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In einer Erstaufführung ist in Frankfurt die Oper „Punch and Judy“ vom Briten Harrison Birtwistle zu sehen. Ein Stück modernen, unkonventionellen Musiktheaters, das in der großartigen Inszenierung von Wolfgang Nägele eine skurrile Komik entfacht, die einerseits nichts für schwache Nerven und andererseits von überbordendem Humor ist. Ein Gesamtkunstwerk im besten Sinne des Wortes, meint Andrea Richter, die sich bei der Premiere im Bockenheimer Depot königinnenlich amüsiert hat.
Die Vorbereitung auf dieses Stück Musiktheater war ziemlich schwer: Ein mir bis dato unbekannter Komponist und seine mir ebenso unbekannte erste Oper (wie auch alle seine weiteren). Und zu allem Überfluss beim ersten Hinhören eine Musik, die mich nach zehn Minuten völlig überforderte. Aus Erfahrung wissend, dass es manchmal dauert, bis ich eine ungewohnte Klangsprache akzeptieren kann, also alles noch einmal von vorne (Youtube sei Dank!). Zweite Etappe: zwanzig Minuten und das Wiedererkennen von Wiederholungs- und Rhythmus-Clustern. Aha, da gibt es Lyrisches zwischen Derbem, dissonantes Getöse und choralartige Stimmen. Aber es bleibt dabei: Schön oder wenigstens verständlich geht anders. Pause. Erst einmal etwas darüber lesen, vielleicht hilft das.
Der Komponist: Der Brite Harrison Paul Birtwistle, der als einer der maßgeblichen modernen Komponisten des Königreichs gilt. Er war außer Tonsetzer Mitbegründer des neuen Royal National Theatres in London und bekleidete den Lehrstuhl Henry Purcell Professor for Composition am King’s College London. Er scherte sich bei seiner Kompositionsarbeit nicht um die Dogmen der modernen Musik, die in Darmstadt und Donaueschingen aufgestellt worden waren und schloss sich insgesamt keiner „Schule“ an. Kurz: er machte sein eigenes Ding. Berühmt wurde er dem breiten Publikum mit einem Schlag, als 1995 bei der „Last Night of the Proms“ ein neues Stück von ihm in der Royal Albert Hall erklang. Der Titel: „Panic“. Die englischen Fernsehzuschauer waren dermaßen entsetzt, dass sie zu Tausenden die Telefonzentrale der BBC blockierten und die „Daily Mail“ schimpfte über die „schreckliche Kakofonie“.

Kein geringerer als Benjamin Britten hatte nach der Uraufführung von „Punch and Judy“ 1968 beim Aldeburgh Festival ähnlich reagiert: er war entsetzt. "Zeitgleich zu dieser Uraufführung wurden nebenan andere Opern aufgeführt. Und es wirkte sehr seltsam auf mich, dass dieser junge Komponist nicht hinging und schaute, wie Mozart seine Probleme löste. Wenn er von hier nach Newmarket fahren wollte, würde er doch auch eine Landkarte konsultieren. Warum konsultiert er dann keine Landkarte, die ihm zeigt, wie man eine Oper schreibt?" Dabei hatte er selbst den jungen Komponisten für dieses Auftragswerk vorgeschlagen, weil er „… mehr zu sagen hat als seine gleichaltrigen Komponisten-Kollegen. Ich bin sicher, er wird etwas Auffälliges und Provokantes, aber dennoch Ernsthaftes und Aufrichtiges hervorbringen". Auffällig und provokant? Allerdings!!
Das Ganze fängt schon bei der Auswahl des Stoffes an: Kasperle-Theater à l`anglais. Und zwar nicht solches, wie wir es auf dem Kontinent kennen, wo Kasperle (Punch) kindgerecht bestenfalls mal in eine harmlose Prügelei mit dem Dorfpolizisten oder Räuber gerät, um die Prinzessin zu retten. Insgesamt ist er aber ein wirklich netter Kerl. In den Punch-and-Judy-Shows auf der Insel, so lese ich, ist es üblich, dass unter grölendem Gelächter von Alt und Jung der Punch gleich zu Beginn der Vorstellung in Slapstick-Manier ein Baby tötet. Das finden anscheinend alle lustig. Eben englischer Humor, böse, sarkastisch und für eine Kontinentlerin oft nicht nachvollziehbar. Im Opern-Libretto von Stephen Pruslin ist der Punch ein wahrhaftiger Serienkiller. Nach dem Baby müssen seine Frau Judy und weitere Gestalten in einer völlig abstrusen Aneinanderreihung von irren Mordgeschichten ihr Leben lassen. Echt keine Lust, mir das anzutun. Absagen?? Nein, doch, nein, weil die Oper Frankfurt nach aller Erfahrung dem Publikum keinen Trash vorsetzt. Also mit ein paar Kilo Widerwillen im Rucksack hin. Der Blick auf die offene Bühne verheißt auch nichts Aufmunterndes: Vor einem heruntergekommenen Vorhang mit der Aufschrift: „Thank you visit again soon“ ein kleiner Platz, auf dem es offenbar zuvor gebrannt haben muss, denn alles scheint verkohlt zu sein, so auch das Kassenhaus und die Bühnen-Zuschauer-Tribüne an der Seite, auf der billige, schmutzig-weiße Plastikstühle auf Besucher warten, OMG, Tristesse total. Die Laune sinkt weiter. Meine Nachbarin, die sich als Fachfrau entpuppt, beruhigt, es sei ein tolles Stück. Nun denn.

