Der mittelalterliche Theologe und Philosoph Jean Roscelin bestand auf dem kategorialen Unterschied zwischen dem Allgemeinen und dem Konkreten, zwischen dem Unwirklichen und dem Wirklichen, zwischen Physik und Metaphysik. Das widersprach kirchlichen Dogmen und ist, wie wir heute wissen, Ausgangspunkt des säkulären Staates. Auch im 21. Jahrhundert ist der Universalienstreit noch nicht beendet. Peter Kern sieht in seinem mehrteiligen Traktat Rationalität und Metaphysik untrennbar vereint. Hier ist der erste Teil.
I
An der Religionskritik hat sich die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft einmal ein Vorbild genommen. Was dem religiösen Bewusstsein als Gott erscheint, dechiffrierte sie als Entäußerung der menschlichen Gattungskräfte, und als eine ebensolche Entäußerung galt ihr das zwischen Waren- und Geldform prozessierende Kapital. Die unaufgeklärte Menschheit als Fetischdiener: Aus Feuerbachs Lehre geht die Marxsche Entschlüsselung der in der Warengesellschaft geltenden Kategorien hervor. „Akkumuliert, Akkumuliert!“, lautet der zentrale Glaubensartikel der neuen Religion. „Das ist Moses und die Propheten!“ (1)
Dieser Glaubensartikel hat die menschliche Gattung in einen bald ausweglos erscheinenden Strudel gerissen. Denn dem Akkumulationsprinzip ist keine Schranke gesetzt; Maßlosigkeit ist sein Wesen. Es ist der Raubbau an der Natur, der wachsenden Teilen der Menschheit die Mittel ihrer Subsistenz entzieht und sie in der Migration ihr Heil suchen lässt. Mit gesetzlichen Regularien versucht eine in Ost und West, Nord und Süd tief gespaltene Weltgesellschaft dem globalen Wirtschaftssystem Regeln vorzugeben, die den Klimakollaps verhindern sollen. Den Ausstoß von CO2-Gasen mit einem Preismechanismus einzudämmen, das Ende der Kohleförderung und der Verbrenner-Technologie mit einem Datum festzulegen, kein weiteres Anwachsen des radioaktiven Mülls zu erlauben, sind dringend nötige politische Interventionen, denen jedoch die Durchschlagskraft fehlt, da sie schon im europäischen Wirtschaftsraum schwer durchzusetzen sind, geschweige denn im Weltmaßstab.
Der von immer wiederkehrenden Krisen und Ausfallerscheinungen der Natur gekennzeichnete Akkumulationsprozess traf seit seinen Anfängen auf entschiedene Ablehnung. Diese war zunächst im ambivalenten, romantischen Tonfall vorgetragen. Der von der Industrie geschändeten Natur sollte ihr Recht zukommen, genauso wie der wankenden Herrschaft des Adels. Der Unterwürfigkeit predigenden Religion war die Rolle zugedacht, die alte Obrigkeit abzusegnen. Dieser Aufgabe kamen die christlichen Kirchen gerne nach, war es doch ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Das christliche Bekenntnis als Bedingung für Bürgerrechte – das schloss das lästige Judentum als Konkurrenz aus. Es war die Servilität vor allem des Protestantismus, womit dieser sich nach Napoleons Niederlage den Hass der Junghegelianer zuzog.
Die Religionen und ihre Institutionen mussten von alters her (2) als konservative Mächte gelten. Die Hoffnung, das Lieblingskind der Theologen, hintertrieb das politische Handeln; denn wenn Christus die Aufgabe zukam, von der Ungerechtigkeit zu erlösen, dann war kein profan-menschliches Handeln nötig. Politik war durch Soteriologie ersetzt. Diese „politisierte Frömmigkeit“ (3) sah sich von Hegel attackiert. Das Bürgerrecht in der Stadt Gottes als Lohn für irdische Bewährung – das Predigen der Zwei Reiche Lehre galt ihm als blanker Hohn. Den Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft sollten ihre Rechte unabhängig von Religion und Stand zukommen; das war mit der Hegelschen Emanzipation gemeint. Solches Bürgerrecht war rechts des Rheins gar nicht durchgesetzt, und als Preußen nach dem Wiener Kongress die Rheinprovinzen zugesprochen bekam, war die Emanzipation auch linksrheinisch wieder perdu. (4)
Der vermeintlich reaktionär gewordene preußische Staatsphilosoph ist der Hoffnung seiner Jugend treu geblieben. In einer frühen Schrift heißt es, dass „die Schätze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der Menschen, wenigstens in der Theorie, zu vindizieren“. (5) seien. Was zunächst bloß theoretisches Postulat war, ist zum für Hegel verbindlichen politischen Telos geworden. Es galt, das Christentum zu schwächen und mit ihm den als christlich-germanisch propagierten Staat. Das ist die Aufhebung der Philosophie durch ihre Verwirklichung, und klingt schon nach Marx.
