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Ein Porträt des Komponisten Roger Moreno-Rathgeb

Das Requiem für Auschwitz – ein Echo des Erinnerns

Cornelia Wilß


Roger Moreno-Rathgeb. Foto Alexander Paul Englert

Roger Moreno-Rathgeb, Komponist und Nachfahre von Sinti, hat mit dem „Requiem für Auschwitz“ ein einzigartiges musikalisches Denkmal geschaffen. Das Werk, 2012 uraufgeführt, ist eine Widmung an die im nationalsozialistischen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordeten Sinti und Roma. Anfang November 2025 wurde das Requiem im HR-Sendesaal in Frankfurt erneut aufgeführt – interpretiert von den Roma- und Sinti Philharmonikern unter der Leitung von Riccardo M. Sahiti. Das Requiem ist eine Botschaft gegen Krieg, Hass, Vorurteile und jede Form von Diskriminierung. Cornelia Wilß stellt den Komponisten vor.

Rückschau

Der 30. September 2018 markierte für die Roma und Sinti einen besonderen Moment – nicht nur für die in Frankfurt lebenden Angehörige der Minderheit. Auf dem Römerberg fand das Festkonzert „600 Jahre Sinti und Roma“, aufgeführt von den Roma und Sinti Philharmoniker statt. Die Verbindung der Roma zur Stadt am Main reicht weit zurück. Der älteste Nachweis ihrer Präsenz in Frankfurt stammt aus einer im Institut für Stadtgeschichte überlieferten Abschrift von Rechnungsbüchern. Ein Eintrag aus dem Jahr 1418 berichtet von Roma, die einst auf dem Römerberg musizierten und tanzten. Dabei könnte es sich sogar um „den ersten dokumentierten Auftritt der Roma nördlich der Alpen“ handeln – ein Hinweis darauf, wie lange die Minderheit der Roma und Sinti bereits Teil der europäischen Kulturgeschichte ist.

Am Rand der großen Bühne steht der Schweizer Sinto-Musiker Roger Moreno-Rathgeb. Regungslos blickt er ins Publikum, das an diesem milden Septembermorgen zahlreich auf den Römerberg gekommen ist. Er wartet auf einen besonderen Moment: die Uraufführung seiner Gypsy Rhapsody Nr. 1 op. 15. Das Werk hat er eigens für diesen Anlass komponiert – und den Roma- und Sinti-Philharmonikern gewidmet. Bekannt geworden ist Moreno als Komponist des Requiems für Auschwitz. Das monumentale Werk wurde am 3. Mai 2012 in Amsterdam uraufgeführt von den Roma- und Sinti-Philharmonikern unter der Leitung seines musikalischen Weggefährten, des in Frankfurt lebenden Dirigenten Riccardo M. Sahiti. Die Premiere fand in der Nieuwe Kerk statt, seit 1814 Krönungskirche der Niederlande.


Roger Moreno-Rathgeb. Foto Alexander Paul Englert

Wer ist Roger Moreno-Rathgeb?

Der Musiker ist in der Schweiz aufgewachsen und erinnert sich in einem früheren Gespräch, das ich mit ihm führte, daran, dass sie in der Schule „Moreno“ hinter ihm herriefen, also „hey Schwarzer, Schwarzer“ oder „hey Zigeuner“, „weil ich eine dunklere Hautfarbe als die anderen hatte. Wenn ich von solchen Erlebnissen zu Hause erzählte, bekam ich keine Antwort von meinen Eltern auf die Fragen, die mich beschäftigten, nämlich was mit mir los sein könnte und warum ich ein dunklerer Typ sei. Aber ich habe irgendwie gespürt, dass ich anders war. Kinder riechen so etwas. Als ich dann im Alter von etwa zwölf Jahren erfuhr, dass meine Mutter einen Sinti-Hintergrund hat, löste das für mich zunächst eine Identitätskrise aus. Aber es bestätigte mein Gefühl, nie ganz dazugehört zu haben. Ich gehöre nicht in dieses System, obwohl ich bürgerlich aufgewachsen bin. Das wusste ich schon als junger Mensch“. Wer hat sein musikalisches Talent gefördert, will ich wissen. Alles begann mit einer Gitarre, erzählt er, die ihm die Großmutter schenkte. Die Eltern hielten nichts von seinem Drang und Wunsch, am Konservatorium Musik zu studieren. Der Vater meinte: „Musiker werden nur die, die zu faul sind, um zu arbeiten. Lerne was Richtiges, als Musiker kannst du keine Familie ernähren. Das mag ja stimmen, aber niemand hat mich gefragt, ob ich eine Familie haben will.“ Den Jungen davon abzuhalten, ein Musikerleben zu führen, haben die väterlichen Mahnungen nicht vermocht. Der junge Roger nahm mit dem Kassettenrekorder Lieder auf, sagt heute, dass er damals wohl ein Singer-Songwriter war. Im Jahr 1976, als er in einem Schallplattengeschäft arbeitete, hörte er zum ersten Mal Django-Reinhardt-Platten; ein Jahr später schloss er sich dem String Jazz Quintett als Rhythmus-Gitarrist an. „In der Schweiz waren wir damals die einzige Gruppe, die diese Art von Jazz spielte. Wir sind 1979 und 1980 auf ,große‘ Tournee gegangen. Das war eine schöne Zeit. Sie wissen schon: diese jugendliche Leichtigkeit…“ 1980 lernte er das Gypsy Ensemble Nello Basily kennen und sorgte dafür, dass die Basiliy-Familie mit auf Konzertreise ging. „Die haben sich ihren Wohnwagen geschnappt und sind hinter uns hergefahren“.

