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Wer Diffamierung und Etikettierung vermeiden will, akzeptiert ungern einen Volks- oder Nationalcharakter, selbst wenn die Betroffenen sich damit identifizieren. Und es ist unangenehm wahrzunehmen, wie Menschen sich gemäß solcher „Charaktere“ tatsächlich verhalten. Aber es geschieht eben. Wie oft ist die „russische Seele“ beschworen worden, in der die Extreme wohnen und aus der sich bis heute herleiten lasse, was dort geschieht. Felix Philipp Ingold ist der Spur in der Literatur gefolgt.
Oft und gern wird Wladimir Putins repressive Präsidentschaft mit dem einstigen autokratischen Zarentum verglichen. Der Vergleich soll dazu dienen, die gegenwärtige russische Machtpolitik und deren bedrohliche Perspektiven zu erhellen, wenn nicht zu erklären als Fortführung einer weit zurückreichenden Tradition konsequenter Gewaltherrschaft, die nun unter neuen Bedingungen mit neuen Mitteln und neuen Zielen effizient bewerkstelligt werde. Repressiv im Innern, aggressiv nach außen – so lautet die pauschale Charakterisierung russischer Staatlichkeit im Rückblick auf die Geschichte wie auch im Hinblick auf die Gegenwart.
Tatsächlich erinnert der putinistische Regierungsstil, wie er sich auf internationaler und innenpolitischer Bühne zu erkennen gibt, in manchen Punkten an die Zarenzeit, vorab an das 18. und 19. Jahrhundert. Freilich ist zu bedenken, dass Monarchien und Autokratien generell, über die Epochen hinweg, ähnlich strukturiert sind. Man könnte und sollte also immer auch – gleichsam von unten – nach den Bevölkerungen fragen, die solche Regime über kurz oder lang erduldet oder, umgekehrt, mitgetragen haben. Dabei stellt sich das kontroverse Problem der nationalen Eigenart, des Volkscharakters, der kollektiven Mentalität.
Hinsichtlich Russlands ist diese Frage von besonderem Interesse und zudem von besonderer Aktualität. Denn wie keine andere Nation stand der russische Vielvölkerstaat während Jahrhunderten unter despotischer Herrschaft, unter dem Romanow’schen Zarenhaus ebenso wie unter sowjetischer Führung und neuerdings unter Putins Präsidialdiktatur. Nur ganz selten und immer nur für kürzeste Zeit wurden Alternativen dazu erprobt, doch diese erschöpften sich entweder in anarchistischer Rebellion oder in unpopulärem dilettantischem Konstitutionalismus. Die erfolglosen Bauernrevolten unter Katharina II. und im postrevolutionären Bürgerkrieg der 1920er Jahre einerseits und andrerseits die gescheiterten parlamentarischen Gehversuche zwischen 1905 und 1917 sind beispielhaft dafür.
Nie in der Geschichte Russlands hat sich Freiheit als politische, gesellschaftliche, kulturelle Normalität etablieren können. Stets traten Staat und Regierung in „symphonischem“ Verein mit der orthodoxen Kirche (zur Sowjetzeit mit der kommunistischen Partei) als institutionelle Organe repressiver Macht in Erscheinung. Deren mehrheitliche Duldung ist denn auch für alle Bevölkerungsteile zur Pflicht, schließlich zur Gewohnheit geworden.

Geistige wie physische Repression, die weitgehende Gewöhnung daran und das punktuelle Aufbegehren dagegen sind Konstanten der russischen Geschichte und haben als solche die nationale Mentalität – das, was man gern als den russischen „Charakter“ und noch lieber als die russische „Seele“ bezeichnet – nachhaltig geprägt. Der Philosoph und Publizist Nikolaj Berdjajew hat das schwer fassbare „Wesen“ des Russentums zu rationalisieren und zu präzisieren versucht, indem er es in seinen Schriften zum „Schicksal Russlands“ (1918) und zur „Russischen Idee“ (1946) auf die territoriale Ausdehnung des Staatsgebiets zurückführte, das über Jahrhunderte hin als gleichsam „grenzenloser“ eurasiatischer Kontinent Bestand hatte und das sich noch heute, nach dem Zusammenbruch der einstigen Sowjetunion, als größtes Land der Erde behauptet.
