem es standzuhalten gilt. All das nimmt er auf sich, weniger, um den Dingen auf den Grund zu gehen, als vielmehr ganz im Sinne des von ihm zitierten Gedichts Der Spaziergang von Friedrich Hölderlin in deren ästhetischer Neutralisierung sein Glück zu finden.

Stefan Geyer
Der Stadtwanderer
frankfurt anders entdecken
108 S., geb.
ISBN: 978-3-96320-078-6
Henrich Editionen, Frankfurt am Main 2024

 

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Erstellungsdatum: 01.08.2024