Es soll Übersetzer geben, die Autoren erst das mitgeben, wofür sie bekannt sind. Das mag nicht überraschen, wenn es um die Übertragung von lyrischen Texten geht, die Mehrdeutigkeit und Hintersinnigkeit mit sich führen. Handelt es sich aber um Wissenschaftsprosa, dann ist eine solche Leistung umso staunenswerter. Wem in diesem Zusammenhang der Name Bernd Schwibs einfällt, der hat vermutlich dessen deutsche Versionen wichtiger Werke neuerer französischer Philosophie gelesen. Ulrich Breth gibt anlässlich Schwibs‘ 80. Geburtstag Auskunft über Werdegang und Arbeit des beeindruckenden Gedankenvermittlers.
Wenn er über seinen Werdegang spricht, vergisst der 1945 in Chemnitz geborene Bernd Schwibs selten zu erwähnen, dass er anderthalb Jahre seiner Kindheit in Brasilien verbracht hat. Während sich das „Wunder von Bern“ ereignete, weilte er in dem Land, dessen Seleção vier Jahre später mit der Spielkunst von Garrincha, Didi, Vava und Pelé für einen Augenblick die Welt verzaubern sollte. Die Samba-Note, die sein Leben hierdurch erhielt, ist nicht nur ein erster Hinweis auf den Fußballer und Tennisspieler, der sich seine sportliche Figur und seine jugendliche Erscheinung bis heute bewahrt hat. Eher schon ein Kontrapunkt zum Fritz Walter-Wetter der jungen Bundesrepublik, dem Biedersinn der Adenauer-Ära, der Vorstellung von einer gesetzten Existenz in einer Lebensstellung, die ihm vorbestimmt schien, weil es sich seine Mutter, der er lebenslang eng verbunden blieb, für ihn gewünscht hatte. Schon bald nach seinem Umzug nach Frankfurt am Main 1956 hat er alles dafür getan, diesem Lebensplan zu entkommen.
Seine Liebe zu Frankreich, zur französischen Sprache und Literatur, die in ihm bereits als Schüler erwachte, das Interesse für den Surrealismus, Existentialismus und die Frankfurter Jazz-Szene, das vom Freundeskreis an der Ziehen-Schule und anderen Frankfurter Gymnasien geteilt und befeuert wurde, und die beginnende Politisierung, die ihn mit dem Beginn des Studiums an der Frankfurter Goethe-Universität in den SDS eintreten ließ, formten sich zum persönlichen Habitus eines nonkonformistischen Intellektuellen, allerdings abseits vom Dunstkreis der Frankfurter Schule, die diesen Typus längst selbst zu einer Norm erhoben hatte. So wandte er sich, nachdem er als Student der Soziologie und Philosophie zunächst bei Adorno und Habermas gehört hatte, dem französischen Strukturalismus zu und schrieb seine Diplomarbeit über Claude Lévi-Strauss.
Die geistige Nähe der französischen Metropole, in seinen eigenen Worten, „das mehr oder minder geheime, machtvolle Fadenkreuz allen Begehrens, Sinnbild oder Fluchtpunkt einer imaginären und melancholisch-sehnsüchtig besetzten Existenzform mehr denn realer Ort“ übte eine Faszination auf ihn aus, der er sich nicht entziehen mochte. So zog es ihn von 1977 bis 1988 nach Paris, wobei die Bindung zu den Freunden und Kollegen in Deutschland bestehen blieb. Er unterrichtete zunächst als Deutschlehrer am Institut nationale agronomique, dann als DAAD-Lektor deutsche Sprache und Literatur, gehörte zum Umkreis von Pierre Bourdieu an der Elite-Hochschule École des hautes étude en sciences sociales (EHESS), auf dessen Empfehlung hin Clemens Heller ihn 1981 an seine Maison des Sciences de l'Homme holte. In seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in den beiden eng miteinander vernetzten Institutionen gestaltete er maßgeblich die Zusammenarbeit von deutschen und französischen Geistes- und Sozialwissenschaftlern. 1988 kehrte er nach Frankfurt am Main zurück, arbeitete zunächst als freier, dann ab 1989 als festangestellter Lektor bei Suhrkamp, wo er bis 1996 beschäftigt war. Zwei Jahre später übernahm er die Redaktionsleitung der vom Klett-Cotta Verlag herausgegebenen renommierten Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen PSYCHE.
