Am 11. September 2024 wurde der Professorin für Politische Theorie und Politische Philosophie, Seyla Benhabib, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main der Theodor W. Adorno-Preis des Jahres 2024 überreicht. Benhabib, die in eine alteingesessene Istanbuler sephardisch-türkische Familie hineingeboren wurde, forschte und lehrte an der Brandeis University und in Yale, am Max-Planck-Institut am Starnberger See, in Boston und Harvard. Der Historiker und Erforscher der Frankfurter Schule, Martin Jay, begründet in seiner Laudatio die Preisvergabe.
Es ist nicht das erste Mal, das ich die Freude habe, an einer Verleihung des Adorno-Preises in der Paulskirche teilzunehmen. 1989 war ich im Publikum, als mein lieber Freund Leo Löwenthal geehrt wurde, ebenso 1983 als Günther Anders den Preis erhielt. Das ist lange her, aber nicht so lang wie der Beginn meiner Freundschaft mit der diesjährigen Preisträgerin, die ich die Ehre habe, vorstellen zu dürfen, Seyla Benhabib. Zum ersten Mal haben wir uns im Herbst 1980 am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg getroffen, dem Jürgen Habermas als Direktor vorstand. Der Anlass war eine internationale Konferenz unter dem Titel „Sozialforschung als Kritik“. (1) Noch sechs Jahre sollten vergehen, bevor Seylas erstes Buch, „Critique, Norm, and Utopia“ (dt. „Kritik, Norm und Utopie“), erschien, das sich den normativen Grundlagen der Kritischen Theorie widmete, und sie war damals, zumindest für mich, eine Unbekannte. Seyla war eine der jüngsten Teilnehmer der Konferenz, bei der führende Vertreter der dritten Generation der Frankfurter Schule sprachen, u.a. Axel Honneth, Helmut Dubiel und Moishe Postone. 1950 in Istanbul geboren, war sie zwar nicht die einzige Frau im Programm, aber die einzige Teilnehmerin, die nicht aus Europa oder den USA stammte.
Ich erwähne diese persönlichen Details, um auf ein zentrales Thema hinzuweisen, das in jeder Darstellung ihrer bemerkenswerten Karriere eine Rolle spielen muss: das stets brisante Verhältnis von Genesis und Geltung. Es handelt sich um ein Problem, das sie selbst immer wieder aufgeworfen hat, so zum Beispiel 2011 in ihrer Aufsatzsammlung Dignity in Adversity, in der sie das Argument hinterfragt, dass „Menschenrechte und kosmopolitische Normen, wie das Verbot von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, lediglich Produkte westlicher Kulturen sind, deren Geltung sich nicht auf andere Völker und Kulturen in der Welt erstrecken kann.“ (2) In einer Zeit, da die Identitätspolitik immer mehr zu einem akademischen Trend wurde, hätte sich Seyla leicht auf das berufen können, was man später ihre „intersektionelle Subjektposition“ genannt hätte, um ihre epistemische oder moralische Überlegenheit gegenüber denjenigen geltend zu machen, deren Anspruch, für das Ganze zu sprechen, als Ausdruck eines weißen, männlichen Privilegs diskreditiert werden konnte.
Aber Seyla hatte zu viel von Jürgen Habermas’ Verteidigung der Öffentlichkeit und dem Ideal der kommunikativen Rationalität gelernt, um Ideen einfach deswegen abzulehnen, weil sie durch ihre eurozentrischen und anthrozentrischen Ursprünge kontaminiert waren, anstatt sie vor den Gerichtshof der Rechtfertigung bringen, wo das bessere Argument die Chance hat, sich durch Überzeugung durchzusetzen. Eindrücklich erinnere ich Seyla auf der Konferenz 1980 als eine beeindruckende, redegewandte und selbstbewusste Gesprächspartnerin, die nicht nur eine theoretische Verfechterin der kommunikativen Rationalität war, sondern auch eine überaus versierte Praktikerin.