Der aber watet erst „durch den Feuer-bach“ (6) dessen Sensualismus ihm verspricht, der Hegelschen, alle Naturgegenständlichkeit vertilgenden Dialektik gleichsam Bodenhaftung zu verschaffen. Mit der Aufnahme der Feuerbachschen Philosophie hat Marx die noch in Hegels System verborgenen metaphysisch-theologischen Reste getilgt, steht in den Lehrbüchern zu lesen. Es ist aber das Gegenteil richtig, wie sich zeigen wird.
Als Religionskritiker unterscheidet sich Marx von den anderen Junghegelianern dadurch, dass er die zurückgebliebenen deutschen Verhältnisse als Verursacher des religiösen Bewusstseins sieht. Die Religion ist ihm der „Seufzer der bedrängten Natur“ (7). Wo die Verhältnisse über das soziale Mittelalter hinweggegangen sind, wie in Frankreich, trockene die Religion förmlich aus. „Es ist eine merkwürdige Erscheinung, wie…die Irreligiosität des sich als Menschen empfindenden Menschen…in das französische Proletariat herabgestiegen ist“, schreibt Marx an Feuerbach (8).
Der Gott der Theologen, sei es der eine des Judentums, sei es der dreifaltige des Christentums, ist gar nicht Gegenstand dieser frühen Schriften. Thematisch ist das die Empörung niederhaltende, sedierende Moment der Religion. „Die sozialen Prinzipien des Christentums erklären alle Niederträchtigkeit der Unterdrücker gegen die Unterdrückten entweder für gerechte Strafe der Erbsünde und sonstigen Sünden oder für Prüfungen, die der Herr über die Erlösten nach seiner unendlichen Weisheit verhängt. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Feigheit, die Selbstverachtung, die Erniedrigung, die Unterwürfigkeit, die Demut, kurz alle Eigenschaften der Kanaille…“ (9)
Die kanonisch gewordenen Sätze der Marxschen Religionskritik („Sie ist das Opium des Volkes.“10) haben ihren Zeitkern. Aus der Agitationsliteratur des Vormärz machten die sozialdemokratischen Theoretiker der Zweiten und die der Kommunistischen Internationale eine materialistisch- atheistische Ontologie, und unvermögend waren sie beiden, den Historischen Materialismus auf sich selbst anzuwenden. Auch die berüchtigte Schrift Zur Judenfrage wurde kanonisiert, obwohl ihr Autor noch gar nicht auf der Höhe seiner eigenen Begriffe war. Darin identifizierte Marx das Judentum mit der Schacher genannten Sphäre der Zirkulation, die er kategorial noch so wenig erfasste wie die anderen Sphären des ökonomischen Systems. Bücher haben ihr Schicksal; diese Schrift wird einmal ihren Beitrag leisten, damit die KPD, mit der Begründung, sie sei keine Judenschutzpartei, der von den Nazis verfolgten Minderheit die Solidarität verweigert.
Marx ist es nicht um die Widerlegung theologischer Lehrsätze zu tun; diese Kritik überlässt er einem Junghegelianer wie Bruno Bauer. Er geht die institutionelle Religion in ihrer politischen Rolle als Schutzschild der deutschen Fürsten und des preußischen Königs an. Es geht ihm um den Subtext der von den Kirchen gepredigten Glaubenslehre. Diese boykottiere den Menschen als den Hersteller eines sinnvollen gesellschaftlichen Ganzen; denn werde Gott als der wahre Akteur in der Natur und der Geschichte ausgegeben, und käme der geschundene Gläubige erst nach dem Ende der Zeit zu seinem Recht, werde der seine Geschichte machende Mensch depotenziert. Er sei dann mit einer ganz überflüssigen Mündigkeit ausgestattet. Marx sieht die menschliche Gattung mit dem Werk der Erlösung alleine gelassen; das ist seine von Feuerbachs Religionskritik übernommene Anthropologie.