Moreno ist sieben Jahre mit dem Ensemble gereist. „Das war eine wichtige Zeit für mich, weil ich dort die Gesetze und Regeln der Roma-Kultur kennengelernt habe …Wir haben mit Streichinstrumenten gehandelt und sie repariert … Der Vater spielte Geige und Kontrabass, die Mutter Cembalo und Klavier, sogar ihr kleiner Junge konnte schon früh Geige spielen. Weil man im Wohnwagen etwas beengt lebt und nicht so viele große Instrumente mitführen kann, war ich mit der Gitarre oft der einzige Begleiter. Der Alte fand, dass das nicht genug Lärm mache, die Begleitung müsse stärker sein. Da drückte er mir ein Akkordeon in die Hand und zeigte mir die halben Töne und die ganzen. Damit meinte er Dur und Moll. Den Rest habe ich mir selber beigebracht.“ Die Gruppe war sehr erfolgreich und spielte sogar für das holländische Königshaus. Irgendwann in den späten achtziger Jahren ging man auseinander, und Moreno gründete das Gypsy Swing Quintett. Vom Swing zum Requiem für Auschwitz – das klingt nach einem weiten Weg. Wie konnte es dazu kommen? „Bis 1998 habe ich mich mit der Vernichtungsgeschichte der Roma und Sinti nicht intensiv beschäftigt. Das änderte sich, als ich 1998 eingeladen war, auf einem Roma-Festival in der Nähe von Auschwitz zu spielen“, erzählt Roger Moreno-Rathgeb. Es war das erste Mal, dass er nach Oświęcim fuhr. Und es war nicht das letzte Mal, zweiundzwanzig Mal ist Moreno seitdem dorthin gereist und den Wegen der Ermordeten gefolgt. „Ich hatte nicht erwartet, dass es mich so umhauen würde. Schon dort begann ich darüber nachzudenken, für die Opfer unter der Minderheit der Roma und Sinti eine Erinnerung zu komponieren, um ihr unermessliches Leid zu würdigen. An die brutale Ermordung der Roma und Sinti in den Vernichtungslagern erinnerte in Auschwitz damals nichts.“


Riccardo M Sahiti und Roger Moreno-Rathgeb. Foto Alexander Paul Englert

„Tag des Zorns“

Ein Requiem von sechzig Minuten Dauer für Sinfonieorchester, Chor und Solisten zu schreiben war sicher keine leichte Aufgabe, oder … Am Anfang, erzählt Moreno, habe er die Idee und den Willen gespürt, ein Stück zu komponieren. Auch ein Motiv hatte er schon im Kopf. Aber in welche Form sollte er das Erinnern gießen? In seiner freien Zeit sang er damals im Maastrichter Männerchor. Dort lernte er, immer besser, Noten zu lesen, und erkannte die Möglichkeiten, die der Klangfarbe eines Chores innewohnen. Ein Dirigent, dem er von seinem Vorhaben erzählte, meinte: „Schreib doch ein Requiem!“

