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Therapeut sein in Israel

Den eigenen Garten pflegen

Eran Rolnik


Protest gegen Netanjahu, April 2024. Screenshot.

Die israelische Öffentlichkeit ist in einem Teufelskreis gefangen, der ein autoritäres Regime kennzeichnet: Je schlimmer die politische Lage, der Krieg und die internationale Isolation werden, desto größer die Angst vor der Wahrheit, desto gehemmter die Bereitschaft, sich für Veränderung und Reparation zu engagieren. Eran Rolnik, israelischer Psychoanalytiker, Psychiater und Historiker erklärt die Situation seiner Landsleute.

 

Wir, in Israel tätigen Therapeuten wie Patienten, leben in einer Zeit, in der große, offene Brüche in der Realität sich mit den subjektiven, intimen Rissen der inneren Welt mischen. Das ist einer der Gründe, warum die Arbeit in einer psychotherapeutischen Praxis, in der die Interpretation der psychischen Realität eine zentrale Rolle spielt, sowohl für Therapeuten als auch für die Patienten schwerer als je zuvor geworden ist.

Israel, das noch nie wirklich eine liberale Demokratie war, hat sich in den vergangenen Jahren zurückentwickelt und erfüllt den Status einer Demokratie nur noch in formaler Hinsicht. Die Hamas-Attacke vom 7. Oktober 2023 war lediglich Wasser auf die Mühlen von Religiosität, Exklusion, Desintegration und Brutalisierung, die die israelische Gesellschaft seit Jahren verändern.

Derzeit fällt den Analytikern, egal ob sie „politisch und gesellschaftlich involviert“ sind oder nicht, die Aufgabe zu, Menschen dabei zu helfen, die Bedrohung ihrer mentalen Gesundheit aus ihrem eigenen Land heraus zu erkennen: nämlich den Anstieg destruktiver Impulse und tyrannischer Tendenzen als Reaktion auf eine Regierung, die ihre Bürger geringschätzt und sich zunehmend der Welt der politischen Allmachtfantasien hingibt. Die erst das Justizsystem attackierte, dann die Warnungen vor einem Hamas-Anschlag überhörte, die Bürger deshalb nicht schützte und inzwischen den Krieg, anstatt die Freilassung der Geiseln, zur „Raison d‘ètat“ erklärte. Netanjahu versah ihn sogar mit der Bezeichnung Tkumah, was so viel wie „Auferstehungskrieg“ bedeutet. Das heißt, er soll als zweiter Unabhängigkeitskrieg gesehenen werden und wurde von ihm in einen sakralen und metaphysischen Kontext gestellt, genauso wie es die extremistischen Moslems tun. Wie sollen wir damit klarkommen? Das ist eine neue, fremde Ära, in der die Welt zuhause und die draußen, das Private und das Öffentliche plötzlich vermischt werden.

Still gelähmt durch seine eigene Aggression und Allmachtfantasien hat das Land einen Punkt erreicht, in dem es vielen Bürgern nicht mehr gelingt, eine Position für oder gegen etwas einzunehmen. Sie fragen sich, ob diese Art von Krieg, der eine Reaktion auf einen mörderischen Anschlag ist, noch als legitim gelten kann oder ob sie dagegen auf die Straße gehen dürfen und sogar müssten, um sich in der Gemeinschaft die Versicherung für ihre emotionale Verzweiflung zu holen. Genauso wie für die Forderung nach einer Untersuchungskommission oder für die nach Wahlen. Doch die rechte Regierung verbittet sich gerade mit dem Argument des Krieges jede Art von Protesten. Diese Verwirrung hat große soziale Auswirkungen von immenser politischer Bedeutung. Sofern die Ursache der Verwirrung in der geleugneten Aggression und Wut gegenüber dem gescheiterten Staat liegt, dann ist die israelische Öffentlichkeit in einem Teufelskreis gefangen, wie er autoritäre Regime kennzeichnet: Je desolater die politische Lage ist, desto größer ist die Angst vor der Wahrheit und die Hemmung des Wunsches nach Veränderung und Reparation. Somit erreichte der Krieg für die rechtsextreme Regierung das, was der Staatsstreich nicht erreichen konnte: Er führte nämlich dazu, dass die Bürger Israels eine sadomasochistischere Beziehung zu ihrer inneren Welt aufrechterhalten als je zuvor. Wir leben in einer internen Diktatur, noch bevor unsere Demokratie völlig zusammengebrochen ist.

