Der Wolgadeutsche Kirill Beregow alias Carl Berger „hat schon die Erfahrung gemacht, dass auch das Unmögliche nichts anderes als eine Form des Möglichen ist, und die Verwirklichung dieser Möglichkeitsform – das Leben.“ So hat Felix Philipp Ingold den realen Beregow ins literarische Leben gebracht und dessen Biografie aufgrund von Fundstücken gestaltet. In unserem Ausschnitt zeigt er ihn als Oberst der 3. Ukrainischen Front mit seinen Infanterieverbänden bei der Eroberung Wiens.
Für die Avantgarde der Sowjetarmee, die sich vom Balkan und vom Balaton her mit ihren schwach koordinierten Fronten auf Wien zu bewegte, war das Kriegsende – also der Sieg – fast schon erreicht, als im März 1945 den Soldaten und Offizieren durch einen Erlass des Oberkommandos einerseits erlaubt wurde, ab sofort „Kriegstrophäen“ aller Art per Feldpost nach Hause zu schicken, und man ihnen anderseits „drei Urlaubstage“ in Aussicht stellte, sobald die Stadt eingenommen und definitiv von den Faschisten befreit sein würde. Für die gut vierhunderttausend Armeeangehörigen war der Erlass gleichbedeutend mit einer Lizenz zum Plündern, Rauben, Vergewaltigen. Nichts Unrechtes. Krieg ist Krieg. Liegt in der Natur der Sache. Wozu denn also der Erlass?
„Natürlich sind all meine Leute begeistert und freuen sich auf die letzte Schlacht“, notierte damals Kirill Beregow in seinem Fronttagebuch; und: „Ich auch.“
Im Rang eines Obersten der 3. Ukrainischen Front führte Genosse Beregow seine Infanterieverbände nun an die Stadt heran. Der Vormarsch verlief zügig, militärischen Widerstand gab es kaum, die Bevölkerung verhielt sich mehrheitlich skeptisch und kooperierte eher unwillig mit den Befreiungstruppen. Wovon ... von wem eigentlich sollten die Russen Österreich befreien? Die Wehrmacht, seit Jahren wohl gelitten als Schutzmacht, war ja noch da, kaum sichtbar zwar, aber womöglich würde sie aus ihren Rückzugsgebieten – aus den Wäldern im Donaugau, aus dem Himmel überm Alpengau – noch einmal zuschlagen. Also schaute man weg, wartete ab, sorgte vor.
Erst als die Verbände unmittelbar vor Wien standen und Beregow aufgrund eines unerwarteten, für ihn nicht nachvollziehbaren Befehls des Divisionskommandos in einem großen peripheren Bogen zur Donau und stromauf bis
zum Prater vorrückte, kam es zu vereinzelten heftigen Kampfhandlungen, zu punktuellen Angriffen aus dem Hinterhalt, zu Sabotageakten, was nicht nur auf beiden Seiten zu schweren Verlusten führte, sondern auch dazu, dass Beregow die Verbindung zu einem seiner Bataillone verlor und schließlich am ı2. April - mit einem ziemlich ungeordneten Haufen völlig erschöpfter und desorientierter Rotarmisten im Stadtzentrum stand, wo ein wundersames Ensemble von qualmenden Trümmerbergen und imposanten, völlig intakten Fassaden wie eine Opernkulisse im diffusen Abendlicht aufschien.
Hier war nun alles möglich, dürfte Beregow sich gedacht haben. Alles, was hier geschehen würde, war eine Sache, war ein Fall für sich, war eine mit allen Sinnen fassbare Möglichkeitsform, die vieles andere, vorab die so genannte Wirklichkeit, augenblicklich in die Trivialität zurücktreten ließ. Drei-, viertausend Kilometer hatte Beregow zu Fuß, zu Pferd, mit dem Fahrrad, im Kampfpanzer, im LKW, im Propagandabus zurückgelegt, hatte Steppen und Sümpfe und Schmerzen und Wälder durchquert, Seen und Flüsse forciert, Gebirge und Hunger und Skepsis überwunden, Teilsiege errungen, Rügen eingesteckt, Menschen gejagt, Familien ausgelöscht, Häuser und Baumgärten und Kirchen und Viehställe zerstört, Kameraden gerettet oder auch nicht gerettet, und bei alldem hatte er vielleicht, ohne sich dessen bewusst zu sein, die entscheidenden Lehrjahre seines Lebens absolviert, seine Herzensbildung, die ihm zur höchsten Errungenschaft dieser Jahre verhalf, zu seiner Gleichgültigkeit.