Das religiöse Bewusstsein klebt in einer kontemplativ-theoretischen Verehrung des Heiligen fest. Es muss sich davon frei machen und im politisch-praktischen Handeln sein irdisches Heil suchen. So lässt sich die Religionskritik in den frühen Schriften von Marx resümieren. In den späteren politischen Schriften und dem ökonomischen Hauptwerk spielt die Religionskritik nur noch eine marginale, sich in Fußnoten und Aperçus niederschlagende Rolle.
II
Die „praktisch-kritische Tätigkeit“ der ersten These über Feuerbach (11) übersetzt der Kritiker der politischen Ökonomie – ja, in was? In den Begriff der Arbeit, in den der Produktivkräfte? Und wo bleibt dann die kritische Tätigkeit? Als es einmal eine richtige Marxrezeption in Deutschland gab, lange ist es her, war eine ernsthafte Frage aufgeworfen. Ein Ergebnis der damaligen Debatte lautete, Marx verstehe seine ökonomische Analyse als Wissenschaft und unterliege damit einem positivistischen Selbstmissverständnis (12). Diese These blieb nicht unwidersprochen (13), und zu Recht. Denn Marx fasst die Wechselbeziehung zwischen äußerer Natur und menschlicher Arbeit als eine auf, in die beide geformt eingehen. Der Marxsche Begriff der „immanenten Form“ (14) ist eng verwandt mit dem Kantischen Begriff des Dings an sich und ganz unverträglich mit einer positivistischen Gesellschaftstheorie. Der Begriff hat gar eine theologische Implikation; Karl Heinz Haag hat dies gezeigt. Eine Reprise des alten Themas, nicht ohne Ironie: Mit der Religionskritik fängt die kritische Gesellschaftstheorie an, aber es geht mit ihr nur weiter, wenn sie das religiöse Erbe annimmt. Haag (15) setzt mit dem zwischen der Scholastik und dem Nominalismus verhandelten Streit um den Status der Universalien an und endigt mit Theologie. Die Natur ohne Gott zu denken, ist irrational; ihre vom Materialismus behauptete Selbstkonstitution ist widersinnig. So lautet das Fazit der Haagschen Metaphysik.
Was wird in diesem Universalienstreit verhandelt, und warum soll eine vor mehr als tausend Jahren geführte Debatte für die Gegenwart bedeutsam sein? Der Nominalismus behauptet, real gegeben seien nur die Einzeldinge. Diese singulären Dinge Allgemeinbegriffen zuzuordnen, sei eine gedankliche Operation des Vergleiche ziehenden Subjekts, der auf der Objektseite nichts entspreche. Das Allgemeine sei ein bloßes Wort, ein flatus vocis, nicht mehr. Den Hund gäbe es nicht, ein Begriff könne nicht bellen. Der Nominalismus antwortet auf diesen bis ins Spätmittelalter vorherrschenden Platonismus, der hinter der sinnlich wahrnehmbaren Welt die wahre, wesenhafte Sphäre sieht. Für die Scholastik ist das Singuläre ein bloßer Schatten des Allgemeinen. Sie lehrt einen Stufenbau immer allgemeiner werdender Wesenheiten. Auf der untersten Stufe stehe das sichtbare Ding. Dieses gründe in Arten, Arten gründeten in Gattungen, diese in höheren Gattungen. Ein Sein stehe in der Hierarchie umso höher, je weniger es teilbar ist. Demnach ist das Höchste das Unteilbare: reines Sein oder, theologisch gesprochen, Ich bin, der ich bin. (16)
Dieser Platonismus kann die Existenz des körperlich-materiellen Einzeldings aber nicht erklären. Worin besteht es, da sein materielles Substrat doch gleichsam nichts ist? Und für nichts muss die Materie gelten, steht sie doch in der größten Distanz zur höchsten Idee. Wie geht aus diesem Nichts dann aber das stoffliche Ding hervor? Der Spätplatonismus wird dieses Problem lösen wollen, indem er das Einzelding für die Idee der Einzelheit erklärt. Der Idealismus dieser Weltauffassung ist in der völligen Durchgeistigung der Welt total geworden.