Der geographischen Weitläufigkeit des russischen „Ostwestens“ entspreche, meint Berdjajew, die Bandbreite der russischen Mentalität, die sich durch mancherlei Widersprüche auszeichne – Passivität und Maximalismus, Autoritätsgläubigkeit und Kollektivbewusstsein, Messianismus und Nihilismus. Von daher habe die russische Bevölkerung „unabhängig von individuellen menschlichen Qualitäten die vollkommen mechanische Gleichartigkeit aller ausgebildet“. Die Unterdrückung individueller Werte beziehungsweise der widerstandslose Verzicht darauf erklärt der Philosoph damit, dass Russland von der europäischen Renaissance unberührt geblieben sei und deshalb das „schöpferische Potential“ der Persönlichkeit nicht erkannt, nicht genutzt habe.
Angesichts der langwierigen und verlustreichen russischen „Spezialoperation“ gegen die völkerrechtlich souveräne Ukraine mag man sich fragen, weshalb und wozu der territorial größte Staat der Welt sein Einzugsgebiet mit massiven militärischen Mitteln zusätzlich erweitern will. Etwas anderes als imperiale Anmaßung und Expansion ist hinter dem Angriffskrieg nicht zu erkennen, und die offizielle Begründung dafür – man müsse das ukrainische Brudervolk von seinem faschistischen Regime befreien – erweist sich als ideologisches Propagandakonstrukt. Weder die Kriegshandlungen selbst, noch die Kriegskosten oder die Kriegsverluste rufen auf russischer Seite merkliche Kritik (beziehungsweise Selbstkritik) und Widerstand hervor.
Mehrheitlich steht die Bevölkerung hinter der Staats- und Armeeführung. Der autoritäre Präsident findet weithin Zuspruch, derweil gegnerische Positionen (etwa in der Presse, im Bildungs- und Kulturbereich) längst eliminiert worden sind und deren wortführende Vertreter sich heute allesamt in Gefangenschaft oder im Exil befinden. Es gibt derzeit in der Russländischen Föderation keine politische, keine intellektuelle, schon gar keine demonstrativ auftretende Opposition mehr. Demgegenüber wird die Gesellschaft auf allen Ebenen staatlich indoktriniert – von der Grundschule über sportliche und kirchliche Institutionen bis hin zur medialen Propaganda sind daran die unterschiedlichsten Organe beteiligt. Dass dies in umfassendem Ausmaß praktiziert werden kann und auch gelingt, ohne dass irgendwelche ernstzunehmende Gegenkräfte sich zu erkennen geben oder gar zu kollektivem Widerstand sich zusammentun, ist aus europäischer, demokratisch perspektivierter Sicht ein geradezu verstörendes Phänomen.

Immer wieder hat man dieses Phänomen in der westlichen Geschichtsschreibung wie auch in Reise- und Erlebnisberichten über Russland pauschal mit der angeblichen „Sklavenmoral“ der drangsalierten Bevölkerung zu erklären versucht. Selbst ein aufmerksamer, klug abwägender Beobachter wie der französische Historiker und zeitweilige Außenminister Alexis de Tocqueville hat diese Erklärung übernommen und sie in seine epochale Abhandlung „Über die Demokratie in Amerika” (1835) eingebracht. Im Schlusskapitel des Werks entwirft er für die Zukunft ein binäres Weltbild, das nach seinem Dafürhalten aus gegensätzlichen Gründen von Amerika und Russland gleichermaßen dominiert sein werde.