Eine gute Habermasianerin zu sein bedeutet jedoch auch, die Möglichkeit eines singulären Kollektivsubjekts der Geschichte zu verwerfen, das von einem privilegierten Standpunkt im Nirgendwo die gesamte gesellschaftliche Totalität überblickt und beurteilt. Am Schluss von Kritik, Norm und Utopie greift Seyla explizit Habermas’ Kritik der „Subjektphilosophie“ auf, die immer nach „einer einzelnen Gruppe sucht – sei es das Proletariat, Frauen, die Avantgarde, die Revolutionäre der Dritten Welt oder die Partei –, deren Partikularität das Allgemeine als solches vertritt.“ (3) Eine pluralistische Philosophie der Intersubjektivität hingegen setzt auf „die Formierung von Bedürfnis- und Solidargemeinschaften in den gesellschaftlichen Freiräumen“ (4), die immer noch utopische Hoffnungen einer Negation des Status quo hegen. Obwohl sie sich schließlich von der Sehnsucht der Frankfurter Schule nach einer absoluten Negation abwandte, hielt Seyla an einem Rest von Utopie fest. Sie findet sich in ihrer Verteidigung eines offenen Dialogs zwischen den Vertretern universeller Werte wie Gerechtigkeit und Gleichheit auf der einen Seite und jenen, die für konkretere Ziele verschiedener Solidargemeinschaften eintreten, auf der anderen. Denn, wie sie bei der Verleihung des Ernst-Bloch-Preises 2009 sagte, während „der Standpunkt des verallgemeinerten Anderen das Vermächtnis des Naturrechts ist, setzt die Rede vom ‚konkreten Anderen‘ das Bestreben der Sozialutopien fort.“ (5)
Den Gegensatz zwischen dem verallgemeinerten und dem konkreten Anderen hatte sie bereits in ihrem zweiten Buch von 1992, Situation the Self: Gender, Community and Postmodernism in Contemporary Ethics (dt. Selbst im Kontext) herausgearbeitet. Einsichten des Feminismus ermöglichten ihr, das „universalistische Bekenntnis zum Recht jedes Menschen auf universale moralische Achtung“ und die Anerkennung von „jenen ethischen Beziehungen [...], die sich immer schon inmitten der realen Lebenswelt abspielen“ (6) , zu unterscheiden. Unter Bezugnahme auf die Kritik der feministischen Psychologin Carol Gilligan an dem von Habermas übernommenen Stufenmodell der moralischen Entwicklung von Lawrence Kohlberg, betonte sie die alternativen Normen der Freundschaft, der Liebe und der Fürsorge. Während ersterer die abstrakte menschliche Gleichheit zum Maßstab nahm, die Gefahr läuft, den Unterschied zwischen Selbst und Anderem zu verwischen, lenken letztere die Aufmerksamkeit auf konkrete Individualität und genuine Differenz.
Man könnte sagen, dass sich Seyla hier zwar nicht auf ihr Geschlecht als privilegierte Quelle epistemischer Autorität beruft, wie es die Identitätspolitik in ihrer reduktionistischsten Form tut, dass sie aber durch ihre eigenen, lebensweltlichen Erfahrungen als Angehörige einer Minderheit auf die Bedeutung des „konkret Anderen“ und die ethischen Implikationen aufmerksam gemacht wurde.(7) Die Genese begründet zwar immer noch keine ausreichende Geltung, um den diskursiven Prozess der Rechtfertigung und das Anhören der Gründe anderer zu umgehen, aber sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die oft impliziten Annahmen, deren Validität überhaupt erst zu überprüfen wären.
Wie wichtig es ist, sich auf den konkreten Anderen einzulassen, hat Seyla noch auf einem anderen Weg gelernt, nämlich von einer Theoretikerin, deren Einfluss auf Seylas Werk über die Jahre immer größer wurde, Hannah Arendt. Arendt betonte immer wieder die Rolle des Narrativen bei der Selbstkonzeption von Individuen und ihrer Wahrnehmung durch andere. Werden die besonderen Lebensgeschichten konkreter Individuen ignoriert, so ihre Warnung, könnte das aktive, verantwortungsbewusste Selbst, das einst nur mit Männern identifiziert wurde, ironischerweise genau in dem Moment seine Autorität verlieren, da es endlich auch von Frauen angenommen werde.