Gleichgültig sah er nun zu, wie seine Leute – „Soldatiki!“, schrie er ihnen nach, doch keiner hörte mehr hin – ihren dreitägigen Urlaub antraten.
Befehle brauchte er nicht mehr zu geben. Jeder war nun sein eigener Quartiermacher. Straßen und Plätze waren plötzlich wie leergefegt. Eine merkwürdige Ruhe hing über der verdunkelten Stadt, während hinter den Fassaden mit dumpfem Rumoren das Fest der Sieger begann. Es wurde gesoffen, geweint, vergewaltigt, gebetet, gewettet, geplündert, gesungen, gehandelt, gemordet, getanzt.
Zwei Nächte, drei Tage dauerte die Befreiung. Beregow war daran bloß als Beobachter und doch auch als Nutznießer beteiligt. Zusammen mit seinem Adjutanten patrouillierte er bewaffnet und ... aber ohne Auftrag ziellos durch die ausgepowerte Stadt, sah teilnahmslos zu, wie Ladengeschäfte und Apotheken und Marktstände und Privatwohnungen ausgeraubt wurden, wie man das Diebsgut in Koffern oder Jutesäcken oder auf Armeefahrzeugen abtransportierte. Darunter großformatige Gemälde, meist Landschaften und Portraits von Generälen oder von adligen Damen. Spiegel in üppig vergoldeten Rahmen. Kommoden und Stühle.
Zu Tausenden waren Sowjetsoldaten in Wien und Umgebung als Befreier unterwegs. Da und dort mischten sich Grüppchen von bunten, fröhlich kreischenden Frauen, halb noch Kinder, fast schon Nutten, unter die grölenden Scharen.
Die Einheimischen, soweit sie ihre Häuser zu verlassen wagten, drückten sich an den Wänden entlang, huschten von Gasse zu Gasse, verschwanden in diesem oder jenem Innenhof. „Wie würden Sie denn die damalige Stimmung beschreiben“
„Als gespenstische Abwesenheit. Als ein Gefühl von bedrängender Leere. Die Stimmung ergab sich aus dem Fehlen jeglicher Stimmung. Es war in jenen Tagen einfach alles so, wie es war. Total grau, total grausam. Ein einziger großer schattenloser Mittag, auch wenn es zwischendurch wieder Nacht und Morgen und Nachmittag wurde. Ein einziger zeitloser Augenblick. So jedenfalls kam es mir vor. So jedenfalls war es für mich, wenn ich meine Brille abnahm – ich trug damals noch die Gasmaskenbrille – und das nackte Gesicht in die Nacht hielt. Dann verschwammen mir über der abgedunkelten Stadt die Sterne zu einem Meer von schwach schimmernden, völlig reglosen eisigen Fettaugen. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, Oberst der Roten Armee, ein Deutscher von der Wolga, Stalinist und ... aber kein Kriegsheld. Was sollte da für eine Stimmung aufkommen?“
„Haben Sie auch … welche ... haben Sie auch irgendwelche Trophäen nach Hause geschickt?“
„Wie denn nicht! Mein Adjutant ... Sascha hieß er, Sascha Simonow ... besorgte mir in einem Fotofachgeschäft eine Contax Kleinbildkamera. Ich selbst ließ mir in einem Buchantiquariat das dreibändige „Kluge Alphabet: einpacken. Sascha wollte für sich unbedingt eine Mundharmonika haben. So etwas gab es bei uns in der Sowjetunion nicht.
Jedenfalls hatten wir beide nie zuvor eine Mundharmonika gesehen. Und dies und jenes kam dann noch dazu.