Tocqueville hält seine ingeniösen politologische Argumentation von ethischen Erwägungen gänzlich frei, die „Unterwürfigkeit” (servitude) des Russentums wird darin weder verurteilt noch gutgeheißen, sondern lediglich als Tatsache festgestellt und als Basis für die künftige weltpolitische Vorrangstellung des russischen Imperiums ausgewiesen. Neben und gegen Nordamerika werde sich Russland (und nicht etwa Europa) als die zweite Grossmacht in der kommenden Weltordnung etablieren, dies vorab mit Waffengewalt und gestützt auf einen mental gleichgeschalteten, militärisch abgerichteten Volkskörper, während andererseits Amerika ein freiheitliches Gesellschafts- und Wirtschaftsleben privilegiere, das vorwiegend auf individuell erbrachten Initiativen und Leistungen beruhe: Nicht das Kollektiv, nicht die „Uniform“ stehe hier im Vordergrund, vielmehr – unabhängig von staatlicher Lenkung – „das persönliche Interesse“, „die Kraft und die Vernunft (raison) des Einzelnen“.
In Amerika und Russland erkennt Tocqueville zwei „jugendliche“ Völker, welche alle übrigen, wohl traditionsreichen, jedoch kraftlos und unfruchtbar gewordenen Nationen definitiv ablösen und durch ein bipolares Machtgefüge ersetzen werden: „Ihr Ausgangspunkt und ihre Entwicklungslinien unterscheiden sich; gleichwohl scheinen beide durch geheime Vorsehung (providence) dazu bestimmt zu sein, eines Tages das Geschick (destinée) der halben Welt in ihrer Hand zu haben.“

Was Alexis de Tocqueville damals reichlich spekulativ, wenn auch – aus heutiger Sicht – durchaus zutreffend skizziert hat, ist wenig später von dem populären französischen Reiseschriftsteller Astolphe Marquis de Custine vor Ort überprüft und völlig anders veranschlagt worden. Als Tatsachenbericht über einen privaten, knapp fünfmonatigen Aufenthalt im Zarenreich veröffentlichte der Marquis 1843 seine Aufzeichnungen über „Russland um 1839” (La Russie en 1839), angereichert durch mancherlei Dokumente und nachträgliche Kommentare.
Insgesamt vier Bände umfaßt das in kolloquialer Briefform abgefasste Buchwerk, das seiner Material- und Ideenfülle zum Trotz rasch zu einem populären Bestseller wurde und internationale Beachtung fand, in der Tagespresse ebenso wie in literarischen und höchsten diplomatischen Kreisen. Dass es andrerseits in Russland als staatsfeindliches Pamphlet sofort auf den Index gesetzt und damit der Diskussion entzogen wurde, bezeugt seine tagespolitische Virulenz. Zar Nikolaus I. persönlich prangerte den Autor als Verräter und Verleumder an, wurde allerdings von seinem Geheimdienstchef Graf Benckendorff diskret darauf hingewiesen, dass „de Custine ja bloß Gedanken ausgesprochen hat, zu denen wir [Russen] die gesamte Welt – und übrigens auch uns selbst – seit langem inspirieren”.
Kritische Gedanken sind das eine, präzise Beobachtungen in der russischen Alltagswirklichkeit sowie in staatlichen und kirchlichen Institutionen sind das andere, das Astolphe de Custine in seinem umfänglichen Reiserapport zu bieten hat. Nach eigenem Bekunden hat er das Zarenreich als überzeugter Monarchist, mithin als Sympathisant besucht, ist von dort aber als „Konstitutionalist“ nach Frankreich zurückgekehrt: Die Innenwelt des russischen Absolutismus – Regierung und Bürokratie, der Adel und die leibeigene Bauernschaft – muss demnach für ihn so abschreckend gewesen sein, dass er daraus nicht nur zeitgeschichtliche Schlüsse, sondern auch persönliche Konsequenzen zog. Dennoch unterließ er es nicht, auch positive Eindrücke (so die russische Volkskultur, die private Gastfreundschaft) klar herauszustellen.