Mit dem vielbeschworenen „Tod des Subjekts“ drohte also ein unbeabsichtigter Verlust, vor dem Seyla in ihrer Intervention in der Kontroverse um die Verleihung des Adorno-Preises an Judith Butler 2012 erneut warnen sollte. (8) Seylas Argumentation blieb dabei allerdings nicht stehen. Denn das beste Gegenmittel gegen das von der Postmoderne gefeierte, liquidierte Selbst war nicht das integrierte, souveräne Subjekt des Liberalismus, ein autonomes, selbstbeherrschtes Individuum, das einst männlich war und nun einfach auf Frauen ausgedehnt wurde. Seylas eigene Erzählung, die sich auf ihre Familiengeschichte stützt, bot eine gewinnbringendere Alternative. Die Wurzeln ihrer Familie reichen bis ins 15. Jahrhundert zu Rabbi Jacob Ibn-Habib aus der spanischen Stadt Zamora zurück. Als die Juden 1492 aus Spanien vertrieben wurden, zog er zunächst nach Portugal und dann weiter in das Osmanische Reich. In den Erinnerungen von Seylas Familie erhielt sich eine gewisse Nostalgie für das goldene Zeitalter der spanischen Toleranz, als die muslimische und die jüdische Kultur neben der katholischen florieren konnte. Es gab zudem auch eine Dankbarkeit für die Gastfreundschaft, die die Osmanen den Nachfahren der von der Iberischen Halbinsel vertriebenen Juden entgegenbrachten.
Vielleicht haben diese Erinnerungen Seylas Wertschätzung für die Vorzüge des inklusiven, pluralistischen Kosmopolitismus inspiriert, anstelle eines ethno-nationalistischen Kommunalismus oder eines abstrakten, globalen Universalismus. Aber ein toleranter Kosmopolitismus gilt ihr nicht nur als produktive Möglichkeit, Differenzen zwischen Gemeinschaften in einem öffentlichen Kontext zum Ausgleich zu bringen, sondern auch als vielversprechendes Modell verinnerlichter Intersubjektivität. Indem er die Extreme eines übermäßig verallgemeinerten oder übermäßig konkreten Selbst vermeidet, das Eine formal leer und abstrakt, das Andere eine bewaffnete Festung der Pseudointegrität, fördert der Kosmopolitismus stattdessen das, was Arendt „erweitertes Selbst“ genannt hätte, das Unterschiede in sich aufnimmt, ohne sie durchzustreichen.
Seylas Familienerinnerungen motivierten nicht nur ihre Affinität zum Kosmopolitismus, sei es als Modell für das Zusammenleben unterschiedlicher Gemeinschaften oder für einen erweiterten Begriffs des Selbst. Sie haben auch ihre Sensibilität für jenes grundlegende Menschenrecht geschärft, das Immanuel Kant das „Recht auf Gastfreundschaft“ (Hospitalität) nannte. In Büchern wie The Rights of Others (2004) und Exile, Statelessness, and Migration (2018) sondiert Seyla die Herausforderungen, denen sich Asylsuchende und Flüchtlinge ohne Papiere ausgesetzt sehen, seien es die geschundenen Opfer politischer Unterdrückung und ökonomischer Krisen oder berühmte Intellektuelle, wie die Vertreter der Frankfurter Schule oder Hannah Arendt. Mit Arendt betont sie die Verletzlichkeit derjenigen, die vertrieben wurden, ohne den Schutz der Staatsbürgerschaft in einer souveränen Nation zu besitzen und die des grundlegendsten aller Menschenrechte beraubt wurden, nämlich des Rechts, Rechte zu haben.
Dies bringt uns zurück zu dem komplexen Verhältnis von Genesis und Geltung. In meiner Beschreibung von Seylas philosophischer Auseinandersetzung mit der Macht der diskursiven Begründung statt der vermeintlichen Autorität privilegierter Subjektpositionen und ihrem Respekt für die Universalität von Kants „Recht auf Gastfreundschaft“ und Arendts „Recht, Rechte zu haben“, könnte der Eindruck entstehen, als ob ihr einziges Zugeständnis an die Macht der historischen Genesis in der Wahl ihrer Fragen liegt. Sie hat jedoch einen entscheidenden Kontext identifiziert, in dem die Art und Weise, wie etwas zustande kommt, von fundamentaler Bedeutung ist. In ihrer Analyse des Verhältnisses von demokratischer Souveränität und dem gegenläufigen Anspruch universeller Menschenrechte spielt die Genesis eine entscheidende Rolle für die Begründung politischer Legitimität und besitzt eine Autorität, die ihr hinsichtlich der Geltung philosophischer Argumente fehlt. Das erste regulative Ideal der Souveränität des Volkes besteht laut Seyla darin, dass „das Volk selbst der Urheber der Gesetze“ (9) ist. Anders als transzendente philosophische Ideen, deren Genese für ihre Geltung irrelevant ist, kann die normative Kraft der von Menschen geschaffenen Gesetze nur durch den inklusiven Deliberationsprozess legitimiert werden, der sie hervorbringt. Demokratie bedeutete, dass die Gesetze von den Menschen gemacht werden, die ihnen unterstehen, und die dann nicht nur verpflichtet sind, ihnen zu folgen, sondern auch die Macht haben, sie zu ändern, wenn sie dies wünschen.
