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Saisonstart: Goethes „Faust“ (1 & 2) in Frankfurt

Das fängt ja gut an

Martin Lüdke


Faust I & II. Foto: Thomas Aurin

Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft – das sagt sich so mephistophelisch leicht dahin. Doch wer weiß denn, was damit gemeint ist? Goethe hat den ersten volkstümlich-kritischen Teil des „Faust“, aber auch den visionären, weit ausgreifenden zweiten Teil mit paradoxen und aporetischen Sentenzen durchsetzt, die einem zu denken geben. Dass der gesamte „Faust“ für allfällige gesellschaftspolitische Interpretationen taugt, beweist, dass er nicht von gestern ist. Die Version, die jetzt in Frankfurt Premiere hatte, ist bei Martin Lüdke auf positive Resonanz gestoßen.

Faust. Goethe. Heute? In Frankfurt. Ein erfreulich ambitionierter, ein höchst anspruchsvoller Start in die neue Spielzeit. Und dazu: ein Statement. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Hessen (!) das National-Monument deutscher Dichtung gerade aus dem Lehrplänen ihrer Schulen gestrichen haben, weil sie (zu recht?) davon ausgehen, dass sich die jungen Leute von heute kaum noch für die Verführungskünste eines von diabolischen Kräften geleiteten Gelehrten interessieren, der sich zudem vom Teufel selbst durch Welt und Zeiten geleiten lässt. Ob diese Kultur-Bürokraten dabei selbst vom Teufel geritten worden sind, ist eine andere, auch interessante Frage. Sicher nur, dass jede neue Faust-Inszenierung sich den daraus folgenden Fragen zu stellen hat.

I

Das Licht im Zuschauerraum geht langsam aus. Auf der riesengroßen Bühne des Frankfurter Schauspiels, der größten Deutschlands, die bereits offen, aber völlig leer ist, putzt in der hintersten (linken) Ecke noch ein nur mit einer Kittelschütze bekleidetes Wesen mit Schrubber und einem Wassereimer sorgfältig den schwarzen Boden. Es wird sich bald zeigen, dass hier, noch als Saubermann verkleidet, bereits Mephisto am Werk ist. Im Vordergrund, an der Rampe, liegt grau, einfarbig grau, wie es grauer nicht geht, von den Füßen/Schuhen bis zu den Haarspitzen, ein lebloses, noch leicht zu übersehendes Wesen, das sich bald als Faust (der alte Faust) entpuppt, und in der Folge mal von der einen oder der anderen Figur durch die (eher spärliche) Handlung geschleppt wird. (Eine mächtige und kühne Deutung, die sich hier bereits andeutet!)

Nach einigen Eingangsgeplänkel, in dem Wolfgang Koch, ein wunderbar wandlungsfähiger Mephisto, gleich mehrere Rollen übernimmt, also Gott und Teufel sich in seiner Person vereinigen lässt, da geht es los – auf einer eindrucksvollen Geisterbahn, die aus dem Bühnenhintergrund nach vorn gefahren wird (Bühne, großartig und perfekt, Julia Kurzweg). Eine regelrechte Spitztour durch den ganzen Faust I, die in guten zwanzig Minuten absolviert wird. Ein Schnellkurs, der alles mal flott in Erinnerung ruft, was früher in den Schulen, teilweise gründlich, durchgekaut worden war. „Habe nun, ach!, Philosophie ...“; „Vom Eise befreit ...“; „Das also war des Pudels Kern ...“ ;„Mein schönes Fräulein, darf ich’s wagen...“, bis zum bitteren Ende: „Heinrich, mich graut’s vor dir.“ Der Text ruft also fast alle der berühmten Stellen auf, präsentiert also fast ausnahmslos alle die einst in den Bildungsschatz des einstigen Bildungsbürgers eingegangenen Zitate. Kaum mehr. Aber eine passende Erinnerung auch, die sich noch einmal fast liebevoll an eine vergangene Kulturpolitik anschmiegt. Heute heißt es bedenkenlos forsch: „Kehrt Marsch! Und Goethes Faust bekommt das consilium abeundi, also den Rat, sich aus dem Staub zu machen.

Dazu passt die eingangs angetretene Fahrt mit der Geisterbahn durch das Gespensterhaus wie die anderweitig berühmte Faust aufs Auge. (Auch Kalauer, und Schüttelreime, pflanzen schließlich den Weg des die Erlösung Suchenden.)