„Zunächst wusste ich nicht, was ein Requiem ist. Ich bin nicht katholisch aufgewachsen. Ich kannte den Text der Liturgie nicht und konnte ihn auch nicht lesen. So entstand ein langer Kampf mit mir selbst. Zuerst musste ich mir den formalen Aufbau klarmachen. Deshalb ging ich in Maastricht in die Bibliothek und lieh mir einige Partituren von Mozart und Verdi und das Deutsche Requiem von Brahms aus. Ich war froh, im Index zum Verdi-Requiem neben dem lateinischen Text auch die englische und deutsche Übersetzung zu finden. „Dies irae“ bedeutet „Tag des Zorns“. Darin wird über den Abgrund der Hölle gesprochen. Das verstehe ich nicht im kirchlichen Sinne als Fegefeuer. Ich bin zwar ein gläubiger Mensch, aber ich bin nicht religiös. Für mich bedeutet die Hölle auf Erden: Auschwitz!“

Erste Strophe aus dem Requiem für Auschwitz,
vertont von Roger Moreno-Rathgeb

Dies Irae
Requiem aeternam dona eis, Domine,
Et lux perpetua luceat eis.
Te decet hymnus, Deus, in Sion,
Et tibi reddetur votum in Jerusalem.
Exaudi orationem meam,
Ad te omnis caro veniet,
Kyrie eleison.
Christe eleison

Tag des Zorns
Ewige Ruhe gib ihnen, Herr,
und ewiges Licht leuchte ihnen.
Dir, Gott, gebührt Lobgesang in Zion
und dir soll das Gelübde erfüllt werden in Jerusalem.
Und Anbetung soll dir werden in Jerusalem
Erhöre mein Gebet, Herr.
Zu dir wird kommen alles Fleisch.
Herr, erbarme dich!
Chistus, erbarme dich!

Als Nächstes musste er lernen, wie man das Lateinische ausspricht. Dazu suchte Moreno in seiner Umgebung ein Kloster auf. „Ein Mönch hat mir die Worte mit der richtigen Betonung vorgelesen, die ich dann in meine Komposition übertragen konnte. Vor allem wollte ich dissonante Töne vermeiden. Wenn man an Musik und Auschwitz denkt, erwarten die meisten etwas Düsteres, schräge Töne, ein Stück voller Dissonanzen und Disharmonien. Eben das wollte ich aber nicht vermitteln. Mein Requiem klingt harmonisch und melodiös.“ (Requiem for Auschwitz – complete concert registration of the world premiere in Amsterdam).

„Erinnerung und Identität“

In Frankfurt wurde an der Goethe-Universität kürzlich der Dokumentarfilm „Requiem for Auschwitz“ mit deutschen Untertiteln des niederländischen Regisseurs Bob Entrop gezeigt und diskutiert. Entrop, der bereits 2007 mit „A Blue Hole in the Sky“ den Holocaust an den Sinti und Roma in das kollektive Gedächtnis seines Landes rief, kehrt auch in diesem Film zu diesem Thema zurück, lässt Überlebende zu Wort kommen und dokumentiert die Entstehung des "Requiem for Auschwitz". Im Mittelpunkt: der Komponist Roger Moreno-Rathgeb. Im ersten Film spricht Moreno darüber, dass er, als er in der letzten Phase des Schreibprozesses für sein Requiem war, in eine Schaffenskrise geriet. Blockade. Leere. Trauer. Keine Inspiration …. Die Vollendung des Requiems habe ihm körperliche und seelische Qualen bereitet. Er sagt, er hätte Zeit gebraucht, um das Gesehene psychisch zu verarbeiten. Es war Albert Siebelink im Jahr 2007, Direktor und Veranstalter des alljährlichen International Gypsy Festivals im niederländischen Tilburg, der ihm den entscheidenden Anstoß gab, das Requiem fertigzustellen. „Wir sprachen auch darüber, dass es am schönsten wäre, wenn Roma- und Sinti-Musiker das Werk aufführen könnten. Den Rest der Geschichte kennen Sie. Ich sprach Riccardo an, den ich 2004 kennengelernt hatte, und legte ihm die Partitur vor. Er konnte gar nicht glauben, dass jemand ohne ein Hochschulstudium sie zuwege gebracht hatte, aber nachdem er sie gelesen hatte, war er überzeugt. Und dann kam der 3. Mai 2012, der Tag, an dem das Requiem in Amsterdam uraufgeführt wurde, in einer Kirche, in der die niederländische königliche Krönungszeremonie stattfindet. Damals ist eine große Last von mir abgefallen.“