Die nominalistische Gegenpartei, mittelalterliche Mönche wie ihre theologischen Widersacher auch, brachten den Mut der kritischen Einrede auf, und die geriet zur Grundsatzkritik (17). Den Platonikern hielten sie vor: Die von euch in den Himmel gehobene Idee eines Dings ist nichts als euere eigene, gedankliche, das Ding imitierende Abstraktion. Euere Begriffe sind vom Einzelding abgezogen, und ihr glaubt, mit jedem Abstraktionsgrad kämen diese Begriffe dem wahren Wesen näher. Den bellenden Hühnerhund unseres Klostergartens der Gattung Hund zuzuordnen und der spezifischen Art der Säugetiere, diese wiederrum der Gattung der lebendgebärenden Tiere, deren Urbild der Ideenhimmel aufbewahrt, ist ein bloß klassifikatorisches, aber keines, euch das Wesen dieses besonderen Tieres erschließendes Verfahren. Unser Bello ist einzigartig, wie alle Tiere, Pflanzen und Menschen einzigartig sind. Daher macht die Rede vom Wesen keinen Sinn.
Mit dieser behaupteten Wesenlosigkeit beginnt das moderne Denken. Die Bestimmung des Wesens durch die klassischen Schulen der Metaphysik ist gescheitert. Und zu Recht, so Haag. Zum Wesen der Objekte zu erklären, was sich abstrahierendem Denken des Subjekts verdankt, nennt er den Grundirrtum der alten Metaphysik. In der Philosophie geht es nach der Verabschiedung der sogenannten via antiqua auf der via moderna weiter, und man gelangt auf ihr bis zum nachmetaphysischen Denken der Gegenwart. Die Dingwelt der äußeren Natur gilt seither als bloß phänomenal, und adäquat erfasst sei sie durch Quantifizierung. Die natürlichen Dinge auf messbare Größen zu bringen, entsprach dem ökonomischen Kalkül. Da dem empirisch Erfahrbaren das Wesen abgesprochen war, da die Menschen, Tiere und Pflanzen als entkernt galten, war der Boden für die Ökonomie der grenzenlosen Ausbeutung bereitet.
Der nominalistischen Kritik des Wesensbegriffs kommt ein Recht zu, aber es ist nur ein partielles. In die aufgeblähten Begriffe stechen die Nominalisten wie mit spitzer Nadel hinein und bringen sie zum Platzen. Jedoch enthält ihre Annahme einen systematischen Widerspruch: Wie soll sie vereinbar sein mit der anderen großen Entdeckung der beginnenden Moderne, für die der Name Galileo steht? Gesetzmäßigkeit in der Natur zu erkennen und die Existenz nur solitärer stofflicher Dinge zu behaupten, das geht nicht zusammen. Die Nominalisten bestreiten die Realität des Allgemeinen; was aus diesem Dementi aber folgt, ist ein Chaos bloßer Einmaligkeiten. Dieses Chaos bringe erst das klassifizierende wissenschaftliche Denken nachträglich in eine begriffliche Ordnung. So dachte die fortgeschrittenste Denkschule des ausgehenden Mittelalters und so denkt der Hauptstrom der nachmetaphysischen Philosophien bis in die Gegenwart.
Um einen Zwischenstopp einzulegen und den Gegenstand dieses Traktats wieder in Erinnerung zu rufen: Es soll sich zeigen, dass es Metaphysik und gar Theologie braucht, um kritische Gesellschaftstheorie zu begründen. Karl Heinz Haag gelangt zu diesem Resultat durch eine Reflexion über den erkenntnistheoretischen Status der Naturwissenschaften und die Widersprüchlichkeit des Nominalismus. Wären die Gegenstände der Natur in ihrem prozesshaften Werden und Vergehen nur besondere, dann wäre Gesetzmäßigkeit gleichsam per definitionem ausgeschlossen. Da aber Naturgesetze empirisch vorfindlich sind, muss es Geordnetes in der Natur geben. (18) Zu dieser Ontologie ist die Natur aus sich selbst heraus nicht fähig; es bedarf dazu einer allmächtigen Vernunft, so Haag.