Ich behielt die Sachen bei mir, wollte sie nach meiner Demobilisierung im eigenen Gepäck nach Hause nehmen, Sachen, die zum großen Teil völlig unbrauchbar waren, an denen aber der Geruch oder der Glanz des Fremden hing, ganz gewöhnliche Sachen, für die es bei uns zu Hause damals überhaupt keine Verwendung gegeben hätte. Doch bis nach Hause war's noch weit – ich sollte mit dem Restbestand unserer Besatzungstruppen für anderthalb Jahre in Wien bleiben. Hatte ich die Trophäen vergessen oder verschenkt? Vielleicht auch verkauft! Ich weiß es nicht mehr.“
Einem Divisionsrapport zufolge war Kirill Beregow am 13. April gegen Abend zusammen mit Sascha Simonow in der Kärntner Straße auf Patrouille gewesen, um versprengte Einzelgänger der Wehrmacht oder des faschistischen Untergrunds dingfest zu machen, als aus einer Seitengasse unversehens eine Gruppe von sechs Personen lärmend und gestikulierend auf sie zu stürzte, angeführt von einer mädchenhaften Frau mit Kurzhaarschnitt, die beim Laufen eine Handfeuerwaffe über dem Kopf schwenkte, dann einen Schuss abgab, und noch einen, bevor sie, dicht gefolgt von ihren Kumpanen, mit offenen Armen und gebremstem Schritt auf die beiden Russen zuging, von denen der eine, Simonow, im selben Moment die Dienstpistole zog und die Anführerin aus kurzer Distanz niederstreckte.
Auch Beregow hatte seine TT gezogen und hielt die sonst unbewaffnete Gruppe in Schach, die nun, plötzlich erstarrt und völlig verstört, mit erhobenen Händen vor ihm stand, während aus der Gasse ein Mann in langem Mantel und mit breitkrempigem Hut humpelnd nachkam und den Russen schon von weitem krächzend zurief: „Dobró! Bitte, dobró! Warten! Bruderschaft! Dobrrró!..“
Oberst Beregow winkte den gestikulierenden Alten mit seiner Waffe zu sich heran. Der Mann sah aus wie em kommunistischer Klassiker, mit Knebelbart, mit stechenden Äuglein hinter schwarz gefassten Brillengläsern, mit hohem Kragen und breitem Schlips über dem Jackettausschnitt.
„Nein!“, sagte er und brach, als er die junge Frau tot daliegen sah, in kurzatmiges Schluchzen aus. „Wir sind doch Freunde!“, flüsterte er so nah an Beregows Gesicht, dass dieser seinen Atem spüren, einen Hauch von Rotwein wahrnehmen konnte.
„Hören Sie, Genosse Oberst, wir alle haben Sie erwartet, diese jungen Leute wollten Sie begrüßen, Sie, die Russen, unsere Befreier, Sie, die Vertreter des fortschrittlichsten demokratischen Staatswesens ... der Welt.“ Und so fort. Der Alte stellte sich als Dr. Karl Renner vor, Leiter des Komitees 05, das den ganzen Krieg über – „bis heute!“, wie er betonte – im Wiener Untergrund den antifaschistischen Widerstand organisiert habe. Und so fort. Beregow gab Simonow ein Zeichen, beide senkten die Waffen. Simonow nahm die Personalien auf, Beregow protokollierte Renners Aussage. Man sprach flüsternd.
Die tote Genossin lag in Sichtweite zusammengekrümmt am Boden. Auch die Russen versuchten nun, ihr Verhalten zu erklären, es als Notwehr zu rechtfertigen und gleichzeitig mit gewundenen Phrasen sich irgendwie zu entschuldigen. Sie waren die Befreier. Als Befreier hatten sie, auf der Suche nach faschistischen Kollaboranten und Saboteuren, in vermeintlicher Selbstverteidigung eine Sympathisantin ums Leben gebracht. Soviel konnte vor Ort geklärt werden.
Wieder gut zu machen war es nicht. Umso mehr war Beregow überrascht, als der alte Renner beim Abschied seinen Mantel öffnete, bedächtig in die Westentasche griff und ihm wortlos seine goldene Uhr überreichte. Beregow nahm die Uhr ebenso wortlos entgegen, steckte sie rasch und diskret weg. Ein Geschenk? Ein Pfand? Eine Provokation? Oder war die wertvolle Uhr nur einfach eine Trophäe, die dem Befreier zustand und die der Sieger sich ohnehin angeeignet hätte?
Aus: Felix Philipp Ingold, Alias oder Das wahre Leben. © 2011 MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH. Momentan vergriffen.
Erstellungsdatum: 14.07.2025