Eindrücke aus dem industriellen Ballungsgebiet rund um Marseille
Eine der schönsten Küsten Frankreichs wurde zerstört. Am Golfe de Fos befanden sich die begehrten Badestrände. Was hat sich verändert? Die Kleinstadt Fos-sur-Mer liegt jetzt im Zentrum eines riesigen industriellen Ballungsgebiets. Das einst beschauliche Fischerdorf ist mittlerweile ein wichtiger Wirtschaftsstandort. Detlef zum Winkel fuhr mit dem Zug von Marseille nach Fos.
„In 49,3 Kilometern endet das Wasser“, lautet ein Graffito an einem Brückenpfeiler von Arles. Dabei fängt es dort erst richtig an. Hinter der Stadt beginnt die Rhône, sich auf den Eintritt ins Mittelmeer vorzubereiten. Hier schwemmt sie Sand an, dort reißt sie ihn wieder fort, bildet Seitenarme, Lagunen, Teiche, Tümpel, Moore, mit einem Wort: die Camargue. Rechts der Rhône reicht die flache Seenlandschaft von Arles über Salin-de-Giraud und Saintes-Maries-de-la-Mer bis nach Aigues-Mortes. Links der Rhône verhält es sich topologisch ähnlich aber nur in einem schmalen Streifen mit viel weniger Möwen und gar keinen Flamingos. Trotzdem bezeichnen Anlieger dieses Band auch als Camargue.
Es war nicht der Fluss, der sein Schwemmland so asymmetrisch gestaltet hat. Vielmehr hat die menschliche Spezies im Industriezeitalter damit begonnen, die östliche Hälfte der Camargue zu planieren, zu asphaltieren und zu bebauen, bis sie schließlich mit Ausnahme von ein paar kümmerlichen Resten ganz verschwunden ist. „Eine der schönsten Küsten Frankreichs ist unwiederbringlich zerstört“, bedauert ein ortsansässiges Ehepaar in einer Fernsehdokumentation. Im Zentrum des riesigen industriellen Ballungsgebiets, 50 Kilometer westlich von Marseille, liegt die Kleinstadt Fos-sur-Mer mit ihren 15 000 Einwohnern, – ursprünglich ein beschauliches Fischerdorf, mittlerweile bekannt in der Weltwirtschaft – aber nicht wegen des Fischfangs.
Vor 60 Jahren erlebte Fos seine „erste Revolution“. So beliebt es zumindest der Präsident des Grand port maritime de Marseille (GPMM), Christophe Castaner, auszudrücken. 1965 wurde die Ausdehnung des Hafens von Marseille auf den Golf von Fos beschlossen, weil sich abzeichnete, dass die immer größer werdenden Ozeanriesen, insbesondere Öltanker, in der Metropole nicht mehr abgefertigt werden könnten. Castaner, ein ehemaliger Innenminister und enger Vertrauter von Präsident Emmanuel Macron, spricht deshalb von einer Erdölrevolution. Seitdem trägt der Hafen den Namen Marseille-Fos. Manche nennen ihn Europas größte Tankstelle.
Was Castaner als „zweite Revolution“ bezeichnet, ereignete sich vor 40 Jahren, als zahlreiche Unternehmen der Petrochemie und der Stahlbranche Standorte auf der 10.000 Hektar großen Fläche bezogen, die der GPMM hierfür zur Verfügung stellt. Heutzutage sind dort 200 Fabriken angesiedelt, in denen über 80.000 Menschen arbeiten. Esso, Ineos, Arcelormittal, Ascometal, Kem One, Air Liquide, Llyondellbasell, Covestro, Naphthachemical, Primagaz sind ein paar bekannte Namen.