De Custine hat Russland als „das merkwürdigste Land“ mit der „unglücklichsten Bevölkerung“ kennengelernt. Nach eigenem Bekunden war er bemüht, seine Wahrnehmungen und Erfahrungen „an Ort und Stelle“ zu notieren, um sie noch „am Abend selbigen Tages“ zusammenzufassen und gegebenenfalls durch Kommentare zu ergänzen. Die „Liebe zur Wahrheit“ einerseits, der erzählerische Impetus andrerseits sollte für seine Arbeit bestimmend sein. Insgesamt entstand daraus eine geradezu enzyklopädische Darbietung konkreter russischer Gegebenheiten (Landschaft, Architektur, Verkehrswege, Lebensart) wie auch des widersprüchlichen, „gewiss interessanten Charakters“ der Russen, den der umtriebige Franzose bei einfachen Menschen (Bauern, Dienstleuten, Soldaten), bei Beamten, bei Intellektuellen, bei Aristokraten und selbst beim Zaren persönlich beobachten konnte.
Die „harten Wahrheiten“, die er „gewissenhaft“ und „mit Anstand“ in seinen Rapporten festhielt, fügten sich bei der nachfolgenden Überarbeitung und dokumentarischen Erweiterung (1840-1842) zu einem Katalog von vorwiegend kritischen Feststellungen, Vorbehalten und Beschwerden. Sicherlich war dies der Hauptgrund für den eklatanten Publikumserfolg der Buchausgabe (mit zwanzig Nachauflagen bis 1855) und die dadurch ausgelösten kontroversen Debatten, an denen sich zahlreiche namhafte Zeitgenossen beteiligten. 1854 erschien „Russland um 1839“, noch immer weithin geschätzt als exotische Reiseliteratur, in gekürzter Fassung als Volksausgabe.
Zwei Darstellungsebenen sind in dem faktenreichen Werk zu unterscheiden – zum einen die Charakterstudien, aus denen Astolphe de Custine die Besonderheiten der russischen Mentalität herleitet, darunter dominante „Laster“ wie Grausamkeit, Lügenhaftigkeit, Neid, Verstocktheit, Aberglaube; zum andern kollektive „Gebrechen“ wie Unterwürfigkeit, Gleichmacherei, Faulheit, Nachahmungstrieb. Die Pauschalisierung von individuellen oder kollektiven „Charakter“-Eigenschaften ist in jedem Fall problematisch, namentlich dann, wenn daraus Werturteile hergeleitet werden. Das scheint auch de Custine so gesehen und berücksichtigt zu haben: Nicht die genannten Eigenschaften als solche stellt er in den Vordergrund, vielmehr betont er deren Dominanz, und was er als dominant erkennt, ist für ihn das typisch Russische und damit die stets gleichbleibende Essenz der russischen Mentalität.
Verallgemeinernd notiert er dazu: „In Russland dominiert die Regierung alles, und nichts belebt sie. In diesem gigantischen Imperium ist das Volk wenn nicht ruhig, so doch stumm; der Tod schwebt über allen Köpfen und schlägt willkürlich auf sie ein; an höherer Gerrechtigkeit ist mithin zu zweifeln; für den Menschen gibt es hier zwei Särge: die Wiege und das Grab. Hier haben die Mütter die Geburt ihrer Kinder mehr zu beweinen als deren Tod.“ So undifferenziert und einseitig dieses belletristische Gesamtbild – Russland als Totenreich – sein mag, Astolphe de Custine präzisiert es in seinen Berichten und Studien durch eine Vielzahl von exemplarischen Belegen. Durch geschickte Montage gelingt ihm dann doch eine höchst attraktive Synthetisierung der formal und qualitativ ganz unterschiedlichen Versatzstücke, die sich manchen Wiederholungen und Widersprüchen zum Trotz zu einem insgesamt kohärenten Gesamtbild Russlands fügen. Der Publizist Wiktor Jerofejew bezeichnet das vielzitierte Werk ganz ironiefrei als einen „Reiseführer zum ewigen Russland“.