Ein schwarz gekleideter Mann, der Spielleiter Choregos (Liviu Holender, Bariton) tritt auf den Platz, öffnet die Rollos des Kassenhäuschen. Trompetenfanfaren, krachende Becken, Geklingel, Gepfeife, Jahrmarkt-Getöse, „… nichts als Verlassenheit, Schrecken und Angst erwartet euch…, lasst die Tragödie beginnen…“, kündigt er an, zieht den Vorhang ein Stück weit auf und gibt den Blick auf einen Guckkasten ziemlich weit oben frei. Die Zuschauerin findet sich urplötzlich in der Perspektive eines Kindes wieder, das Kasperle-Theater erlebt. Und da ist er, der Punch (Jarrett Porter, Bariton): In grünem Plastik-Kostüm mit blonden Plastik-Haaren im grell erleuchteten, weiß gekachelten Raum, in ihm außerdem ein Tisch, darauf etwas, was von einem rot-weiß karierten Tuch verdeckt wird. Punch bewegt sich merkwürdig, wie eine Handpuppe, hat eine Baby-Puppe im Arm, tanzt mit ihr im langsamen 4/4 Takt herum und fragt: „Was wird Papa jetzt tun?“ Die vermeintliche Zärtlichkeit verwandelt sich schnell in grausame Misshandlung zu immer schriller werdenden Tönen aus dem Orchester. Punch zieht das Tuch weg und da steht ein riesiger Fleischwolf, in den er das Baby steckt, die Kurbel dreht und sich über die herauskommenden Würste freut. Kaum ist der erste Mord vollendet, gibt der Vorhang den Blick auf einen weiteren Guckkasten frei: vor blauem Himmel mit lichten weißen Wölkchen singt Judy (Cecilia Hall, Sopran) ihrem Kind ein Wiegenlied. Auch sie ganz Hand-Puppe mit blauem Plastik-Kleid und blonder Perücke. Währenddessen nimmt sie zwei weitere, schlaff an Haken hängende Spiel-Puppen, den Anwalt und den Doktor (Sven Hjörleifsson, Tenor, und Alfred Reiter, Bass) ab. Punch serviert ihr auf einem feinen Silberteller Würste. Schnell versteht sie, aus wessen Fleisch sie gemacht wurden, es kommt zum Streit, Punch sticht auf sie ein. Choregos erklärt, dass Judy nun eine Transformation durchmachen wird. Judy wird in den vierten (der dritte bleibt verhängt) Guckkasten, eine Art goldene Kapelle gebracht, wo ein merkwürdiges, musikalisch mittelalterlich anmutendes Ritual mit einem Choral und einem anrührenden Todesduett vollzogen wird. Dann landet die tote Judy am Puppen-Haken im Himmels-Raum. In einem fröhlich-spritzigen Staccato-Tanz-Dialog zwischen Punch und der Klarinette (dem ihm zugeordneten Instrument) stellt Punch fest, dass sie nun ausgedient hat. Diese musikalische Episode wird von jetzt an immer wieder auftauchen, wenn Punch eine Untat begangen hat. Choregos stimmt einen feierlichen Gesang an: „Schwebend zwischen Himmel und Erde reist Punch…“. Auch das wird am Ende eines jeden der vier Handlungsabschnitte wiederholt. Launen-Zwischenstand: deutlich gehoben. Ich sitze da wie ein staunendes Kind und warte gespannt auf die Fortsetzung.

