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Albéric Magnards Oper „Guercœur“ in Frankfurt

Demokratie versus Diktatur

Andrea Richter


Guercœur. Bianca Andrew (Bonté) und Domen Križaj (Guercœur). Foto: Barbara Aumüller

Um 1900 schrieb und komponierte Albéric Magnard die inzwischen fast vergessene Oper Guercœur, der gerade nach dem in der vergangenen Woche durch CDU und FDP erfolgten Bruch des Tabus, mit der in Teilen rechtsradikalen AfD gemeinsame Sache zu machen, besondere Bedeutung zukommt. Andrea Richter ersetzte im Verlauf der Erstaufführungs-Premiere in der Frankfurter Oper die Namen und Rollen der Protagonisten einfach durch die der genannten Parteien und verließ das Haus am Ende zutiefst aufgewühlt von der Frage: Wird es wirklich so weit kommen?

 

Dass Oper sehr oft politische Verhältnisse verhandelt, ist hinlänglich bekannt. Dass dermaßen direkt und detailliert System-, Ideologie- und Machterlangungsfragen erläutert und debattiert werden, ist im Musiktheater selten, wenn nicht einmalig. Durch eine kluge, jede plumpe Effekthascherei vermeidende Regie (David Hermann) plus Bühnenbild (Jo Schramm) beflügelt, wirken die politischen Aussagen, Handlungen und sich daraus ergebenden Probleme in Guercœur noch real-bedrohlicher, als es das Libretto ohnehin vorsieht. Es geht um nichts weniger als die derzeit virulente Frage: haben Demokratie und Freiheit eine langfristige Überlebenschance in unserem Land, in Europa, in der Welt? Um es kurz zu machen: in Guercœur nicht. Sie bleiben ein Ideal, ihre Verwirklichung wird in den Bereich Hoffnung verschoben. Weil ihre Aufrechterhaltung schwierig und oft konfliktbehaftet ist, zu zeitweiligen Frustrationen in großen Teilen der Bevölkerung führt und diese, durch geschickte Manipulation beeinflusst, einem populistischen, tyrannischen Machthaber den Vorzug gibt.

Dieser Stoff, auch das Textbuch wurde von Magnard erdacht und verfasst, spiegelt sich in der Komposition direkt wider und wird durch sie dramatisch unterstrichen. Sie entstand unter dem Einfluss Richard Wagners (denn welcher Tonsetzer der Epoche konnte sich ihm entziehen?) und dem Claude Debussys, wobei sie aber eine sehr eigene, in der Hochromantik anzusiedelnde, vielfältige und faszinierende Klangsprache entwickelt. Mal kammermusikalische, dann große, laut aufbrausende oder auch sphärisch anmutende Orchesterpassagen und -begleitungen, mal Choräle, dann tobende Volksmassen, mal (lange) lyrische Arien, mal kurze solistische Wutausbrüche, mal dramatische Liebeszweifel und Appelle, dann heroische Auftritte und Reden. Alles, aber auch alles kommt in dieser Musik vor. Nie weiß man, was in der nächsten Sekunde passieren wird.


Guercœur. Anna Gabler (Vérité), Domen Križaj (Guercœur) und Bianca Andrew (Bonté). Foto: Barbara Aumüller

 

Die Eingangsakkorde lassen bereits Düsteres erahnen, aber sehr bald wird es sphärisch-harmonisch-himmlisch. Innerhalb von etwa 20 Takten stellt Dirigentin Marie Jacquot mit dem Orchester die kontrastreiche, sehr eigene Klangsprache Magnards nicht nur vor, sondern zieht den Zuhörer tief in ihre ausdrucksstarke Emotionalität hinein. Aus ihrem Sog wird man sich bis zum Ende nicht mehr befreien können.