Das bei Astolphe de Custine am häufigsten wiederkehrende Leitwort – zugleich der radikalste Kritikpunkt – ist die „Barbarei“, mithin die Primitivität, die Kulturfeindlichkeit, der Fremdenhass als Grunddisposition des Russentums. Diese vorgegebene Disposition werde, meint der Verfasser, durch die zarische Autokratie genutzt und gefördert mit dem offenkundigen Ziel, die Bevölkerung in Unbildung und Unmündigkeit zu belassen, um sie leichter unter Kontrolle zu halten. Gleich zu Beginn seiner Berichterstattung konstatiert er die „außerordentliche Untertänigkeit“ russischer Dienst- und Hofleute und glaubt in ihnen „eine Art höherer Sklaven“ zu erkennen – mit „unwillkürlichem Knechtsinn“, jedoch in einer befremdlichen, aggressiv anmutenden „Mischung von Stolz und Selbsterniedrigung“. Diesen „höheren“ Untertanen steht auf niedrigster Stufe in analoger Knechtschaft die bäuerliche, zu großen Teilen leibeigene Bevölkerungsmehrheit gegenüber.
Am Leitfaden des Inhaltsverzeichnisses zu „Russland um 1839“ läßt sich das hohe wie das niedrige Untertanentum und damit der russische Charakter schlechthin mit folgenden Gegebenheiten in Verbindung bringen: „Der Nationalgeist stimmt mit der Politik der Autokratie überein.“ – „Gleichheit unter dem Despotismus.“ – „Russische Bürokratie.“ – „Die Hauptstadt [Petersburg] gleicht einer Kaserne.“ – „Falsche Zivilisation.“ – „Politischer Aberglaube.“ – „Man verhüllt den Fremden die Wahrheit.“ – „Gefahr des Fremden in Russland.“ – „Verdrehung der Geschichte.“
Zu all diesen Kapiteln bringt de Custine vielerlei konkrete Fallbeispiele und private Erfahrungen bei, alles in vertraulichem Plauderton, selbst dort, wo es um materielle Not, Unterdrückung und Ausbeutung geht. Deutlich artikuliert er aber auch seine Sympathien für das einfache russische Volk, ebenso deutlich seine Verachtung für die opportunistische Intelligenz und den willfährigen Adel. Die naturhafte („wilde“) Barbarei der Mehrheit unterscheidet er von der kultivierten, dennoch „wüsten“ Barbarei der Eliten, die in Ausschweifung, Korruption und Reichtum schwelgen, ungeachtet des massenhaften Elends und der Drangsalierung der gänzlich rechtslosen Staatsbürger. „Die Russen würden besser sein, wenn sie roher blieben“, merkt de Custine an einer Stelle an, denn „der Mensch muss eine gewisse Tugend besitzen, um die Bildung ertragen zu können“.
Szenische Situationsbeschreibungen und anekdotische Zuspitzungen sorgen für unterhaltsame Lektüre, lassen aber stellenweise auch Zweifel an der faktischen Richtigkeit der Berichte aufkommen. Tatsächlich unterlaufen dem umtriebigen Autor diverse sachliche Ungenauigkeiten und Irrtümer, dennoch kann seine detaillierte Bestandsaufnahme, über ihren zeitgeschichtlichen Rahmen hinaus, manches zum Gesamtverständnis russischer Eigenart beitragen, aber auch zur tieferen Einsicht in neuere und jüngste epochale Phänomene wie den Stalinismus oder den Putinismus.