Übersetzer, so sagt er, sei er nebenbei gewesen, weil ihm das Übersetzen Freude bereitete. Eine Feststellung, die nicht nur durch die beeindruckende Liste seiner Übersetzungen widerlegt wird, denn bereits bevor er seiner Tätigkeit in den genannten Bildungsinstitutionen und Verlagshäusern nachging, ist er Übersetzer gewesen.
Zunächst als Übersetzer eines Aufsatzes für die Frankfurter Studentenzeitung DISKUS, in der manch bedeutender Autor seine literarische Karriere begonnen hat, dann im Rahmen eines Übersetzerkollektivs, das den Band „Die neue Arbeiterklasse“ von Serge Mallet ins Deutsche übertrug, der 1972 in der Sammlung Luchterhand erschienen ist, und schließlich als Übersetzer des „Anti-Ödipus“ von Gilles Deleuze und Felix Guattari für den Suhrkamp Verlag.
Mit diesem großen Wurf schuf er den „Deleuze sound“, der, wie Ulrich Raulff in seiner Laudatio auf den Wilhelm Merton-Preisträger des Jahres 2004 gezeigt hat, in Wahrheit der „Schwibs sound“ war, der eine Lesergeneration nicht mehr loslassen sollte. Obwohl er seit 1976 vor allem als der Übersetzer in Erscheinung getreten ist, der Pierre Bourdieu seine Stimme im deutschsprachigen Raum gegeben hat, ist er für viele der Übersetzer geblieben, der dem konvulsivischen Dialog der beiden Autoren des „Anti-Ödipus“ den ihm gebührenden Resonanzraum geschaffen hat. Ab 1996 kamen zu den Texten der zeitgenössischen französischen Theorie, die er übersetzte, literarische Texte hinzu, unter anderem die des belgischen Schriftstellers, Regisseurs und Fotografen Jean-Philippe Toussaint. Von den übrigen literarischen Übersetzungen besitzt seine Neu-Übersetzung von André Bretons „Nadja“, die 2011 im Suhrkamp Verlag erschienen ist, insofern besondere Bedeutung, als er in ihr seiner tiefen Prägung durch den französischen Surrealismus seine Reverenz erweisen konnte.
Im Gespräch bezeichnet er wichtige Wendepunkte seiner intellektuellen Biografie als Glücksmomente, in denen ihm nicht selten im surrealistischen Sinne „objektive Zufälle“ zur Seite gestanden hätten. Er vergisst auch nicht zu erwähnen, wie viel er Pierre Bourdieu und Clemens Heller in Paris, Karl Markus Michel und Elisabeth Borchers in Frankfurt und Freunden wie Claus Carlé zu verdanken hat oder Achim Russer, zugleich Freund und Kollege, mit dem er gemeinsam einige Bourdieu-Titel übertragen hat.
Sieht man sich die Liste der mehr als 100 Bücher, Artikel, Aufsätze und Gedichte an, die der 1999 vom französischen Kultusministerium mit dem Orden des „Chevalier de l'ordre des Arts et des Lettres“ zum Ritter der Künste und Literatur geschlagene Bernd Schwibs übersetzt hat oder an denen er als Übersetzer beteiligt gewesen ist, fällt auf, dass er sich bei seinen völlig unterschiedlichen Zugriffen auf die Literatur und Theorie die durch den Essay von Roland Barthes redensartlich gemachte „Lust am Text“ erhalten, allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Übersetzern ein eingreifendes Denken praktiziert hat, das die kontemplative Tätigkeit des Übersetzens immer wieder in die Nähe der Aktion gerückt hat. Er selbst sieht sich, und ein Blick auf die Mehrheit der von ihm übersetzten Texte gibt ihm dabei recht, eher als Übersetzer wissenschaftlicher Prosa denn schöngeistiger Literatur, der sich allerdings von keiner Theorie und keinem Denker, dem er seine Stimme geliehen hat, vereinnahmen ließ. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass Schwibs, der immer wieder mit seinen Meriten als Bourdieu-Übersetzer in Verbindung gebracht wird, in seinen jüngsten Arbeiten als Übersetzer zu seinen Anfängen, dem nomadischen Denken von Gilles Deleuze, zurückgekehrt ist.