Vor zehn Jahren schrieb ich, dass in der Israelischen Psychoanalytischen Gesellschaft nicht nur debattiert werden sollte, womit sich die israelische Psychoanalyse beschäftigt, sondern auch, womit nicht! Denn niemand, der sich durch die Berge von Veröffentlichungen israelischer Psychoanalytiker durchliest, findet eine Antwort auf die Frage: Warum schenkt eine wissenschaftliche Vereinigung, deren Fokus auf dem menschlichen Geist liegt, dem gewaltsamen, repressiven Geschehen wie der Besetzung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes so wenig Aufmerksamkeit? Diese Frage ist meines Erachtens heute relevanter denn je. Denn an ihrer Beantwortung wird sich unter Umständen das weitere Schicksal Israels entscheiden.

Dazu ein Blick in die Geschichte: Der Begriff „Weltanschauung“ erzeugt sowohl in wissenschaftlichen wie in therapeutischen Kreisen oft Unmut. Freud lehnte ihn strikt ab und viele seiner Nachfolger sind ebenfalls besorgt, dass es therapeutischer Neutralität widerspricht, die Psychoanalyse mit nicht-wissenschaftlicher Weltanschauung zu verbinden. Heute fällt aber einem Therapeuten mit psychoanalytischem Ansatz die Rolle zu, den Begriff der psychologischen Normalität in all ihrer Komplexität, inklusive der politischen Debatte zu bestimmen. Durch die Psychoanalyse können pervertierte Strukturen bei den Medien, in der Wissenschaft und in der Politik identifiziert werden. Dazu hilft es zu differenzieren zwischen wissenschaftlichen Theorien und menschlichen Vorstellungen, die neue Blicke auf das Denken anderer eröffnen können, respektive denjenigen, die die Wahrheit benutzen, um zu lügen, und die nur teilweise eine Beziehung zur Realität haben und zwar meistens genau zu dem Teil, der gemessen und quantifiziert werden kann. Eine rein technologische und wissenschaftliche Weltanschauung mit ihrer charakteristischen Begeisterung für Methodologie, Datenverarbeitung und Beweise, kann vielleicht mathematische Gleichungen lösen und überlebenswichtige Medikamente entwickeln, aber das wird die Menschheit nicht von Rassismus, Homophobie, Antisemitismus oder Misogynie befreien.

In einem seiner frühen Artikel analysierte der britische Psychoanalytiker und Anthropologe Roger Money-Kyrle die Erfahrungen, die er bei einer Massenversammlung machte, auf der Adolf Hitler und Joseph Goebbels sprachen. Er beschrieb, wie während der Rede die Grenzen des Ichs nach und nach verschwammen und die Menge zunächst in einen Zustand der Trance geriet, vergleichbar mit eine Gruppen-Psychose, zwischen Euphorie und Depression schwankend. In der zweiten Phase der Auflösung der Grenzen des Ichs, konstruierten die Redner ein Gefühl von Opferdasein bei den Zuhörern und offerierten als Schuldigen für ihren Kummer den „Anderen“ – in diesem Fall den Juden. Dabei kam es zu vielen Widersprüchen, die charakteristisch für populistische Rhetorik sind. Sie intensivieren den primären Denkprozess und beeinträchtigen die Fähigkeit die Realität einzuschätzen.