Bildung zu ertragen, das heißt auch – das dadurch gewonnene Wissen, mithin die Wahrheit zu ertragen. An diesem Punkt erkennt Astolphe de Custine das Hauptproblem des russischen „Charakters“, dem er jeden Willen zur Selbsterkenntnis, vollends jede Fähigkeit zur Selbstkritik abspricht. Unangenehme Wahrheiten werden spontan als Lüge und Beleidigung zurückgewiesen, Beweise als Fälschungen inkriminiert und eigene Fälschungen als die einzig gültige Wahrheit ausgegeben. Als Grund dafür nennt de Custine nationalen Größenwahn, globalen Messianismus, imperialen Führungsanspruch, alles getragen von einem gleichgeschalteten, genügsamen, passiven Volk von Untertanen, dem Bildung ebenso vorenthalten werde wie die Wahrheit über den aktuellen Stand der Dinge und über die eigene Geschichte.
Knapp zusammengefaßt heißt es dazu im Schlussbericht des Verfassers: „Die Russen haben nichts Eigenes als den Gehorsam und die Nachahmung; die Leitung ihres Geistes, ihr Urteil, ihr freier Wille gehören dem Kaiser an. In Russland gehört die Geschichte zum Krongut; sie ist das geistige Eigentum des Fürsten, wie die Menschen und die Erde sein materielles Eigentum sind …“ – Wesentlichen Anteil an diesem generellen Missstand habe die russisch-orthodoxe beziehungsweise die „byzantinische“ Kirche, die der despotischen weltlichen Macht stets zu Diensten gewesen sei und nichts zur Bildung und Aufklärung der ihr ergebenen Volksmassen beigetragen habe.
Ein paar disparate Feststellungen aus de Custines Russlandbuch („Überblick der Reise“) mögen zumindest punktuell dessen Gesamtanlage und Kernthese vergegenwärtigen: Alles ist hier „entsetzlich regelmäßig“, ist von einer so „vollständigen Gleichförmigkeit“, wie sie nur durch „gewaltsame Mittel“ hat durchgesetzt werden können. – In Russland ist „Götzendienerei das Prinzip der Staatsverfassung“, der absolute und allwissende Herrscher eine „gekrönte Lüge“. – Regent und Regierung „denken am wenigsten […] an die Bedürfnisse des Landes, über das sie herrschen“. – Russlands „einzige ursprüngliche und eigentümliche Fähigkeit“ besteht darin, auf ebenso „feindselige“ wie „kindische“ Weise „die Erfindungen der Fremden nachzuahmen“, weshalb denn auch „sein Nationalcharakter unter dem Entlehnten sich verwischt“. – Russland ist ein geschichtsvergessenes Volk; einzig Peter der Große hat als „genialer Barbar“ Geschichte gemacht, indem er das Land (nicht aber die Leute) europäisierte und den Staat für alle Zeit zu einem „Scheinwerk“ machte. – Der Fremde mag in Russland mit Glanz und Gloria empfangen werden, doch ungern gibt man ihm Einblick in innere – private wie institutionelle – Angelegenheiten, da man ihm grundsätzlich misstraut, ihn stets für einen Eindringling hält. Eben deshalb bemühen sich die Russen (Personen wie Behörden) immer, „etwas zu verbergen“, und um „die Sachen unter falschem Lichte zu zeigen, lügen sie im Bösen, wie sie im Guten lügen, so lange sie auf eine gutwillige Leichtgläubigkeit rechnen zu können glauben.“ – Schlussfolgerung: „Das gesellige Leben in diesem Lande ist eine permanente Verschwörung gegen die Wahrheit. Wer sich nicht täuschen lässt, gilt als Verräter […], ist ein Attentäter gegen die Sicherheit des Staates und des Kaisers und zieht damit das Schicksal eines Revolutionärs, eines Verschwörers, eines Ordnungsgegners, eines Majestätsverbrechers auf sich …“