Stolz verkündet GPMM auf seiner Website seine Rekorde: größter französischer und viertgrößter europäischer Standort der petrochemischen Industrie; größter Umschlagplatz im europäischen Gashandel; Pipelines in die Schweiz, in den Elsass und nach Karlsruhe; drei Terminals für Chemie- und Raffinerieprodukte, zwei Terminals für LNG (verflüssigtes Erdgas). Doch wegen der Energiewende stagnieren die Umsätze, weshalb der Hafen eine „dritte Revolution“ ins Auge fasse: Dekarbonisierung und erneuerbare Energien.
Unter Dekarbonisierung verstehen französische Politiker meist Nuklearenergie. Eben das hat Macron dem Hafen vor einem Jahr vorgeschlagen: Atomkraftwerke im Becken Marseille-Fos, weil noch so ambitionierte Projekte für erneuerbare Energien den Bedarf nicht decken würden. Benoît Payan, der Bürgermeister von Marseille, wies den Vorschlag sofort zurück. Mit lediglich vier Windrädern in Fos und vierundzwanzig in Port-Saint-Louis-du-Rhône, insgesamt 28 Rotoren, sieht es mit der grünen Energieversorgung allerdings bescheiden aus. Platz wäre für tausend und mehr Windräder vorhanden. Drei leistungsstärkere Offshore-Anlagen sind derzeit in 17 km Entfernung vor der Küste von Fos installiert. 50 weitere könnten in 20 km Entfernung von der Küste errichtet werden.
Von Marseille nach Fos braucht die Regionalbahn eine Stunde. Nahe am Meer folgt die Strecke zunächst der Bucht von Marseille bis zum Viertel L’Estaque am Stadtrand. Bis hierhin reihen sich die Hafenanlagen des Grand port maritime, bassins est. Zu sehen sind allerdings nur wenige Schiffe, die dort angelegt haben, Fähren nach Korsika und Algerien, zwei oder drei Kreuzfahrtschiffe, eine Handvoll Frachter.
Als nächstes passiert der Zug die Côte Bleue, einen 25 Kilometer langen Küstenstreifen mit vier Badeorten – Ausflugsziele für die Großstädter, Alterssitz für wohlhabende Bürger und bei Touristen beliebt. Eine niedrige Bergkette versperrt den Blick nach Norden, so dass man den dahinter liegenden See, den Étang de Berre, und seine hässlichen Ufer nicht anschauen muss. Dort liegen der Flughafen und zahlreiche Industrieanlagen.
Am Ende der Côte Bleue wird die liebliche Landschaft von einer Raffinerie jäh unterbrochen. Sie ist ein Vorbote für das, was folgt. Der Kanal, der den Étang de Berre bei Martigues und Port-de-Bouc mit dem Meer verbindet, ist von Schornsteinen, Fabrikgebäuden, Öltanks, Lagerhallen, Hafenbecken, Kränen und Baustellen gesäumt.
Bald darauf erreicht der Zug Fos-sur-Mer. Die Station besteht aus zwei Gleisen, die man, geleitet von einer Fußgängerampel und vielen Warnschildern, überqueren muss. Das Bahnhofsgebäude steht leer, eine Bushaltestelle gibt es nicht, auch keine Taxis. Das angrenzende Viertel mit kleinen Häusern, alles grau in grau, wirkt wie verlassen. Vielleicht ist es nur der Hitze geschuldet, vielleicht auch der Fabrik von Imerys, die hier seit 100 Jahren Mineralien verarbeitet.
Der erste Eindruck macht schon vieles klar. Fos hat zwar höhere Gewerbesteuereinnahmen als die meisten französischen Kleinstädte, aber eine reiche Gemeinde ist es nicht. Die Milliarden, die auf ihren Territorien erwirtschaftet werden, gehen an den Ortschaften des Rhônedeltas vorbei. Vom großen Kuchen bekommen sie nur Krümel. Aber auch Marseille, eine Stadt, die zweieinhalb Jahrtausende vom Seehandel lebte, muss sich heutzutage mit wenig begnügen. Der Hafen gehört der Stadt nicht mehr, er ist „autonom“, wie es in seiner Selbstdarstellung heißt. Tatsächlich ist der GPMM wie eine Aktiengesellschaft mit nur einem Aktionär organisiert: dem Staat. Bei ihm landen die Dividenden. Wieso diese im zentralistischen Frankreich gängige Konstruktion Unabhängigkeit bedeuten soll, erschließt sich nicht ohne Weiteres.