Der Vorhang hebt sich, auf der Bühne ein moderner, durch die Trägerkonstruktion schwerelos und transparent wirkender Bungalow, weiße Vorhänge, minimalistische, edle Einrichtung aus Holz, Stahl und Chrom, geometrische Bild-Kunst. Vor einer weißen Wand eine Liege, darauf ein toter Mann, eine Frau trauert um ihn. Ein herzzerreißender Choral aus dem Off: „Zeit und Raum existieren nicht mehr, Ehre sei der Wahrheit, denn sie befreite uns von Materie und Geist.“ Eine schattenhaft graue Männergestalt kommt und singt mit aller Kraft: „Vivre“ (leben). Es ist Guercœur, dessen Seele noch durch die Welt geistert. Sein irdisches Drama, vom Orchester vehement beschrieben, hat kein Ende gefunden, auch wenn er sich selbst dort tot liegen und seine geliebte Frau Giselle um ihn weinen sieht. Er will nicht fort ins Schattenreich zu den Seelen. Das musikalische Ringen zwischen Himmels-Choral und romantischer Menschen-Musik setzt sich fort, beschreibt Guercœurs Zustand zwischen Realität und Seelen-Mysterium. Er fordert immer wieder: „Vivre“. Weitere Schatten bevölkern langsam das weiße Haus und seine Umgebung. So auch zwei Frauen, die das erste, ganz und gar himmlische Sopran-Duett anstimmen. Die Schatten zeigen sich völlig unbeeindruckt von Guercœurs Selbstdarstellung als stolzem Kämpfer für Freiheit und Demokratie und liebendem Mann in der realen Welt. Er muss den offiziellen Trauerakt zu seinen Ehren erleben und sich der Diskussion über eine mögliche Rückkehr ins Reich der Lebenden mit vier aufreizend elegant gekleideten Damen stellen: Vérité (Wahrheit), Bonté (Güte), Beauté (Schönheit) und Souffrance (Leiden). Welch sehr französisch geprägte Auswahl an Tugenden Magnard als Librettist da getroffen hat! Guercœur gewinnt und darf zurück.

Zunächst klingt zu Beginn des 2. Akts alles nach Freude und Aufbruch. Guercœur ergötzt sich in einer romantisch-lyrischen Arie an Natur und Frühling.  Doch dann dunkle Töne, Vorboten bitterer Enttäuschung: Denn seine Frau Giselle, die ihm Treue über den Tod hinaus geschworen hatte, ist inzwischen mit seinem ehemaligen Schüler und politischen Gefolgsmann Heurtal trotz schlechten Gewissens liiert und lebt mit ihm im Bungalow. Dieser hat den Idealen von Freiheit und Demokratie abgeschworen, „Guercœur übertrug mir die Macht, aber nicht seine Träume“, sich zudem der Tyrannei zugewendet, weil das Volk seiner Meinung nach nicht mit Demokratie umgehen kann und dieses damit tief gespalten. Als Diktator will er wieder für Ordnung im Land und sogar auf der ganzen Welt sorgen. Spätestens nach seiner „Bekennerarie“ wird dem Zuschauer klar, dass es hier um hochpolitischen Sprengstoff geht. So aktuell, dass es einer Gänsehaut über den Rücken jagt. Und plötzlich erkennt die, dass die Architektur des Bühnen-Bungalows der des ehemaligen Kanzlerbungalows in Bonn entspricht, 1963/64 erbaut im Auftrag des zweiten Bundeskanzlers Ludwig Erhard (CDU), als die deutsche Nachkriegs-Demokratie noch relativ jung war, aber ein architektonisches Zeichen für ihr Selbstverständnis nach den Jahren der Hitler-Diktatur setzen wollte. Welch grandiose Idee für ein Bühnenbild, durch das der Konflikt zwischen Diktatur und Demokratie noch drastischer zum Ausdruck kommt! Heurtals Populismus verfängt, die meisten Menschen erkennen Guercœur, sprich Demokratie und Freiheit, nicht mehr. Zwischen den (Chor-) Lagern herrschen unüberbrückbare, gewalttätige Differenzen.