Eine potenzielle Gefahr, so Seyla weiter, besteht jedoch in einem demokratischen Prozess, in dem die Kategorie des „Volkes“, das die Legitimität besitzt, Gesetze zu erlassen und zu ändern, selbst auf eine starre und verdinglichte Weise konstruiert wird. Denn dann kann der demos genauso ausschließend werden wie das ethnos, eine fixe Kategorie, die eine hohe Mauer zwischen den Bürgern und ihren Anderen baut, die letztere zu ewigen Fremden macht, deren Appelle an die Gastfreundschaft als feindliche Bedrohung verstanden werden, statt als Chance, Andersheit in ein erweitertes kosmopolitisches Selbst aufzunehmen.
Um diesen Missbrauch zu vermeiden, darf der demos nicht als eine feste, einheitliche und abgegrenzte Entität konzipiert werden. Statt als ein Kollektivsubjekt, ein singulärer Urheber, dessen Integrität feststeht und unantastbar ist – erinnern wir uns an Habermas’ Kritik der Subjektphilosophie, die eine vergleichbare Kritik ihres politischen Gegenstücks impliziert–, ist der demos besser als eine intersubjektive Kollektivität im Wandel zu verstehen, die ständig neue Mitglieder gewinnt und alte verliert. Obgleich Gesetze ihre Legitimität durch autoritätsstiftende Hervorbringung ihrer Verfasser gewinnen, ist der Prozess nicht statisch und starr, sondern offen und flexibel. „Wir sollten uns den demos“, so Seylas Warnung, „nicht mehr als ein einheitliches, harmonisches Gegebenes vorstellen, sondern als Ergebnis einer fortlaufenden Selbstkonstituierung“. (10)
Außerdem muss die staatliche Souveränität von der Souveränität des Volkes abgekoppelt werden. Erstere impliziert territoriale Integrität und sichere Grenzen, die Einmischungen von außen verhindern, worin sich die Beharrlichkeit des westfälischen Systems der internationalen Beziehungen widerspiegelt. Letztere ist umfassend genug, um die wachsende Interdependenz der Völker zu berücksichtigen, die die Legitimität internationaler Gesetze und Vorschriften akzeptieren, die durch transnationale Verträge und regelmäßige Praxis entstanden sind. Das soll nicht heißen, wie Kant klar gestellt hat, dass wir die staatliche Souveränität abschaffen und einen einheitlichen Weltstaat anstreben sollten, denn das wäre ein Despotismus, der jede Hoffnung auf durch repräsentative Demokratie und diskursive Deliberation geschaffene Gesetze zunichte machen würde. Vielmehr geht es darum, dass wir, wenn wir die Gültigkeit von Gesetzen dadurch begründen, dass sie vom Volk ausgehen, auch die Durchlässigkeit und Offenheit des demos anerkennen müssen, der ihnen Legitimität verleiht – er ist mehr als die aktiven Bürger zu einem bestimmten Zeitpunkt und nicht auf diejenigen innerhalb undurchlässiger Staatsgrenzen beschränkt.