Seine Reflexion hebt wie Kants Kritiken mit der Erfahrung an. Ohne wahrzunehmenden Gegenstand bleiben unsere Begriffe leer, heißt es in der Kritik der reinen Vernunft (19). Haag reflektiert über die auf dem Experiment basierende Methodologie der Naturwissenschaften. Deren experimentell verifizierte Erfahrung dient der Formulierung von Naturgesetzen. Welchen ist der untersuchte Naturstoff unterworfen: das ist die wissenschaftliche Fragestellung. Der physikalisch zu untersuchende Stoff macht aber sofort metaphysische Mucken; denn er partizipiert an einem Allgemeinen, das gleichwohl nicht in Erscheinung tritt (20). Zur Erinnerung: Wäre jeder Naturstoff einzigartig, könnte der Forscher Gesetzmäßigkeit vergessen. Die Elemententafel des Chemikers wäre unmöglich, da ja jeder Naturstoff sein eigenes Element wäre. Das Entstehen von Organismen wäre unmöglich, verdanken diese sich doch den von den Gesetzen der Physik regierten chemischen Prozesse.
Wie kommt Haag nun aber auf die behauptete „allmächtige Vernunft“? Indem er den Nominalismus einem kantischen Kritikverfahren unterzieht. Diese Kritik führt uns im Übrigen in die Gegenwart moderner Gesellschaften; ist in diesen doch eine auf dem Nominalismus basierende, naturwissenschaftlich untermauerte und mit entsprechendem Pathos auftretende Zufallslehre vorherrschend. Demnach habe sich die Materie selbst organisiert. Die Naturprozesse seien blind, brächten aber einen geordneten Kosmos hervor. Das Zueinanderpassen der Naturstoffe und die Koordination der diese Stoffe regierenden Naturgesetze - die Genese belebter und unbelebter Natur also - habe sich zufällig ergeben.
Der postulierte Zufall folgt aus dem Fehlschluss, die Natur und die Menschen wären wesenlos. Haag dementiert natürlich nicht die der menschlichen Gattung und der äußeren Natur zukommende Naturgeschichte. Er zeigt aber die Grenze des wissenschaftlichen Erkenntnisvermögens auf. Zur Welterklärung taugt es nichts; in dieser Rolle erfährt es seine Enttäuschung. So ist der Sprung des anorganischen zum organischen Leben, der des materiell-stofflichen Seins zum Bewusstsein, nicht evolutionstheoretisch zu fassen, aller Analyse der Aminosäure und ihrer vielleicht noch nicht preisgegebenen Geheimnisse zum Trotz.
Die beginnende Neuzeit eignet sich den Nominalismus und den Atomismus der griechischen Philosophie an, die alt gewordene Neuzeit ersetzt solche Philosopheme durch die Atomphysik oder die Zellforschung. Der Gedanke hält sich durch, die Naturstoffe könnten sich ihre eigene Ordnung selbst geben. Wodurch soll dies möglich sein? Durch das Wirken der Naturgesetze? Aber die Wirkung eines Naturgesetzes ist ganz partiell; es klärt uns zum Beispiel über das in den roten Blutkörperchen gebundene Eisenion und dessen Affinität zum Sauerstoff auf. Die menschliches Leben ermöglichenden chemischen Interaktionen sind zahllos, aber die Koordination dieser Interaktionen unterliegt keinem den Organismus steuernden Übergesetz. Ein solches physikalisch zu fassendes wäre gefordert, sollte die materialistisch-naturwissenschaftliche Weltauffassung stimmig sein.
Die nach Naturgesetzen verlaufenden Prozesse sind mechanische Mittel, aber was diese Mittel zu einem Zweck organisiert, kann nicht wiederrum die Wirkung der Naturgesetze sein. Haag benutzt Kants Begriff und spricht von teleologischen Gesetzen, „die eine Betrachtung der Natur als Einheit motivieren.“ (21) Der auf ein Ziel, (Telos) verweisende Begriff der Teleologie macht die naturwissenschaftlich nicht fixierbare Schicht thematisch, ohne die Natur nicht rational zu denken ist.
