Wie chinesische Legenden Maler in ihren Bildern verschwinden lassen, Poeten in ihren Gedichten, so kann auch im Westen ein Sprachwissenschaftler in den Mythen der Öffentlichkeit weiter existieren, deren Bedeutung er selbst über die Fakten erhoben hat. Felix Philipp Ingold bringt Paul de Man in Erinnerung, seine Thesen, sein kompliziertes Leben und dessen Bild in den Medien.
Einst gehörte der belgisch-amerikanische Literaturphilosoph Paul de Man zu den Protagonisten des sogenannten „Dekonstruktivismus“, der in den 1970er und 1980er Jahren als elitäre textkritische Methode praktiziert wurde. De Man fand damals unter Kollegen und Schülern höchste Anerkennung und sicherte sich eine international vernetzte Gefolgschaft von Sympathisanten. Dazu gehörten so einflussreiche Persönlichkeiten wie Georges Bataille, René Girard, Mary McCarthy, Renato Poggioli oder Jacques Derrida. Heute steht sein Name, wenn er denn überhaupt noch genannt wird, vorab für den „Fall de Man“, der 1987 (postum) für kritisches Aufsehen sorgte, nachdem seine nazifreundlichen, teilweise antisemitischen Schriften aus der Zeit des Weltkriegs bekannt geworden waren. Während man in akademischen Kreisen auf die peinlichen Enthüllungen eher zurückhaltend, wenn nicht beschwichtigend reagierte, wurde der „Fall“ in Frankreich, Deutschland und der Schweiz zu einem feuilletonistischen Skandal aufgearbeitet und als solcher verhältnismässig lange wachgehalten.
Zuvor schon (und dann auch gleichzeitig mit dem „Fall de Man“) machte Hans Robert Jauss, Begründer der Konstanzer Schule und Wortführer der literaturwissenschaftlichen „Rezeptionstheorie“, wegen seiner uneingestandenen aktiven Mitgliedschaft bei der Waffen-SS weithin von sich reden – in beiden Fällen kam es zu kontroversen öffentlichen Debatten, aber auch zu angestrengten Versuchen, die Theoriebildungen der berühmten Autoren als implizite Widerspiegelung ihrer früheren Verfehlungen auszuweisen.
Paul de Man wurde 1919 in Antwerpen geboren. Ohne einen regulären Schulabschluss, aber mit frühen publizistischen und verlegerischen Erfahrungen setzte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA ab, um sich gerichtlicher Verfolgung wegen diverser gravierender Finanzdelikte zu entziehen. Seine Familie – die Frau mit drei Kindern, die Eltern, die er um ein Vermögen betrogen hatte – liess er bedenkenlos zurück. Nach einem ersten Job als Hilfsbuchhändler in New York City und einem Studienjahr am Bard College absolvierte er im fortgeschrittenen Alter von 30 bis 40 Jahren eine staunenswerte universitäre Laufbahn, obwohl er die dafür notwendigen Studien- und Prüfungsbelege nicht beibringen konnte.
In Harvard erwarb de Man 1960 mit einer Arbeit über Mallarmé und Yeats einen komparatistischen PhD, danach unterrichtete er Vergleichende Literaturwissenschaft an den Universitäten Zürich, Johns Hopkins (Baltimore) und – bis zu seinem vorzeitigen Tod – in Yale (New Haven, 1970-1983). Im Nachgang zum New Criticism und im Umfeld der Yale School (mit Miller, Hartman, Bloom) etablierte sich de Man als einflussreicher Wortführer einer „dekonstruktiven“ Literatur- und Lektüretheorie, die er in produktiver Denkpartnerschaft mit Jacques Derrida exemplarisch ausarbeitete. Ein diesbezügliches monographisches Werk hat er nicht vorgelegt, statt dessen eine Reihe von Sammelbänden mit einschlägigen Aufsätzen, Essays und Vorträgen, angefangen mit „Blindness and Insight“ (1971), seinem nachmals bekanntesten Titel, und fortgeführt mit „Allegories of Reading“ (1979), „The Rhetoric of Romanticism“ (postum 1984), „The Resistance to Theory“ (1986) und „Aesthetic Ideology“ (1996).
