Gewachsene Gemeinschaften funktionieren oft nach anderen Regeln, als der Gestaltungswille von Stadtplanern vorsieht. Selbst oder gerade fortschrittliche Kommunalverwaltungen zwingen zuweilen Bürger zu ihrem Glück, das sie bereits selbst errungen haben. Es geht um die Kraft, die stets das Gute will, und stets das Böse, nämlich die Zerstörung, schafft. Rainer Erd war auf dem Pariser Montmartre, wo in der Avenue Junot Menschen sich zum Boule-Spiel Pétanque trafen …
Paris, Anfang August 2025, Avenue Junot. Die Straße auf Montmartre, ganz im Norden der Stadt, wird von vielen als die schönste des ehemaligen Künstlerviertels bezeichnet. Was sie von anderen im vielbesuchten 18. Arrondissement unterscheidet, ist die Eleganz ihrer Villen, die beruhigende Ausstrahlung und die Gepflegtheit ihrer Bewohner. Die Avenue Junot ist als Wohnort für viele Pariser ein für immer unerfüllt bleibender Traum, weil Mieten und Quadratmeter-Preise ihr Budget bei weitem überschreiten.
Der Charme der Straße, den Francois Truffaut für seinen Film „Geraubte Küsse“ ebenso zu nutzen wußte wie Henri-Georges Cluzot für „Der Mörder wohnt Nr. 21“, entfaltet sich auch durch die Tatsache, dass sie mit dem zauberhaften „Théâtre Lepic“ auf dem Hügel beginnt und am Ende in der von Touristen wenig besuchten Rue Caulincourt, ganz in der Nähe des Kult-Cafés „Au Rêve“, endet. Nicht weit entfernt liegt die berühmte Schauspielschule „Le Fémis“, die dafür sorgt, dass Cafés und Restaurants in der Gegend immer von unkonventionellen jungen Menschen besucht werden.
Die Attraktivität der Avenue Junot sollte in den letzten Juli-Tagen 2025 noch durch die Tatsache erhöht werden, dass ein Öko-Garten eröffnet wurde, der den Bewohnern des Viertels eine Oase der Ruhe und der Entspannung anbietet: „Le Jardin Junot“, Nr. 23. Avenue Junot 23 ist aber auch die Adresse eines Luxushotels („Hôtel Particulier“), das seine sechs Zimmer nicht unter € 600 pro Nacht anbietet. Und es ist die Adresse eines Luxus-Restaurants, das von dem Hotel betrieben wird. Wer den zauberhaften Jardin Junot betreten will, muss beim „Hôtel Particulier“ um Einlass nachfragen.
In dem kleinen goldenen Klingelknopf, auf dessen Druck sich erst die schwere Metalltür zum Garten öffnet, liegt das ganze Drama des Gartens begründet. Er ist öffentlich zugänglich, wird von vielen aber nicht betreten, weil man erst beim Luxushotel um Eintritt bitten muss. Wie es dazu kam, dass ein öffentlicher Garten erst betreten werden kann, wenn der Pförtner eines Luxushotels Einlass gewährt, ist eine komplizierte Geschichte, über deren Verlauf die beteiligten Konfliktparteien unterschiedliche Meinungen haben.
Beteiligt sind an der Geschichte vier Parteien: die Pariser Stadtverwaltung und die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die langjährigen Bewohner von Montmartre und die Betreiber des „Hotels Particulier“, das auch eine begehrte Film-Location ist, wie im Film „Iris“ von Jalil Lespert zu besichtigen.
Begonnen hat die Geschichte vor über 50 Jahren, als im Jahr 1971 der „Club Lepic Abbesses Pétanque“ (Clap) gegründet wurde, um ein brach liegendes städtisches Gelände als Örtlichkeit für die Pétanque spielende Bevölkerung von Montmartre zu nutzen. Der Club nahm alle interessierten Bewerber auf und war für viele Jahrzehnte eine Örtlichkeit, in der man sich in der Freizeit traf. Für Außenstehende ungewohnt war zwar die Exklusivität des Clubs, dessen sieben Pétanque-Plätze man nur besuchen durfte, wenn man Mitglied des Vereins war.