Den teleologischen Gesetzesbegriff übernimmt Haag von Kant, aber dessen physikalischen Gesetzesbegriff kann er nicht übernehmen. Die Quelle der Naturgesetze verlegt Kant wie erwähnt in den Erkenntnisapparat eines überindividuell verstandenen Ichs (22). Dass wir die Naturphänomene als von Gesetzen regiert erfassen, würde demnach nicht in der Beschaffenheit der Naturstoffe gründen, sondern in der Beschaffenheit unseres transzendentalen Ichs. In ihm seien neben dem Raum und der Zeit auch die ewig gültigen Naturgesetze situiert, so Kant. Das sei ganz paradox, sagt Haag, denn damit platziere Kant die Naturgesetze, nach denen sich die Objekte unserer Erfahrung richten, aus dem vor aller Erfahrung liegenden transzendentalen Ich.
Dem transzendentale Ich weist Kant die Funktion zu, die ontologische Ordnung zu stiften, die der Nominalismus/Empirismus verworfen hat. Auch die gegenteilige Position erwägt Kant. Dann ist die Ontologie nicht vom Subjekt, sondern vom Objekt her zu verstehen. Und da Kant die materialistische Selbstorganisation der Natur als vernunftwidrig ansieht (23), bleibt als Alternative, die Natur in einem „übersinnlichen Realgrund“ (24) gegründet zu sehen. Nur aus einem solchen Realgrund lasse sich das Zusammenstimmen der mechanischen und der teleologischen Gesetze begreifen. Dieser Kant ist in die Lehrbücher nicht recht eingegangen, im Unterschied zu dem die Gottesbeweise verwerfenden ‚Alleszermalmer.‘
In der Geschichte der deutschen idealistischen Philosophie geht es mit Hegel weiter, und dieser hebt das transzendentale, weltschöpfende Ich, das Kant glaubt gefunden zu haben, in den Rang des absoluten Wissens. Im transzendentale Ich ist keimhaft der abgeschaffte Gott zu besichtigen, der dann Furore macht. Kant hat die Vorarbeit für die auf ihn folgenden Philosophien geleistet, die das Subjekt absolut setzen und den Schöpfergott entmachten. Seine Kritik der Gottesbeweise geht davon aus, die Naturgesetze seien auf der Seite des transzendentalen Ichs zu finden, ohne Bezug zur Welt des unerkennbaren Dings an sich. Der für Atheismus zeugende Ertrag dieses Arguments verliert durch Haags Reflexion massiv an Wert; denn der kann zeigen, dass die empirisch-experimentell verfahrenden Naturwissenschaften gar keine Gesetze finden könnten, wäre das Wesenhaft-Allgemeine nicht auf der Seite der gegenständlichen Welt situiert. Es ist die Bedingung der Möglichkeit von Naturgesetzen. Es ist vorfindlich, wiewohl empirisch-experimentell nicht fassbar; es ist, kantisch gesprochen, das „Intelligible“.
Kants Situierung der Naturgesetze im transzendentalen Subjekt ist widersinnig; die Naturgesetze wären ohne fundamentum in re, ohne Vermittlung mit den Naturobjekten. Im transzendentalen Ich sind die Spuren des empirischen Ichs genauso getilgt wie die Spuren der Naturgesetze im Verhalten realer Gegenstände. Diese Naturgegenstände können sich nicht selbst schaffen. Zu ihrer Genese ist eine allmächtige Vernunft vorausgesetzt, die für die nötigen stofflichen Substrate und passenden Gesetze sorgt. Haag begründet mit Kant und gegen Kant seine negative Metaphysik. „Wie das Gründen der Welt in göttlichem Geist zu denken sei, entzieht sich der Bestimmung durch menschliche Vernunft. Sie kann durch die Unmöglichkeit einer Selbstkonstitution der Natur einzig die Notwendigkeit einer allmächtigen denkenden Entität als Urgrund der Dinge dartun.“ (25)
Die Annahme einer allmächtigen Vernunft ist denknotwendig. Die gegenständlichen Naturdinge unterliegen einer objektiven Ordnung, die sie erkennbar und den Rekurs auf eine göttliche Intelligenz notwendig macht. Sie sind nicht singulär und chaotisch vorhanden, wie der Nominalismus behauptet. Denknotwendig ist die Entsprechung zweier Bestandteile, der einander ergänzenden materiellen Stoffe und der diese Stoffe regierenden Naturgesetze. Das diese Entsprechung garantierende göttliche Schaffensprinzip, der kosmische Bauplan, bleibt unbestimmbar; denn der menschliche Geist kann sich nicht zum absoluten Wissen erheben. Auch ist diese allmächtige Vernunft nicht in Analogie zur menschlichen Vernunft denken. Sie ist die gestaltende Form hinter den empirischen, sinnlich wahrnehmbaren Dingen. Damit gehört sie einer dem Menschen begrifflich nicht erfassbaren Dimension an. Die Welt ist also aus Gott nicht deduzierbar, aber wir müssen eine göttliche Weltursache denken. So lässt sich Haags Argumentation zusammenfassen.