Bereits 1964, also lange vor den Debatten um den „Fall de Man“, hatte der französische Schriftsteller Henri Thomas unter dem lakonischen Titel „Der Meineid“ (Le parjure; deutsche Erstausgabe 2012) einen dokufiktionalen, offenkundig autobiographisch grundierten Roman vorgelegt, der die Anfänge von Paul de Mans amerikanischer Karriere zum Gegenstand hat. Es geht dabei um dessen Aufenthalt am Bard College, wo er 1949/1950 gleichzeitig mit Thomas als Stipendiat und nebenbei als Privatlehrer zugange war, bevor er wegen der Schwängerung einer dortigen Studentin (seiner späteren zweiten Frau) sowie Sachbeschädigung und Diebstahl exmatrikuliert wurde. Im Roman heisst das College „Westford“, der unscheinbare Held wird „Stéphane Chalier“ genannt, der Autor selbst tritt in der Rolle des Erzählers auf.
Berichtet wird die Geschichte eines Jungakademikers, der seine Frau, seine Kinder, seine europäische Heimat abrupt verlässt, um in der „neuen Welt“ ein neues Leben anzufangen. Ohne offiziell geschieden zu sein, gründet er nach seiner Flucht eine Zweitfamilie und versucht mit einer Dissertation über Friedrich Hölderlin eine amerikanische Karriere zu lancieren. Mit Falschaussagen über sein Vorleben wie auch über seine (in Wirklichkeit fehlenden) Schul- und Seminarabschlüsse erschwindelt er sich die dafür notwendigen Studienplätze. In einfachsten Verhältnissen lebt er an wechselnden Orten unter der ständigen Bedrohung, als Betrüger entdeckt und des Landes verwiesen zu werden. Doch durch geschicktes Lavieren zwischen Defensiv- und Offensivtaktik gelingt es ihm immer wieder, das Schlimmste von sich abzuwenden. Zwar spricht er wiederholt von seiner Absicht, sich „stellen“ zu wollen („das bin ich, ich war das Schwein“), also Verantwortung für sein gesetzwidriges Tun zu übernehmen und auch die entsprechenden Konsequenzen zu tragen, aber jede Gelegenheit dazu lässt er ungenutzt verstreichen, sei’s aus Bequemlichkeit, sei’s aus Berechnung. Nach langem zermürbendem Existenzkampf und schwerer Krankheit gibt Chalier seine akademischen Ambitionen auf und mutiert emotionslos zu einem amerikanischen Normalverbraucher.
Henri Thomas macht daraus nicht etwa einen unterhaltsamen Campus- oder Kriminalroman, vielmehr geht es ihm um die Charakterdarstellung eines Charakterlosen, der zwischen Lüge und Wahrheit, zwischen Traum und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden vermag, weil ihm der entsprechende Unterschied ganz einfach uneinsichtig bleibt. „Der Meineid“ ist die bald allzu fahrig, bald allzu umständlich erzählte Geschichte eines sympathischen Versagers und Betrügers, der sich vorzugsweise durch sein Lachen, sein Lächeln, sein Grinsen zu erkennen gibt, der sich nachlässig kleidet und ernährt, dem es an jeglichem Ehrgeiz oder sonstigem Antrieb fehlt – ausser an seiner fatalen Lesewut, die ihn letztlich von eigenem Schreiben abhält. Dass der einzige Ruck, den Stéphane Chalier sich gibt – der Bruch mit dem autoritären Vater und mit Europa – letztlich nur auf die Wiederherstellung seiner vormaligen familiären Situation mit ausgewechseltem Personal hinausläuft, verleiht dem Roman eine absurde existenzialistische Anmutung, wie man sie mustergültig schon bei Albert Camus („Der Fremde“, 1942) vorfindet.