„An Auschwitz gewöhnt man sich nie“

In „Requiem for Auschwitz“ begleitet der Regisseur den Komponisten nach Berlin. Dort spielt er am „Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas“, gelegen im Ausläufer des Tiergartens zwischen Reichstagsgebäude und Brandenburger Tor, sein Akkordeon. Erdacht und konzipiert hat die Gedenkstätte der polnisch-jüdische Architekt Dani Karavan. „O Kalo Phani“ – das Becken mit dem schwarzen Wasser, an dem Moreno steht, sei ein Symbol für die Vernichtung der Roma und Sinti im Holocaust. Später in Entrops Film blickt er in einen Teich im Lager Birkenau. Es war die „Endstation“, denn dort hat man die Asche aller in den Krematorien verbrannten Menschen „entsorgt!“. Das Wasser sei auch heute noch pechschwarz, sagt Moreno im Beisein von vier niederländischen Musiker*innen, die ihn bei seinem Gang durch den Lagerkomplex Auschwitz, durch die „Straßen der Hölle“, begleiten. Er zeigt ihnen die Orte, die ihn zu bestimmten Passagen des Requiems inspiriert haben: die Bahngleise; Fotos der Ermordeten im Museum; „keine Familie, die unverschont blieb“; die Koffer, die Becher, die toten Schuhe, die Haare, die Gaskammern, die Krematorien und überall, sagt Moreno, die „Schreie, die noch in den Steinen stecken“ und eben der  schwarze Teich, der zur Grabstätte für Millionen von Menschen wurde. Das Barackenlager, das die Kamera abfilmt, ist in dem Film wie leergefegt: Keine Touristen. Keine Schülergruppen. Niemand ist zu sehen. Die Wege, die Baracken vermitteln eine bedrückende Ruhe. Nur Roger Moreno-Rathgeb, sein einsames Erinnern, fängt die Kamera ein. Am kommenden Tag, erzählt der Regisseur, wurde das Lager vorerst geschlossen: eine Corona-Vorsichtsmaßnahme. Auch Birkenau vorerst geschlossen. Das Filmteam erwischt den letzten Flug nach Holland, bevor auch der Flughafen geschlossen wird. Immer wieder zeigt der Film Szenen aus den Proben und der Aufführung des Requiems im Berliner Dom am 26. Januar 2020. Am Vorabend des Internationalen Holocaust-Gedenktages führten die Roma-und-Sinti-Philharmoniker gemeinsam mit dem Synagogal Ensemble Berlin das „Requiem für Auschwitz im Berliner Dom auf. Gemeinsam musizierten sie zur Würdigung der Opfer und Überlebenden sowie zum Gedenken an den 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau – ein lebendiges Gedenken an alle Opfer des Holocaust.

 

 

 

Filmposter Requiem für Auschwitz

 

Roger Moreno-Rathgeb, geboren 1956, wächst als Sohn eines Schweizers und einer Sintiza in Zürich auf und lebt jetzt im niederländischen Vaals im Dreiländereck an der Grenze zu Deutschland und Belgien. Er beginnt bereits im Alter von 15 Jahren seine berufliche Laufbahn als Komponist und Musiker mit ersten bezahlten Auftritten als Gitarrist und Schlagzeuger gemeinsam mit einem Schulfreund. 1974 gewinnt er mit seinem Song „Krieg dem Krieg“ eines Songwriter-Wettbewerbs in Zürich und beginnt ein Jahr später eine Tournee mit einem eigenen Soloprogramm.
Er wird Mitglied verschiedener musikalischer Formationen und leitet seit 1987 das „Gypsi Swing Quintett“. Mit ihm produziert er 1988 die erste LP und 1993 eine CD und tritt 1992 und 2001 vor der niederländischen Königsfamilie auf. 1995 entsteht seine erste klassische Komposition, ein sinfonisches Gedicht mit dem Titel „The Gypsy Carawan“. Es folgen seine erste Sinfonie („Die Polnische“) und die „Rhapsodie Espagnole Nr. 1“.
Bereits 1998 beginnt er mit der Komposition des „Requiem für Auschwitz“, das er 2009 fertigstellt. Dessen Welturaufführung findet mit den Roma und Sinti Philharmonikern 2012 in der Nieuwe Kerk in Amsterdam statt. Bis heute ist das Requiem in vielen europäischen Städten aufgeführt worden. Im Jahr 2007 wird er künstlerischer Leiter und Arrangeur des Gypsy-Ensembles „Tabor“, mit dem er bis heute – selbst zumeist als Akkordeonist zu hören - unterwegs ist. 

 

Erstellungsdatum: 26.11.2025