(1) Karl Marx, Das Kapital, MEW 23, p. 621
(2) Es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott
angeordnet. Römer 13.1
(3) Claussen, Detlev, Grenzen der Aufklärung, Zur gesellschaftlichen Geschichte
des modernen Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1987, p. 104
(4) Wo die unveräußerlichen Bürgerrechte auch nicht für alle galten. Napoleons
Décret Infâme von 1808 widerrief das Gleichheitsversprechen der Französischen
Revolution für die französischen Juden. Worauf Claussen in dem genannten
Buch hinweist.
(5) Hegel, G.W.F., Die Positivität der christlichen Religion, in: Werke in zwanzig
Bänden, Frankfurt a. M. 1971, Bd. 1, p.209
(6) Marx, Karl, Luther als Schiedsrichter zwischen Strauß und Feuerbach, MEW 1
p. 27
(7) Marx, Karl, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1,
p. 378
(8) Zit. nach Schmidt, Alfred, Emanzipatorische Sinnlichkeit, Ludwig Feuerbachs
anthropologischer Materialismus, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1973, p. 140
(9) MEW 4, p. 200
(10)MEW 1, p. 378
(11 MEW 3, p. 5
(12)Vgl. Wellmer, Albrecht, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Frankfurt
am Main, 1969
(13)Z. B. von Negt, Oskar, Marxismus als Legitimationswissenschaft, in: Nikolai
Bucharin, Abram Deborin. Kontroversen über dialektischen und mechanischen
Materialismus, Frankfurt am Main, 1969
(14)Marx, Karl, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974, p.265
(15)Haag, Karl Heinz, Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt a. M. 1983 und,
derselbe, Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung, Frankfurt a. M.
2005
(16)Moses, zweites Buch Exodus, 3.14
(17)Wer nachlesen will, wie sich der Konflikt zwischen Papsttum, Territorialfürsten
und aufstrebendem Bürgertum in eine theologische Debatte verwandelte, lese
die wunderbare Studie von Mensching, Günther, Das Allgemeine und das
Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart 1992
(18)Kant will die Allgemeingültigkeit der Naturgesetze gegen den Nominalismus
retten, aber das von ihm eingeführte transzendentale Ich, das der Natur die
Gesetze vorschreibt, unterwirft „die Natur der philosophierenden Abstraktion“
und führt wieder auf die via antiqua zurück, so Haag, Fortschritt, p. 79
(19)Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft B 75: „Gedanken ohne Inhalt sind leer,
Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“
(20)„Zwar wollen die physikalischen Wissenschaften keine Philosophie sein – aber
sie sind auf ein philosophisches Denken aufgespannt. Durch ihre Voraussetzung
einer von sich aus erkennbaren Natur ist es ein metaphysisches Denken, das sie
implizieren, keine nominalistische Weltauffassung.“ Haag, Metaphysik, p. 100
(21)Fortschritt, p. 70
(22)Adorno reagiert mit dem Begriff des Nichtidentischen auf die übergriffige
kantische Position und nennt sie „die zum reinen Prinzip erhobene Herrschaft.“
Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1970, p.246
(23)Vgl. Kant, KdU, zitiert nach Fortschritt p. 71
(24)Kant, KdU, zitiert nach Fortschritt p. 72
(25)Fortschritt, p. 72
Erstellungsdatum: 25.08.2025