Inwieweit Henri Thomas mit seinem fiktionalisierten Lebens- und Figurenbild an Paul de Man als realen Zeitgenossen herankommt, ist schwerlich auszumachen. Faktisch belegt ist dessen bigamistische Lebensführung, bekannt auch, dass er seinen Neustart in den USA bedenkenlos mit Lug und Trug bewerkstelligt hat. Doch darüber hinaus berichtet Thomas als Ich-Erzähler („um den Faden dessen zu suchen, was in Wahrheit geschehen ist“) von vielerlei Gesprächen, die er mit Chalier geführt habe, von gemeinsam absolvierten Reisen, von Krankenhausbesuchen, von familiären Irrungen und Wirrungen, deren Wahrheitsgehalt und Wirklichkeitstreue durch nichts zu belegen sind.
Auch wenn sich der Erzähler bisweilen vom Verhalten oder von provokanten Äusserungen seines Protagonisten irritiert zeigt, hegt er für ihn doch eine stetig zunehmende Sympathie, ja, eine Art von Bruderschaft, die hin und wieder als intime Doppelgängerei ausgelebt wird – in Stéphane Chalier scheint sich der namenlose Erzähler schliesslich selbst spiegeln und erkennen zu wollen: „Von nun an kann ich ,wir’ sagen. Ich habe ihn genau dort eingeholt, in der Verzweiflung, in die wir gestürzt sind.“
Bei Erscheinen von Thomas’ „Meineid“ hatte de Man seine ersten Karriereschritte in Harvard und Cornell bereits erfolgreich hinter sich gebracht und schickte sich an, in Zusammenarbeit mit namhaften Kollegen (wie auch im Gegenzug zu seinen Opponenten) das Konzept einer antihermeneutischen Literaturtheorie zu entwickeln, die auf die Rhetorik der Texte (Allegorie, Metapher und andere Redefiguren) statt wie üblich auf deren Aussage beziehungsweise Bedeutung abheben sollte. Dieses Konzept hat er nachfolgend in zahlreichen Essays und Vorträgen exemplarisch ausgearbeitet.
Das Fazit seiner Lehre bringt Paul de Man schon in seinem ersten Buch kurz und gut auf den Punkt: „Gemäss einem Paradox, das aller Literatur eigen ist, gewinnt die Dichtung ein Maximum an Überzeugungskraft genau in dem Moment, da sie jeglichem Anspruch auf Wahrheit entsagt.“ Und in seiner letzten Publikation („Allegories of Reading“, 1979) heisst es lapidar: „Metaphern sind viel zäher als Fakten.“ Also: Wie etwas gesagt wird, überbietet das, was gesagt wird, macht es beliebig und irrelevant, überlässt es dem Gutdünken des Rezipienten. Der Autor ist Sprach-, Form-, Redekünstler, nicht jedoch Wahrheitsgarant; wahr kann nur sein, was ist, und nicht, was gesagt oder geschrieben wird. Somit verliert der zeitgeschichtliche oder autobiographische Kontext literarischer Werke jede Bedeutung, selbst dann, wenn sie (wie bei Rousseau und Proust) explizit autobiographisch oder zeitgeschichtlich grundiert sind. Demnach zählt beim Lesen literarischer Texte allein deren „eigene Theatralität“.
De Man bringt die Philologie gegen die Philosophie in Stellung oder geht gelegentlich so weit, dass er die Philologie als Philosophie praktiziert. Was sich so oder anders herausstellt, ist die grundsätzliche Unmöglichkeit, mit literarischen (und generell mit sprachlichen) Mitteln Wahrheit zu bezeugen oder auch nur die Wirklichkeit zu erfassen. Ein anonymer Kommentator hat sich dazu in der Customer Review von www.amazon.com wie folgt geäussert: „Diese Sicht der Dinge macht de Mans Fortentwicklung des Dekonstruktivismus zu einer äusserlich selbstbezogen, heuchlerischen und fast schon bösartigen Angelegenheit – er kann sich völlig ablösen von dem, was er geworden ist und von allem, was er getan hat: Den Dekonstruktivismus musste er erfinden, um sich von seiner Nazivergangenheit abzuschotten.“ Dass (und in welchem Ausmass) Paul de Man trotz offenkundigen Fehlverhaltens von seiner Anhängerschaft vor solch einschlägiger Kritik in Schutz genommen wurde, ist durchaus bemerkenswert: Um seine erfolgreiche Theoriebildung zu retten, sollten die nun weit verbreiteten Zweifel an der persönlichen Integrität des Autor ausgeräumt, zumindest abgeschwächt werden.