Fos hat zwei große Strände, die an Sommerwochenenden rappelvoll sind. Doch die nahegelegene Kette von Industriebetrieben ist nirgends zu übersehen. Draußen auf dem Meer warten große Schiffe auf einen Platz im Hafen. Ungeachtet dessen toben die Kinder im Wasser, prusten vor Vergnügen, während die Mütter lange hin und her schwimmen und sich ausgiebig unterhalten.
Auf dem Parkplatz des Strands von Cavaou warnt ein großes Schild: „Sie befinden sich in einem industriellen Risikogebiet.“ Unter dem roten Schriftzug wird das Alarmsignal der Sirenen erklärt. Wenn dieses erklingt, heißt es: Zigaretten ausmachen, nicht telefonieren, Radio einschalten, Rettungsgassen freihalten und die Strände nach Anweisungen der Ordnungskräfte verlassen. 100 Meter weiter will ein anderes großes Schild den Zugang zum Strand verwehren: „Betreten verboten ab dieser Linie“. Doch solche Vorschriften werden in Frankreich großzügig ausgelegt.
Dem industriellen Risiko kann man nicht entgehen. Nahe den Stränden unterhält die Association de Défense et de Protection du Littoral du Golfe de Fos (Verein zur Verteidigung und zum Schutz der Küste des Golfs von Fos, ADPLGF) ein Büro. Der Verein bekämpft seit 22 Jahren die Auswirkungen der Luftverschmutzung auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen. Denn in der Region sind Studien zufolge Krebserkrankungen dreimal so häufig wie im übrigen Land. Leukämie tritt zweieinhalbmal mehr auf als im französischen Durchschnitt. Auch Diabetes und Asthma sind auffällig verbreitet. Gefährdet sind besonders die Beschäftigten der Betriebe. ADEVIMAP (ein weiterer Verein, der sich für die Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzt) unterstützt sie dabei, auf dem Rechtsweg zu erreichen, dass ihre Krankheiten als berufsbedingt anerkannt werden.
Der Sprecher von ADPLGF, Daniel Moutet, selbst ehemaliger Chemiearbeiter, nennt der Jungle World einige der hauptverantwortlichen Unternehmen beim Namen, an erster Stelle Arcelormittal. In der Region seien gemäß Einstufung der Europäischen Union 57 Betriebe der oberen Seveso-Klasse vertreten; also Betriebe, in denen Chemiegifte in gefährlichen Mengen vorhanden sein können. Sie würden die Umweltvorschriften geschickt umgehen, indem sie Genehmigungen für jeden Produktionsbereich separat beantragten. Insgesamt würden die
französischen und europäischen Normen dadurch weit überschritten. Immerhin habe man im Laufe der Jahre erhebliche Reduktionen der Schadstoffkonzentrationen erreicht, aber Feinstaub und flüchtige organische Verbindungen seien nach wie vor das größte Problem.
Die zuständige Umweltbehörde Dreal unterstehe, so Moutet, dem Präfekten der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur und unterlasse alles, was Betriebsschließungen verursachen könnte; die Betriebe nähmen ihre eigenen Luft- und Wasserproben und kontrollierten sich selbst. Sie haben ja auch ihre eigene Security, ihre eigene Verpflegung, eigene Kraftwerke (auch wenn sie nur einen kleinen Teil ihres Energiebedarfs decken) und eine eigene Müllentsorgung. Diese Industriewüste ist, wie erwähnt, „autonom“, ein anderes Wort für dereguliert.
Der Beitrag erschien zuerst in Jungle World,# 2024/41
Erstellungsdatum: 25.11.2024