Schlussendlich sollte Demokratie als ein fortdauernder Prozess begriffen werden, der, wie Seyla in Anlehnung an Derrida schreibt, auf „Iterationen“ beruht, „Wiederholungen in Transformation, Anrufungen, die zugleich Widerrufe sind.“ Diese „verändern nicht nur etablierte Auffassungen, sondern transformieren auch, was als begründete oder etablierte Sicht eines autoritativen Präzedens gilt.“ (11)
Das hilft uns auch, eine vereinfachende originalistische Deutung des Rechts zu vermeiden, nach der Gesetze immer die Absicht ihrer Urheber zum Ausdruck bringen, zugunsten einer „jurisgenerativen“ Alternative, einem von Robert Cover übernommenen Begriff für die Entwicklungsdynamik des Common Law, der es erlaubt, die „schöpferischen Interventionen zu denken, die zwischen universellen Normen und dem Willen demokratischen Mehrheiten vermitteln.“ (12) Denn, wie Seyla es formuliert, „die Dialektik zwischen humanitärer Vernunft und Jurisgenerativität hat [...] Möglichkeiten für den Staatenlosen, den Geflüchteten und den Asylsuchenden geschaffen, um die Trennung zwischen dem Status eines erniedrigten Subjekt des Mitleids und der Verwaltungslogik auf der einen Seite, und dem einer juristischen Person und eines politischen Aktivisten, der die Anerkennung seiner oder ihrer internationalen Menschenrechte fordert, auf der anderen Seite, zur Disposition zu stellen.“ (13)
Es handelt sich hier um komplexe Denkfiguren, die zu erläutern viel mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, aber sie erlauben uns noch einmal auf das Verhältnis von Genesis und Geltung zurückzukommen. In den Berkeley Tanner Lectures, die 2006 unter dem Titel Another Cosmopolitanism (dt. Kosmopolitismus und Demokratie) veröffentlicht wurden, räumt Seyla die Grenzen der aus ihrer historischen Genese erwachsenden Autorität des demos ein, wie auch immer man ihn konzipiert: „Im Unterschied zur Gesetzgebung durch die Legislative“ hat die Geltung „kosmopolitische[r] Normen [...] unabhängige normative Grundlagen.” (14) Mit anderen Worten, Rechte wie das auf Gastfreundschaft oder das Recht, Rechte zu haben, gehen über ihre historische Genese hinaus. Aber, und dies ist der entscheidende Punkt, sie werden nur dann politisch wirksam, wenn man sie in den demokratischen Prozess selbst integriert. Oder in Seylas Worten: „Produktive und schöpferische jurisgenerative Politik führt zu einer zunehmenden Bedeutung der Inanspruchnahme von Rechten und zum verstärkten Auftreten gewöhnlicher Individuen als Urheber von Politik, die, indem sie die Rechte demokratisch anwenden, sie zu ihren eigenen machen.“ (15)
Es ist an der Zeit, dass ich das Wort an die diesjährige Adorno-Preisträgerin selbst übergebe. Zu viele ihrer Ideen habe ich vorgestellt und oberflächlich erläutert, aber ich möchte denjenigen von Ihnen, die noch nicht in Seylas beeindruckendes Werk eingetaucht sind, ein Gefühl für die Schätze geben, die Sie erwarten. Nicht nur widmet sie sich den drängenden Fragen unserer Zeit, sondern sie tut es mit analytischer Schärfe, rhetorischer Kraft und einer wohlwollenden Lektüre gegnerischer Argumente. Indem sie die rationale, kommunikative Interaktion praktiziert, deren Bedeutung für die deliberative Demokratie sie so eloquent verteidigt, bereichert sie diese durch die konkreten Erkenntnisse, die aus den Erfahrungen ihres außergewöhnlich situierten Selbst erwachsen.
Zu Beginn meiner Ausführungen habe ich zwei frühere Adorno-Preis-Reden erwähnt, die als dialektische Antizipationen der Worte gelten können, die wir gleich hören werden. 1983 war der Preisträger Günther Anders, ein beeindruckender Intellektueller eigenen Rechts, aber auch der erste Ehemann von Hannah Arendt, die eine so wichtige Inspiration für Seylas Werk war. 1989 sprach Leo Löwenthal, der letzte noch lebende Vertreter der ersten Generation der Frankfurter Schule. Das Verhältnis zwischen Arendt und dem Kreis um Max Horkheimer wurde oft als feindselig beschrieben, emblematisch gefasst in Arendts wütender Reaktion auf Adornos mutmaßliche Rolle bei der Ablehnung von Anders’ Habilitation 1929: „Der kommt mir nicht ins Haus.“ Seyla zitiert die Anekdote in Exile, Sta- telessness and Migration, fährt dann aber fort, sich den „intellektuellen Affinitäten ebenso wie den Dissonanzen zwischen Adorno und Arendt“ (16) zu widmen. Man könnte also sagen, dass sie das Recht auf Gastfreundschaft ernst nimmt und die Kritische Theorie in Arendts Haus lässt und umgekehrt, um aus den daraus sich ergebenden Begegnungen wertvolle Einsichten zu gewinnen, deren Geltung nicht in ihrer Genese aufgeht.