Erst 2014 ist der „Fall de Man“ – in den USA als „The de Man Affair“ bezeichnet – einem breiteren Publikum bekannt geworden. Nach langjährigen Recherchen veröffentlichte damals eine ehemalige Schülerin des umstrittenen Meisters, Evelyn Barish, eine in Wort und Bild reichlich dokumentierte Monographie über dessen konsequent gepflegtes „Doppelleben“ („The Double Life of Paul de Man“, Liveright Publisher, New York). Was man Paul de Man nach seinem Tod an Charakterschwächen, politischem Opportunismus und kriminellen Umtrieben vorgeworfen hat, fügt sich hier zum Konterfei einer hochkomplexen Persönlichkeit, die vielerlei Widersprüche in sich vereint. Dass de Man den „Meineid“ seit seinen jungen Jahren in unterschiedlicher Form geradezu systematisch gepflegt hat, stellt Evelyn Barish ebenso deutlich heraus wie seine lichte Seite als ungemein kluger, witziger, charmanter, dabei zurückhaltender und umgänglicher Mensch mit „unerschütterlichem, unspezifischem Selbstvertrauen“. Dass er sein schwer verständliches Lebenswerk international durchzusetzen vermochte, obwohl es dafür nur ein abgehobenes Fachpublikum gab, führt die Autorin auf eben diese Verquickung von Mauschelei, Opportunismus, Vorteilnahme und persönlichem Charisma zurück.
Freilich hält Barish mit Kritik an de Mans hermetischer Ausdrucksweise nicht zurück und erhebt den Vorwurf, er täusche mit unnötiger argumentativer Kompliziertheit (kurz: mit seinen „unverständlichen“ Texten) über die Beliebigkeit seiner „Lehre“ hinweg. Das weitläufige Presseecho zu der materialreichen intellektuellen Biographie fiel in den USA grossmehrheitlich positiv aus. Gegenstimmen dazu gab es aus Paul de Mans postumer Gefolgschaft kaum, und in Europa hat Evelyn Barish mit ihrer dichten Dokumentation bis heute keinen Widerhall gefunden. Der einstmals vieldiskutierte „Fall de Man“ – wie auch der Autor selbst – scheint hierzulande ziemlich in Vergessenheit geraten zu sein. Zuletzt ist von Paul de Man in deutscher Sprache ein Fortsetzungsband zu „Allegorien des Lesens“ (2012) erschienen.
Dass Paul de Man nach seinem fiktiven Auftritt in Henri Thomas’ Roman „Der Meineid“ von 1964 auch anderweitig als literarische Figur „Karriere“ gemacht hat, sei an dieser Stelle summarisch nachgetragen. Es ist wohl ein singuläres Faktum, dass ein zünftiger Literaturtheoretiker in der literarischen Praxis als Held oder, wie in diesem Fall, als Antiheld wiederkehrt. – Bei Lars Gustafsson (in „Die Sache mit dem Hund“, 1993; deutsch 1994) erscheint de Man unter fiktivem Namen in Gestalt eines „alten Philosophen“, der „in seiner Jugend ein holländischer Nazi“ war, darüber aber nie ein Wort der Erklärung oder gar Entschuldigung verloren hat. „Immerhin war er in meiner Studentengeneration für viele so etwas wie ein Beispiel, ein Morallehrer und ein Vorbild“, bestätigt Gustafssons Ich-Erzähler: „Bei dem unglaublichen stillen Charme, ja, dem Magnetismus, den er besaß, und bei der ethischen Überzeugung, die er wie eine sanfte Ausstrahlung um sich verbreitete, bin ich sicher, sie hätten ihm sogar das verziehen – wenn er gesagt hätte, wie es war. Hätte er doch die Tiefe seiner ethischen Überzeugungen bewiesen, wenn er offenbart hätte, welch bösen Neigungen, welch destruktiven und teuflischen Wertsystemen er einst gehuldigt hatte, um sie dann zu überwinden!“
Wenn Gustafsson seinen Protagonisten bei aller Kritik mit einer gewissen Nachsicht und einigem Bedauern vorführt, geht die Schriftstellerin und Publizistin Siri Hustvedt (in „Memories of the Future“, 2019; deutsch u.d.T. „Damals“, 2019) erbarmungslos mit de Man ins Gericht. Was sie ihm, vermutlich im Anschluss an die Recherchen von Evelyn Barish, unter Nennung seines realen Namens explizit ankreidet, sind nicht allein seine „antisemitischen Artikel“ aus der Kriegszeit, es ist der gesamte Katalog seiner persönlichen Verfehlungen, also „dass er seine akademischen Grade gefälscht, Geld gestohlen, seine Kinder im Stich gelassen, als Bigamist gelebt und sich bei den Behörden durch Lügen x-mal dem Auffliegen entzogen“ habe. Wenn Hustvedts Ich-Erzählerin darüber hinaus behauptet, Paul de Man sei „ein Psychopath“ gewesen, klingt dies allerdings fast schon wie eine zumindest partielle Entlastung des prominenten Missetäters.