Im Unterschied zu Bourdieu, mit dem er im engen Austausch stand, ist er Deleuze ein einziges Mal begegnet, als er ihn 1973 in Vincennes aufsuchte, um ihn wegen Fragen zu einigen Stellen seiner Übersetzung des Bandes „Nietzsche und die Philosophie“ zu konsultieren. Der Philosoph nahm ihn mit in sein Seminar und beschied ihm im Gespräch hinterher, er möge die strittigen Fragen selbst entscheiden. Die Anekdote berührt einen Sachverhalt, den Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ thematisiert hat. Mehr als dem Original, aus dem er übersetzt, heißt es dort, sei der Übersetzer der unerreichbaren Idee der „reinen Sprache“ verpflichtet, in der alle Sprachen konvergieren, nämlich, dass sie „einander nicht fremd, sondern a priori und von allen historischen Beziehungen abgesehen einander in dem verwandt sind, was sie sagen wollen.“ Der Gelassenheit, die Deleuze im Blick auf die Übersetzung seiner Texte an den Tag legt, entspricht der Gedanke Benjamins, dass ein Werk, je höher es geartet ist, „selbst in flüchtigster Berührung seines Sinnes noch übersetzbar“ bleibt. Die Freiheit, die dem Übersetzer hierdurch entsteht, ist für Benjamin an die Vorstellung gebunden, gleichwohl dem Wort stets die Treue zu halten, die ihn im Richtungsstreit zwischen interlinearer und bedeutungsäquivalenter Übersetzung für die Interlinearübersetzung eintreten lässt, nicht zuletzt, weil in ihr die Fremdheit des Originals erhalten bleibt und sich zugleich die Sprache, in die übersetzt wird, erweitert.
Der bereits erwähnte Laudator Ulrich Raulff hat das, wovon hier die Rede ist, sowohl im Hinblick auf das Autorenduo Deleuze und Guattari als auch darauf, was Bernd Schwibs in allen seinen Übersetzungen getan hat, mit der Idee der Freundschaft in Verbindung gebracht. Was die Strukturalisten und Poststrukturalisten einte, war der Wunsch nach einer die Trennungslinien der Disziplinen überwindenden „lebenden“ Philosophie, nach einer „Politik der Freundschaft“, der einem Buch von Jacques Derrida den Titel gab und an dem sich Schwibs' Freude am Übersetzen immer wieder entzünden konnte. Einer Freundschaft, die er in zahlreichen übersetzerischen Koproduktionen mit Achim Russer, Hella Beister, Joseph Vogl, Horst Brühmann und anderen, zuletzt als einer der Übersetzer der Zeitschrift „Die sürrealistische Revolution“, ebenso gepflegt hat wie im Umgang mit Freunden, Lektoren und Übersetzerkollegen. Einer Freundschaft schließlich, die in der nächtelangen Arbeit als Freund des Textes in seinen Übersetzungen zum Ausdruck kommt.
Am 22. September 2025 begeht Bernd Schwibs seinen 80. Geburtstag: Ein wie kaum ein anderer zur Freundschaft begabter Mensch, ein Liebender auch, der aufgrund seiner Neigung zur Melancholie den letzten Satz aus Becketts „Premier Amour“ verinnerlicht hat: „Mais l'amour, cela ne se commande pas.“
Erstellungsdatum: 17.09.2025