Punch reist also gen Osten zu seiner Geliebten Pretty Polly, während seine Kumpanen und Choregos sich als Kommentatoren betätigen. An dieser Stelle köstlich: Birtwistles lyrische Neuinterpretation von Mozarts hinreißendem Terzett „Soave sia il vento“ (Mögen die Winde sanft wehen…) aus „Così fan tutte“. Das begehrte Weib lebt hinter dem bisher geschlossenen vierten Guckkasten in einem Traum aus Plastik-Pink: Die gepolsterten Wände, ihr Kleid, ihre riesige Schleife auf dem Kopf mit langem, blonden Haar. Kitschiger geht es nicht. Eine lächelnde Barbie ((Danae Kontora, Sopran), die mit einer riesigen Gartenschere eine kleinere Barbie zerschneidet. Und da Birtwistle schon mal bei Mozart ist, wird Pretty Polly mit hohen Koloraturen und schrillen Höchst-Tönen in Annäherung an die Königin der Nacht ausgestattet. Trotz Serenade und Blume, kann Punch aber nicht bei ihr landen. Er ist traurig und sauer. Die Kommentatoren singen von der „Süße des Augenblicks“, noch so ein Baustein, der sich regelmäßig wiederholt, bevor ein Verbrechen geschieht. Denn als der Doktor und der Anwalt Punch wegen seiner Verbrechen anklagen, rammt er ihnen kurzerhand Spritzen ins Herz. Dazu jault eine Geige ganz fürchterlich. Kaum geschehen, hängen die Beiden bald an den Haken neben Judy und Punch tanzt zur Klarinette seinen Staccato-Tanz „Roll, toll …“. Punch blitzt ein weiteres Mal bei Pink-Plastik-Polly ab und es wird immer skurriler.
Die Puppentruppe steigt hinab auf den Vorplatz und die Grenzen zwischen Realität und Irrealität verwischen zunehmend. Punch erscheinen unter anderem in einem wilden Alptraum eine Hexe und eine Wahrsagerin mit Tarot-Karten: Tod, Tod. Grusel, Grusel. Wahnsinnig komisch und Jarrett Porter auch schauspielerisch umwerfend, als er versucht Choregos mit einem Bass-Bogen zu erwürgen. „Auf Glissandi fließende Blutströme…“, heißt es. Alles geht drüber und drunter, der Text ergibt überhaupt keinen Sinn mehr, Dadaismus pur. Dazu pausenlos wechselnde Musik-Cluster. Choregos (immerhin der Spielleiter des Ganzen!) bestimmt, dass Punch für seine Untaten gehängt werden soll und hängt dann selbst am Seil. Launen-Zwischenstand: Auf einer Skala von 1-10: Neun. Und als dann die Puppen wieder in ihre Umgebung zurückkehren können, weil Pretty Polly, jetzt in weißem Hochzeits-Plastik, bereit ist, Punch zu erhören, die Beiden um den Fleischwolf einen Hochzeitswalzer tanzen, sie ein herrliches Liebesduett singen und es heißt: „Mann und Weib und Weib und Mann“ (Zauberflöte), explodiere ich endgültig vor Lachen: Zwölf auf der Launen-Skala, die eigentlich nur bis zur Zehn reicht. Alden Gatt, zusammen mit dem Orchester, gelingt es superb aus vielen, vermeintlich unzusammenhängenden musikalischen Einzelteilen ein kohärentes Ganzes zu formen und den bissigen Zauber der Geschichte in seiner ganzen Fülle zum Leben zu erwecken. Der sich durch die brillante Regiearbeit von Wolfgang Nägele und seinem Team in jedem Moment zu wahren Höhenflügen aufschwang. Einerseits transportierte er mit unglaublichem Witz, andererseits mit ebensolchem Tiefgang den Jahrmarkt des Lebens auf die Bühne und legte alles so an, dass die Künstler:innen zu sängerischen und schauspielerischen Höchstleistungen aufliefen.
Ein Hoch auf alle Mitwirkenden (und sogar den britischen Humor): „Punch and Judy“ ist die irrste, skurrilste und witzigste Serienmord-Geschichte im Opern-Genre, die ich je gesehen habe. Nichts wie hin!

Foto: Monika Rittershaus
Punch and Judy
Oper in einem Akt
Musik: Harrison Birtwistle 1934–2022
Text: Stephen Pruslin
Uraufführung 1968, Jubilee Hall, Aldeburgh (Suffolk)
Musikalische Leitung
Alden Gatt
Inszenierung
Wolfgang Nägele
Bühnenbild
Thilo Ullrich
Kostüme
Marlen Duken
Licht
Joachim Klein
Dramaturgie
Deborah Einspieler
Punch
Jarrett Porter
Judy / Fortune-Teller
Cecelia Hall
Choregos / Jack Ketch
Liviu Holender
Pretty Polly / Witch
Danae Kontora
Lawyer
Sven Hjörleifsson
Doctor
Alfred Reiter
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Aufführungsort: Bockenheimer Depot, Frankfurt
Weitere Vorstellungen: 18., 20., 22., 28. und 30. Dezember 2025
Erstellungsdatum: 15.12.2025