Weniger streng, sogar mit einer gewissen Sympathie verfährt Wolfram Fleischhauer mit Paul de Man, den er in seinem unterhaltsamen College- und Kriminalroman „Der gestohlene Abend“ (2008) als Professor Jacques de Vander – der Kunstname spielt wohl auf de Mans Herkunft aus Flandern und auf sein Wanderleben an – auftreten lässt, als einen erfolgreichen Forscher und Lehrer mit „spektakulären Thesen“ und einem eigenen Institut an der fiktiven kalifornischen Hillcrest University. In den kriminalistischen Plot integriert Fleischhauer sowohl literaturtheoretische als auch politische und historische Erwägungen, die bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreichen und somit auch die frühen faschistischen Umtriebe des echten wie des romanesken Professors vergegenwärtigen.
Dass gerade Paul de Man, der die Wahrheit der Fiktion gegenüber der Realität des Lebens so nachdrücklich privilegiert hat, seinerseits zum Gegenstand literarischer Fiktionalisierung geworden ist und nun als „unsterbliche“ Kunstfigur in der Belletristik überdauert, ist der ironische Höhepunkt und zugleich das tragische Finale seiner theoretischen Bemühungen wie auch seines problematischen Doppellebens.
Persönliche Schlussbemerkung: Ich selbst habe Paul de Man nur einmal persönlich getroffen – im Herbst 1970, als er an der Universität Zürich ein Ordinariat für Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft innehatte. Ich war für eine seiner regulären Sprechstunden angemeldet, hatte die Absicht, ihm mein Habilitationsprojekt über Stendhal und dessen fragmentarische Prosawerke zu präsentieren, in der Hoffnung, ihn dafür als Betreuer zu gewinnen. Er empfing mich mit einem schwachen Händedruck, stand leicht gebückt und seltsam schräg vor mir, wirkte abwesend, lächelte verlegen in sich hinein, sah an mir vorbei, sagte kein Wort, hörte mir wie aus weiter Ferne ohne erkennbares Interesse zu. Stehend erläuterte ich mein Projekt, er behielt sein Lächeln, hielt den Kopf gesenkt, schwieg. Zwei-, dreimal schaute er auf. Ich erinnere mich an die grossen hellen Augen in seinem grauen Gesicht, das schon damals – er war erst 50 Jahre alt – greisenhaft wirkte. De Man liess mich reden. Vielleicht fünf, vielleicht auch zehn Minuten standen wir einander so gegenüber. Dann verabschiedete er mich kommentarlos mit einem beiläufigen Nicken – Ermunterung oder Verdikt? Wenig später erfuhr ich, dass es seine letzte Sprechstunde im Zürcher Seminar gewesen war. Noch im selben Jahr trat er eine Professur in Yale an und lancierte seine fulminante Karriere als Wortführer der dortigen literaturwissenschaftlichen Denkschule. – F. Ph. I.
Erstellungsdatum: 27.09.2025