Ich bin weder Philosoph noch politischer Theoretiker, weshalb ich zögere, ein abschließendes Urteil über die Geltung von Seylas theoretischem Schaffen zu fällen. Aber erlauben Sie mir als Ideenhistoriker, eine Vorhersage zu wagen, wie eine künftige Darstellung der letzten fünfzig Jahre Kritischen Theorie, ja der politischen Philosophie im Allgemeinen, ausfallen wird. Seyla wird nicht nur dafür gewürdigt werden, dass sie eine ganze Generation begabter Studenten an einigen der besten akademischen Einrichtungen der USA ausgebildet hat, an der New School, in Harvard, Yale und nun Columbia, von denen viele ihre Dankbarkeit in der Anfang diesen Jahres erschienen Festschrift Another Universalism zum Ausdruck gebracht haben. (17)
Noch bedeutsamer ist, dass sie in den Kanon jener Denkerinnen und Denker aufgenommen wird, deren Reflexionen für ihre Kollegen von Bedeutung waren, und die sowohl für ihre theoretischen Innovationen als auch für deren Anwendung auf reale Probleme geschätzt werden. Seyla Benhabib ist somit eine würdige Trägerin des Adorno-Preises, nicht nur für das, was sie bereits erreicht hat, sondern auch für die weitreichende Wirkung, die ihre Arbeit in den kommenden Jahren sicherlich noch haben wird.
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Dr. Robert Zwarg.
(1)Die Beiträge der Konferenz erschienen in Wolfgang Bonß / Axel Honneth (Hgg.), Sozialforschung als Kritik: Zum sozialwissenschafltichen Potential der Kritischen Theorie, Frankfurt a.M. 1981 .
(2)Seyla Benhabib, Dignity in Adversity: Human Rights in Troubled Times, Malden, Mass. 2012, S. 114. [Alle Übersetzungen, soweit nicht anders angegeben, R.Z.]
(3)Seyla Benhabib, Critique, Norm and Utopia: A Study of the Foundations of Critical Theory, New York 1986, S. 352. In der deutschen Übersetzung des Buches wurde der Satz nicht übernommen.
(4)Seyla Benhabib, Kritik, Norm und Utopie. Die normativen Grundlagen der Kritischen Theorie, Frankfurt a.M. 1992, S. 237.
(5)Benhabib, Dignity in Adversity, S. 189. Eine deutsche Übersetzung von Benhabibs Rede zur Verleihung des Ernst-Bloch-Preises findet sich unter:
https://bpb-us-w2.wpmucdn.com/campuspress.yale.edu/dist/3/949/ files/2016/05/Bloch-Preis-Rede-291mmon.pdf
(6)Seyla Benhabib, Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, Frankfurt a.M. 1995, S. 19.
(7)Für eine kürzlich erschienene Darstellung ihrer Lebensgeschichte vgl. Seyla Benhabib, „Fragments of an Intellectual Autobiography”, in: Stefan Eich, Anna Jurkevics, Nishin Nathwani und Nica Siegel (Hgg.), Another Universalism: Seyla Benhabib and the Future of Critical Theory, New York 2024
(8)Seyla Benhabib, Exile, Statelessness, and Migration: Playing Chess with History from Hannah Arendt to Isaiah Berlin, Princeton 2018, S. 93.
(9)Seyla Benhabib, Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger, Frankfurt a.M. 2008, S. 208.
(10)Ebd.
(11)Seyla Benhabib, Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte. Mit Jeremy Waldron, Bonnie Honig und Will Kymlicka, Frankfurt a.M./New York 2008, S. 46.
(12)Ebd., S. 47
(13)Benhabib, Exile, Statelessness, and Migration, S. 121 [Herv. im Orig.].
(14)Benhabib, Kosmopolitismus und Demokratie, S. 47.
(15)Ebd.
(16)Benhabib, Exile, Statelessnes, and Migration, S. 60.
(17)Vgl. Fußnote 7.
Erstellungsdatum: 18.09.2024