Gesellschaften, Gruppen oder Nationen können in einen paranoiden Zustand verfallen, wenn sie eine charismatische und narzisstische Führung wählen, die dazu ermutigt, sich mit dem rachsüchtigen Mob zu vereinen und ganze Gebiete der Realität zu verneinen bis zum Punkt der Selbst-Verleugnung. Nicht alle Patienten haben ein entwickeltes politisches Bewusstsein, und es ist auch nicht die Aufgabe des Psychotherapeuten, aus einem Demokraten einen Republikaner zu machen oder aus einem Rechten einen Linken. Dennoch denke ich, dass es für den Einzelnen therapeutisch wichtig ist, an Protesten gegen die Koalition Netanyahu/Ben-Gvir teilzunehmen. Nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch, weil es beim Fehlen der demokratischen Ordnung zu einem Anwachsen innerer diktatorischer Kräfte wie gewaltsamer inzestuöser Fantasien und Rache-Impulsen kommt.

In Zeiten politischer Unruhen muss der Therapeut seinen Patienten nicht nur ermutigen, seine Abhängigkeit zu erkennen, sprich die Verbindung zwischen seiner psychischen Hemmung und seiner Kindheitstraumata herzustellen, „den eigenen Garten zu pflegen“. Der Therapeut muss auch bedenken, dass eine funktionierende Demokratie eine Rolle spielt für die Steuerung der tiefsten Impulse und Ängste des Individuums genauso wie für die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich verändernden historischen Realitäten anzupassen.

In einem autoritären Regime und in einer totalitären Gesellschaft vermeiden es die Menschen, unabhängig zu denken und täuschen sich eine Realität des „eigenen freien Willens“ vor. In einer Demokratie ist die Unterscheidung von Vorurteil respektive Glaube und Fakten sehr wichtig. Und zwar nicht im Sinne des beweis-basierten Wissens, das von der Wissenschaft als objektive Wahrheit akzeptiert wird, sondern auch des psychologischen Wissens, das weder quantifiziert noch gemessen werden kann, das aber die subjektive und objektive Existenz eines Menschen miteinander verbindet.

Das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Demokratie ist kompliziert. Psychoanalyse führt eine Frontal-Konfrontation mit solchen unbewussten Wünschen und Fantasien herbei, die autoritäre, undemokratische Impulse unterstützen, die in der menschlichen Psyche eingebrannt sind. Es handelt sich um Wünsche, die faschistische und autokratische Regime verstärken und ausbeuten.

Für die Demokratie und gegen Tyrannei zu kämpfen bedeutet, in die psychoanalytische Sprache übersetzt, der Versuchung nach Perfektion, Konsens, Selbstzufriedenheit und „Seelenfrieden“, die von undemokratischen Regierungen genauso wie von bestimmten Richtungen in Wissenschaft, Kultur und Religion versprochen werden, zu widerstehen.

Psychologische Therapie, die ihren Namen verdient, stimmt mit dem demokratischen Projekt überein, weil sie die Fähigkeit zu denken und zu fühlen sieht und die Beziehung zwischen Gedanken und Emotion wie die zwischen Logik und Wunsch als geistige und kulturelle Errungenschaften, die von der Menschheit mit viel Mühe erreicht wurden und die oft durch Angriffe von innen und von außen angegriffen werden, versteht.

Politik und Kultur üben großen Einfluss auf die Qualität unserer Suche nach der Wahrheit in ihren verschiedensten Erscheinungsformen aus und beeinflussen die psychische Realität und unsere Beziehung zum Lebens- und zum Todestrieb, den beiden fundamentalen Bausteinen für unsere Psyche, stark. Politik beeinflusst den Willen von Individuen und Gruppen, mehr als einen Standpunkt in ihre innere Psyche aufzunehmen.

Während das Hauptinteresse der Analytiker der inneren Welt und den subjektiven Erfahrungen gilt, können wir als Therapeuten der politischen Welt gegenüber nicht indifferent sein. Die Menschen brauchen die Politik, um sich selbst als Individuen, die sich um Wahrheit bemühen und versuchen, ihr gemäß zu leben, zu verorten. Politik kann es den Menschen ebenso erleichtern oder verhindern, dass sie die Koexistenz mehrerer Wahrheiten und Standpunkte akzeptieren, ohne auf physische Gewalt oder Massenpsychosen zurückgreifen müssen.

Erstellungsdatum: 14.10.2024