II

Die Reise Fausts „von der Unseligkeit zur Erlösung“ (G. Lukacs) sollte nämlich eine kondensierte Darstellung der Menschheitsgeschichte präsentieren und dabei den Helden als ein konkretes Individuum auf seinen Weg durch die Zeiten schicken. Mit geschichtsphilosophischer Zuversicht sah der ungarische Philosoph den Goethischen Helden durch die Weltgeschichte wandeln. Tatsächlich bieten sich solcher Deutung hinreichend Anknüpfungspunkte. Auch deshalb machte Goethes Faust noch über das 19. Jahrhunderts hinaus so mächtigen Eindruck auf unsere (nicht nur) europäischen Nachbarn, die sich zu vielfältiger Verwendung des Stoffs inspirieren ließen. Der wissensdurstige Gelehrte, der, um des Fortschritts willen, seinen teuflischen Pakt einging, wurde gerne auch entsprechend geschichtsphilosophisch aufgeladen. Etwas später dann, bei Adorno, war davon kaum noch etwas zu spüren. Adorno verwandelt die historische Zuversicht in seine negative Dialektik und half Thomas Mann bei seiner tief pessimistischen Deutung des Stoffs, die Rücknahme des Versprechens aller großen Kunst. Erlösung ist nicht. Beide, Lukacs und Adorno, die einst an einer Strippe zogen, doch dann zu Kontrahenten wurden, haben sich noch an Faust abarbeiten müssen, weil die Stellung zu dieser Figur etwas aussagte über die eigene Stellung zum Lauf der Dinge. In der Auseinandersetzung mit Goethes Faust konnte man ja erkennen, was die Stunde geschlagen hat. Fragt sich jetzt: auch heute noch?

Jan-Christoph Gockel, der Regisseur, sucht die Aktualität dieses Stoffs nämlich auch, vielleicht etwas zu plakativ, auch auf der gegenüberliegenden Seite seiner Spielstätte, in den Bürotürmen des Frankfurter Bankenviertels. In einer Video-Aufzeichnung lässt er die Puppe des alten Faust auf den Treppen zur Straßenbahn vor dem Frankfurter Schauspiel liegen, um die vorbei eilenden Passanten mit diesem Anblick zu irritieren. Und eine Kamerafahrt an der Fassade des gegenüberliegenden Hochhauses soll uns offenbar die Macht des Kapitals schon an der verspiegelten Oberfläche seiner Heimstatt zeigen. Gockel bezieht sich hier zwar auf Passagen des Stücks, in denen es noch nicht ums Ganze, wie Adorno zu sagen pflegte, aber doch immerhin ums Geld im Ganzen geht.


Faust I & II, Wolfram Koch, Thorsten Flassig. Foto: Thomas Aurin

III

Gockels Inszenierung präsentiert tatsächlich auf seiner überaus eindrucksvollen Bühne viele beeindruckende Bilder, so die wunderbarbar choreographierte Zeugungsszene, in der Melanie Straub als Helena mit Faust ihren Sohn Euphorion hervorbringt; er präsentiert, wie erwähnt, bereits eingangs in der Person von Wolfram Koch die Einheit von Gott und Teufel. Er zeigt uns, wie Mephisto dem deutschen Kaiser, der seiner Schulden nicht mehr Herr wird, seiner Schulden ledig wird, indem er das Geld, das fehlt, selber macht.

Gockel hat aus der Fülle des Stoffs eine, im Ganzen, schlüssige Auswahl getroffen.

IV

In „anmutiger Gegend“, in der humanistisch Gebildete Arkadien vermuten darf, da wacht Faust, vom „Geisterkreis“ umgeben, wieder auf, und das neue Spiel beginnt.

