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Politik und Religion (I)

Bedrängte Natur, beschränkte Religionskritik

Peter Kern


Bewölktes All. Foto: Bernd Leukert

Der mittelalterliche Theologe und Philosoph Jean Roscelin bestand auf dem kategorialen Unterschied zwischen dem Allgemeinen und dem Konkreten, zwischen dem Unwirklichen und dem Wirklichen, zwischen Physik und Metaphysik. Das widersprach kirchlichen Dogmen und ist, wie wir heute wissen, Ausgangspunkt des säkulären Staates. Auch im 21. Jahrhundert ist der Universalienstreit noch nicht beendet. Peter Kern sieht in seinem mehrteiligen Traktat Rationalität und Metaphysik untrennbar vereint. Hier ist der erste Teil.

 

I

An der Religionskritik hat sich die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft einmal ein Vorbild genommen. Was dem religiösen Bewusstsein als Gott erscheint, dechiffrierte sie als Entäußerung der menschlichen Gattungskräfte, und als eine ebensolche Entäußerung galt ihr das zwischen Waren- und Geldform prozessierende Kapital. Die unaufgeklärte Menschheit als Fetischdiener: Aus Feuerbachs Lehre geht die Marxsche Entschlüsselung der in der Warengesellschaft geltenden Kategorien hervor. „Akkumuliert, Akkumuliert!“, lautet der zentrale Glaubensartikel der neuen Religion. „Das ist Moses und die Propheten!“ (1)

Dieser Glaubensartikel hat die menschliche Gattung in einen bald ausweglos erscheinenden Strudel gerissen. Denn dem Akkumulationsprinzip ist keine Schranke gesetzt; Maßlosigkeit ist sein Wesen. Es ist der Raubbau an der Natur, der wachsenden Teilen der Menschheit die Mittel ihrer Subsistenz entzieht und sie in der Migration ihr Heil suchen lässt. Mit gesetzlichen Regularien versucht eine in Ost und West, Nord und Süd tief gespaltene Weltgesellschaft dem globalen Wirtschaftssystem Regeln vorzugeben, die den Klimakollaps verhindern sollen. Den Ausstoß von CO2-Gasen mit einem Preismechanismus einzudämmen, das Ende der Kohleförderung und der Verbrenner-Technologie mit einem Datum festzulegen, kein weiteres Anwachsen des radioaktiven Mülls zu erlauben, sind dringend nötige politische Interventionen, denen jedoch die Durchschlagskraft fehlt, da sie schon im europäischen Wirtschaftsraum schwer durchzusetzen sind, geschweige denn im Weltmaßstab.

Der von immer wiederkehrenden Krisen und Ausfallerscheinungen der Natur gekennzeichnete Akkumulationsprozess traf seit seinen Anfängen auf entschiedene Ablehnung. Diese war zunächst im ambivalenten, romantischen Tonfall vorgetragen. Der von der Industrie geschändeten Natur sollte ihr Recht zukommen, genauso wie der wankenden Herrschaft des Adels. Der Unterwürfigkeit predigenden Religion war die Rolle zugedacht, die alte Obrigkeit abzusegnen. Dieser Aufgabe kamen die christlichen Kirchen gerne nach, war es doch ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Das christliche Bekenntnis als Bedingung für Bürgerrechte – das schloss das lästige Judentum als Konkurrenz aus. Es war die Servilität vor allem des Protestantismus, womit dieser sich nach Napoleons Niederlage den Hass der Junghegelianer zuzog.

 

 

(1)  Karl Marx, Das Kapital, MEW 23, p. 621
(2)  Es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott
      angeordnet. Römer 13.1
(3)  Claussen, Detlev, Grenzen der Aufklärung, Zur gesellschaftlichen Geschichte
      des modernen Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1987, p. 104
(4)  Wo die unveräußerlichen Bürgerrechte auch nicht für alle galten. Napoleons
      Décret Infâme von 1808 widerrief das Gleichheitsversprechen der Französischen
      Revolution für die französischen Juden. Worauf Claussen in dem genannten
      Buch hinweist.
(5)  Hegel, G.W.F., Die Positivität der christlichen Religion, in: Werke in zwanzig
      Bänden, Frankfurt a. M. 1971, Bd. 1, p.209
(6)  Marx, Karl, Luther als Schiedsrichter zwischen Strauß und Feuerbach, MEW 1
       p. 27
(7)  Marx, Karl, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1,
       p. 378
(8)  Zit. nach Schmidt, Alfred, Emanzipatorische Sinnlichkeit, Ludwig Feuerbachs
      anthropologischer Materialismus, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1973, p. 140
(9)  MEW 4, p. 200
(10)MEW 1, p. 378
(11 MEW 3, p. 5
(12)Vgl. Wellmer, Albrecht, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Frankfurt
       am Main, 1969
(13)Z. B. von Negt, Oskar, Marxismus als Legitimationswissenschaft, in: Nikolai
       Bucharin, Abram Deborin. Kontroversen über dialektischen und mechanischen
       Materialismus, Frankfurt am Main, 1969
(14)Marx, Karl, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974, p.265
(15)Haag, Karl Heinz, Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt a. M. 1983 und,
      derselbe, Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung, Frankfurt a. M.
      2005
(16)Moses, zweites Buch Exodus, 3.14
(17)Wer nachlesen will, wie sich der Konflikt zwischen Papsttum, Territorialfürsten
       und aufstrebendem Bürgertum in eine theologische Debatte verwandelte, lese
       die wunderbare Studie von Mensching, Günther, Das Allgemeine und das
       Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart 1992
(18)Kant will die Allgemeingültigkeit der Naturgesetze gegen den Nominalismus
       retten, aber das von ihm eingeführte transzendentale Ich, das der Natur die
       Gesetze vorschreibt, unterwirft „die Natur der philosophierenden Abstraktion“
       und führt wieder auf die via antiqua zurück, so Haag, Fortschritt, p. 79
(19)Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft B 75: „Gedanken ohne Inhalt sind leer,
      Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“
(20)„Zwar wollen die physikalischen Wissenschaften keine Philosophie sein – aber
       sie sind auf ein philosophisches Denken aufgespannt. Durch ihre Voraussetzung
       einer von sich aus erkennbaren Natur ist es ein metaphysisches Denken, das sie
       implizieren, keine nominalistische Weltauffassung.“ Haag, Metaphysik, p. 100
(21)Fortschritt, p. 70
(22)Adorno reagiert mit dem Begriff des Nichtidentischen auf die übergriffige
       kantische Position und nennt sie „die zum reinen Prinzip erhobene Herrschaft.“ 
       Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1970, p.246
(23)Vgl. Kant, KdU, zitiert nach Fortschritt p. 71
(24)Kant, KdU, zitiert nach Fortschritt p. 72
(25)Fortschritt, p. 72 

 

 

 

Erstellungsdatum: 25.08.2025