 


Guercœur. AJ Glueckert (Heurtal; rechts Hände schüttelnd, mit Bart) und Chor der Oper Frankfurt). Foto: Barbara Aumüller

 

Heurtal behauptet sich mit Hilfe prügelnder Einsatzkräfte sogar international. Denn im letzten Akt insinuiert das Bühnenbild den großen Konferenzraum der Vereinten Nationen in New York. Dort kommt es zu schrecklichen verbalen Auseinandersetzungen und Prügeleien zwischen Anhängern und Gegnern der Demokratie. Der Saal stürzt schließlich zusammen. Der einst stolze Guercœur wird von Gebäudeteilen erschlagen und kehrt demütig ins Schattenreich zurück, Mission failed. Vérité (eine an der Gesamt-Performance gemessen etwas schwache Anna Gabler) will ihn ermuntern, die Hoffnung nicht zu verlieren: in fernen Zeitaltern werde die Menschheit einsehen, dass sie zum Überleben auf Liebe und Freiheit angewiesen sei. Er bezweifelt das, sitzt aber über ein Schachbrett gebeugt und versucht unaufhörlich neue, zum Erfolg führende Züge. Das letzte Wort des Chores: „Espoir! (Hoffnung)“.

 

Netto drei Stunden Musik, nach jedem Akt eine Pause, die das Publikum und vor allem die Musiker jeweils brauchen. Denn Guercœur erfordert Höchstleistung von ihnen, um solche Wirkung zu erzielen. Besonders zu erwähnen gilt es: (wie immer) den fantastischen Chor (auch schauspielerisch), das unter der Leitung von Marie Jacquot alle Regungen aufgreifende und umsetzende Orchester (ein ganz besonderes Bravo diesmal für die Holzbläser) sowie die Solist:innen, insbesondere Bariton Domen Križaj in der Titel- Monster-Partie, die ihm anscheinend auf den Leib komponiert wurde, Mezzosopranistin Claudia Mahnke als Giselle, Tenor AJ Glueckert als Heurtal und Cláudia Ribas als Schatten einer Frau, die alle zum Ensemble des Hauses gehören.

Albéric Magnard wurde nur 49 Jahre alt. Er beschäftigte sich Zeit seines Lebens auch mit politischen Fragen. Kein Wunder, denn sein Vater war Herausgeber der Zeitung Le Figaro. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs lebte er auf seinem Anwesen in Baron 45 Kilometer nordöstlich von Paris. Dort kam er 1914 bei einem Schusswechsel mit Soldaten einer deutschen Aufklärungspatrouille ums Leben, und sein Haus wurde in Brand gesteckt. Das Feuer zerstörte auch Magnards unveröffentlichte Partituren, so auch zwei Akte von Guercœur. Sein Freund Guy Ropartz, der 1908 den ersten Akt von Guercœur konzertant am Pariser Konservatorium aufgeführt hatte, rekonstruierte aus dem Gedächtnis die beiden verlorenen Akte und veranlasste die Uraufführung des Gesamtwerks am 24. April 1931 im Palais Garnier der Pariser Oper. Danach verschwand es von den Spielplänen. Erst 2019 brachte das Theater Osnabrück die Oper erneut szenisch zur Aufführung und wurde für die Wiederentdeckung zum Opernhaus des Jahres gewählt. In Frankreich kam es szenisch erst am 28. April 2024 an der Opéra du Rhin in Straßburg wieder auf die Bühne.

 

 

Szenenfoto: Barbara Aumüller

 

Guercœur
Tragédie en musique in drei Akten
Musik und Text von Albéric Magnard (1865—1914)
Uraufführung 1931, Opéra Garnier, Paris
 
Musikalische Leitung:  Marie Jacquot
Inszenierung: David Hermann
Bühnenbild: Jo Schramm
Kostüme: Sibylle Wallum
Licht: Joachim Klein
Chor: Virginie Déjos
Dramaturgie: Mareike Wink
 
Mitwirkende
Guercœur: Domen Križaj
Giselle: Claudia Mahnke
Heurtal: AJ Glueckert
Vérité: Anna Gabler
Bonté: Bianca Andrew
Beauté: Bianca Tognocchi
Souffrance: Judita Nagyová
u.a.
Chor der Oper Frankfurt

Frankfurter Opern- und Museumsorchester


 
Weitere Vorstellungen: 8., 13., 16., 21., 23. Februar, 1. Und 8. März 2025

Oper Frankfurt

Erstellungsdatum: 04.02.2025