Faust II. Dabei geht es zügig an den Kaisers Hof, wo Mephisto, wie gesagt, sich anschickt, den in finanzielle Nöte geratene Herrscher aus der Bredouille zu helfen – indem er das Papiergeld erfindet, das sich problemlos vermehren lässt. Und Wagner, einst Famulus bei seinem Doktor, inzwischen selber promoviert, präsentiert nun seinen künstlichen Menschen, der allerdings bei beschränkter Tauglichkeit verharrt. In all diesen Episoden spielt Faust, als derangierte Puppe, oft einfach & unbeachtet am Bühnenrand liegend, (wie bei Goethe) eigentliche keine große Rolle mehr. Auch wenn er, siehe oben, kurz im Freien an der Straßenbahnhaltestelle vor dem Schauspielhaus frische Luft schnappen darf. Das bürgerliche Subjekt, als dessen Paradebeispiel Faust angetreten war, um seine Herrschaft auf den Globus auszudehnen, stellt sich dar als das, was es geworden ist, eine hilflose graue Puppe, hilflos den Gewalten ausgeliefert. Dafür rückt Mephisto immer stärker in den Vordergrund, was Wolfram Koch, so differenziert wie ausdrucksstark und eindrucksvoll auszuspielen versteht.

Der starke Einfall, den alten Faust als leblose graue Gestalt durch das Geschehen zu transportieren, hat, was das „Faustische“ angeht, mit dem sich ja einst ganze Generationen ausgiebig beschäftigen mussten, seine spürbaren Konsequenzen. Die tote Puppe, als die sich das einst so kühne Subjekt, das ausgezogen war, die Welt zu beherrschen, jetzt darstellt, verschiebt das Gewicht der Welt auf Mephisto, die teuflischen Kräfte. Das deutet sich an. Ganz ausgespielt wird es bei Gockel nicht. Zudem hätte er vom Willy-Brandt-Platz aus, dem Vorplatz des Theaters mitten im Frankfurter Bankenviertel, noch einen Schritt weiter gehen können: dorthin, wo heutzutage die Zukunft gemacht wird. Zur KI, der künstlichen Intelligenz. Darin steckt jetzt die Brisanz von Goethes Stoff. Wo Brecht einst den Epochenwandel mit der Bemerkung markierte, Banken raubt man nicht mehr aus, sondern gründet sie, da lässt sich heute eine neue Schwelle sichtbar machen.

V

Nachklang:

Ein ganzes, langes Leben lang hat sich Goethe mit diesem Stoff beschäftigt. Das fing mit dem Puppenspiel des Kindes an und endete wenige Tage vor seinem Tod mit einem Brief an Wilhelm von Humboldt. An eine Veröffentlichung zu Lebzeiten dachte er, aus guten Gründen, nicht. Er sah da, in vielerlei Hinsicht, zu viel Sprengstoff darin verpackt und wollte sich den zu erwarteten Ärger ersparen.

Diesen Ärger zu produzieren hätte heute wohl jede zeitgemäße Inszenierung als Aufgabe vor sich. Gockel bietet schon Ansätze.

Die Diagnose, die Adorno in seinem kleinen Essay „Zur Schlußszene des Faust“, einst stellte, hilft uns, wiewohl kaum zu bestreiten, kaum noch wirklich weiter. Adorno schrieb: „Auch objektiv ist wohl heute alles verwehrt, was irgend dem Daseienden Sinn zuschriebe“. Das trifft auch alle Versuche, Goethes Faust zu deuten.

Doch Adorno ist, auch mit Dragoslav Stepanowic, entgegenzuhalten: Lebbe geht weiter. Goethe war die Ambivalenz des Fortschritts bewusst. Der Blick, den Gockel darauf öffnet, lässt ahnen, wo es künftig lang gehen könnte. Gut über vier Stunden lang, aber nicht zu lang. Eine aufwendige Inszenierung, bei der nicht nur die Schauspieler durch ihre Spielfreude glänzen konnten, sondern auch die Technik Erstaunliches geleistet hat.

Der Beifall war entsprechend kräftig.

Johann Wolfgang von Goethe
Faust I & II
 
Regie: Jan-Christoph Gockel
Bühne: Julia Kurzweg
Kostüme: Janina Brinkmann
Puppenbau: Michael Pietsch 
 
Mit Wolfram Koch, Thorsten Flassig, Lotte Schubert, Melanie Straub 
 
Weitere Vorstellungen:

 
Do. 26.09.2024
18.30
 
Fr. 27.09.2024
18.30
 
Mo. 30.09.2024
18.30
 
Mi. 02.10.2024
18.30
 
Sa. 12.10.2024
18.30
 
Sa. 19.10.2024
18.30
 
So. 27.10.2024
16.00
 
Mi. 30.10.2024
18.30
 
Alle Vorstellungen sind ausverkauft
evtl. Restkarten an der Abendkasse

Erstellungsdatum: 24.09.2024