Offizielle Ordnung (Bürokratie, Polizei, Zensur) erweist sich hier durchwegs als Vorwand und Form staatlicher Repression. – Noch gibt es in Russland keine eigenständige Justiz; Recht, Gerechtigkeit, Menschenwürde kommen nicht zum Tragen; Gewalt ist „das Grundprinzip des Staates“; der Strafvollzug zeugt von äusserster Willkür und Brutalität (innere Verbannung, Straf- und Arbeitslager, exzessive Körperstrafen). – In ihrer geistigen Erscheinung hat der aufmerksame Franzose die Russen insgesamt, also Angehörige aller Gesellschaftsbereiche, wie folgt wahrgenommen: „… die Grundlage ihres Charakters scheint eine außerordentliche Empfindlichkeit in Verbindung mit großer Härte zu sein. Eine hellblickende Eitelkeit, der Scharfsinn der Sklaven und eine sarkastische Feinheit sind die vorstehenden Züge ihres Geistes.“
Erst auf den letzten Seiten seiner ausufernden Reportage wagt Astolphe de Custine eine über das Berichtsjahr 1839 weit hinausweisende Prognose zu Russlands politischer Zukunft und seinem Verhältnis zu Europa. Die Prognose ist ebenso unsentimental wie düster – düster deshalb, weil sie den heutigen Beziehungsstatus zwischen der nach wie vor autoritären russischen Grossmacht und der kleinteiligen europäischen Staatengemeinschaft präzise vorzeichnet.
Der Autor zeigt sich von seinen eigenen Voraussagen schockiert, obgleich er sie rational herleiten und begründen kann. Sowohl seine Recherchen in Russland wie auch sein begleitendes Studium der russischen Geschichte brachten ihn (in merklicher Übereinstimmung mit Alexis de Tocqueville) zur Überzeugung, das Zarenreich sei eine „wesentlich erobernde Nation“, die zur „Tyrannei über andere“ neige, um die eigene Unterdrückung und ständige Entbehrungen zu kompensieren – ihre fatale Stärke liege „im Krieg, d. h. in der List und in der Rohheit“. Diese Stärke werde umso bedrohlicher, je schwächer in Europa der geistige und politische Zusammenhalt sei: „Russland sieht in Europa eine Beute, die ihm früher oder später durch unsere Uneinigkeiten zugeführt werden wird; es schürt bei uns die Anarchie in der Hoffnung, die Verdorbenheit zu nutzen, die es begünstigt hat, weil sie seinen Plänen dienlich ist …“
Das liest sich wie eine Situationsbeschreibung des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen Russland und Europa, und auch de Custines diesbezügliche Mahnung sollte in aktuellem zeitgeschichtlichem Kontext ernstgenommen werden: „Man muss in dieser Einsamkeit ohne Ruhe, in diesem Kerker ohne Muße, den man Russland nennt, gelebt haben, um ganz die Freiheit zu fühlen, die man in den andern Ländern Europas genießt, welche Regierungsform sie auch haben mögen.“
Schwankend zwischen Wunsch und Hoffnung stellt der hellsichtige Prognostiker abschließend fest: „Die Geschicke einer fortschreitenden, aufrichtigen und verständigen Zivilisation werden im Herzen Europas entschieden werden.“ – Voraussetzung dafür wäre ein geeintes, tatsächlich „beherztes“ Europa. Doch davon ist man heute angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der diesbezüglichen europäischen Rat- und Hilflosigkeit offenkundig weit entfernt.
Quellen. – Jüngste und vollständigste (kommentierte) Textausgabe: Astolphe de Custine, La Russie en 1839, Classiques Garnier, Paris 2015; Teilausgabe (kommentiert von Victor Erofeev): Astolphe de Custine, Résumé du Voyage en Russie en 1839, Editions Allia, Paris 1995; deutsche Teilübersetzung: Astolphe de Custine, Russische Schatten (Prophetische Briefe aus dem Jahre 1839), Nördlingen 1985 (Nachdruck der stark gekürzten ersten deutschen Ausgabe, Leipzig 1843; eine integrale deutschsprachige Fassung des Werks liegt nicht vor).
Erstellungsdatum: 14.12.2025