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Augenschein, Recherche, Aktualität

Das „ewige“ Russland

Felix Philipp Ingold


Die Seele des Volkes. Gemälde von M. W. Nesterow 1915–1916. (Ausschnitt). Foto: wikimedia commons

Wer Diffamierung und Etikettierung vermeiden will, akzeptiert ungern einen Volks- oder Nationalcharakter, selbst wenn die Betroffenen sich damit identifizieren. Und es ist unangenehm wahrzunehmen, wie Menschen sich gemäß solcher „Charaktere“ tatsächlich verhalten. Aber es geschieht eben. Wie oft ist die „russische Seele“ beschworen worden, in der die Extreme wohnen und aus der sich bis heute herleiten lasse, was dort geschieht. Felix Philipp Ingold ist der Spur in der Literatur gefolgt.

 

Oft und gern wird Wladimir Putins repressive Präsidentschaft mit dem einstigen autokratischen Zarentum verglichen. Der Vergleich soll dazu dienen, die gegenwärtige russische Machtpolitik und deren bedrohliche Perspektiven zu erhellen, wenn nicht zu erklären als Fortführung einer weit zurückreichenden Tradition konsequenter Gewaltherrschaft, die nun unter neuen Bedingungen mit neuen Mitteln und neuen Zielen effizient bewerkstelligt werde. Repressiv im Innern, aggressiv nach außen – so lautet die pauschale Charakterisierung russischer Staatlichkeit im Rückblick auf die Geschichte wie auch im Hinblick auf die Gegenwart.

Tatsächlich erinnert der putinistische Regierungsstil, wie er sich auf internationaler und innenpolitischer Bühne zu erkennen gibt, in manchen Punkten an die Zarenzeit, vorab an das 18. und 19. Jahrhundert. Freilich ist zu bedenken, dass Monarchien und Autokratien generell, über die Epochen hinweg, ähnlich strukturiert sind. Man könnte und sollte also immer auch – gleichsam von unten – nach den Bevölkerungen fragen, die solche Regime über kurz oder lang erduldet oder, umgekehrt, mitgetragen haben. Dabei stellt sich das kontroverse Problem der nationalen Eigenart, des Volkscharakters, der kollektiven Mentalität.

Hinsichtlich Russlands ist diese Frage von besonderem Interesse und zudem von besonderer Aktualität. Denn wie keine andere Nation stand der russische Vielvölkerstaat während Jahrhunderten unter despotischer Herrschaft, unter dem Romanow’schen Zarenhaus ebenso wie unter sowjetischer Führung und neuerdings unter Putins Präsidialdiktatur. Nur ganz selten und immer nur für kürzeste Zeit wurden Alternativen dazu erprobt, doch diese erschöpften sich entweder in anarchistischer Rebellion oder in unpopulärem dilettantischem Konstitutionalismus. Die erfolglosen Bauernrevolten unter Katharina II. und im postrevolutionären Bürgerkrieg der 1920er Jahre einerseits und andrerseits die gescheiterten parlamentarischen Gehversuche zwischen 1905 und 1917 sind beispielhaft dafür.

Nie in der Geschichte Russlands hat sich Freiheit als politische, gesellschaftliche, kulturelle Normalität etablieren können. Stets traten Staat und Regierung in „symphonischem“ Verein mit der orthodoxen Kirche (zur Sowjetzeit mit der kommunistischen Partei) als institutionelle Organe repressiver Macht in Erscheinung. Deren mehrheitliche Duldung ist denn auch für alle Bevölkerungsteile zur Pflicht, schließlich zur Gewohnheit geworden.

Erstellungsdatum: 14.12.2025