Man hatte sich aber im Laufe der Jahre daran gewöhnt, dass es in der Avenue Junot 23 einen, auf einem kleinen Felsmassiv versteckten privaten Club gab, den nicht jedermann betreten durfte. Das war auch deshalb kein großes Gesprächsthema, weil es auf Montmartre viele Örtlichkeiten, Gärten und sogar einen Weinberg gibt, zu denen die Öffentlichkeit nicht jederzeit Zugang hat. Bis eines Tages die Stadtverwaltung Paris auf die Idee kam, die Rechtmäßigkeit des Clubs zu bezweifeln.
Im Gegensatz zu den 70er Jahren, als der Club das Gelände als Sport- und Kommunikationsstätte zu nutzen begann, war mittlerweile ein anderes politisches Bewusstsein von öffentlichen Räumen in Paris entstanden. Unter Führung der seit 2014 amtierenden sozialistischen Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo wurde 2016 das Konzept einer „Ville du quart d’heure“ von Carlos Moreno entwickelt und öffentlich vorgestellt. Moreno ist ein französisch-kolumbianischer Professor an der Pariser Sorbonne, der Konzepte für nachhaltige Stadtplanung und intelligente Städte (Smart Citys) entwirft. Paris sollte eine Stadt werden, in der alle wichtigen täglichen Erledigungen (Arbeit, Einkaufen, Gesundheit, Bildung, Freizeit) innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad vom jeweiligen Wohnort aus erreicht werden können. Auf diese Weise sollte der Autoverkehr reduziert, die Lebensqualität verbessert und die Stadt nachhaltiger gestaltet werden. Wer heute Paris besucht, sieht, dass das Konzept in einigen Punkten, besonders was die Ausweitung des Fahrradverkehrs anbelangt, bereits realisiert worden ist.
Vor diesem Hintergrund wurde nun auch der Club „Lepic Abbesses Pétanque“ ein öffentliches Thema – ein privater Club auf einem städtischen Gelände, zu dem man nur Zutritt hatte, wenn man Vereinsmitglied war. Dieses von der neuen Stadtverwaltung erkannte Problem wusste ein weiterer Akteur zu seinen Gunsten zu nutzen: das „Hôtel Particulier“, das an den Pétanque-Club angrenzt und sich von dessen Nutzung als öffentlichem Raum höhere Umsätze verspricht. Die Stadtverwaltung glaubte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können. Einerseits einen neuen öffentlichen, für alle zugänglichen Raum zu schaffen, andererseits Pachtgebühren für die Örtlichkeit von dem Luxushotel zu beziehen. Es musste nur ein Weg gefunden werden, wie man den öffentlichen Raum ausgestaltet, so dass er dem neuen Konzept von Stadtplanung ebenso entsprach wie dem Umsatzinteresse des Hotels.
Die Idee hieß „öffentlicher Öko-Garten“. Wenn es gelänge, den privaten Club zu schließen und das Hotel dafür gewänne, den frei werdenden Raum der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, hätten Stadt, Hotel und die Bevölkerung von Montmartre einen zusätzlichen Nutzen.
Doch die von Stadt und Hotel ausgedachte Idee begeisterte die seit Jahrzehnten sich im privaten Club zum Pétanque-Spielen treffende Bevölkerung von Montmartre wenig. Als die Stadt den Clubbetreibern 2022 mitteilte, ihr Club dürfe nicht mehr weiter privat geführt werden, weil er auf städtischem Gelände liege und es dafür keine Genehmigung gäbe, reagierten die Club-Mitglieder mit Unverständnis. Sie weigerten sich, der Aufforderung der Stadt, das Gelände für eine öffentliche Nutzung freizugeben, Folge zu leisten.
Diese wiederum argumentierte, wenn die Stadt in den vergangenen Jahrzehnten die Nutzung geduldet habe, leite sich daraus kein Recht her, dies auch weiter zu tun. Da das Gelände in Zukunft als öffentlicher Garten betrieben werden solle, müsste der Verein die Nutzung aufgeben. Überdies könnten alle Clubmitglieder auch in Zukunft weiterhin ihrer Pétanque-Leidenschaft nachgehen, weil die Stadt das Gelände nun als öffentlichen Ökogarten betreibe werde.
Der Club weigerte sich dennoch, der städtischen Aufforderung nachzukommen. Es begannen Streitigkeiten vor Pariser Verwaltungsgerichten, die nach zwei Jahren mit einem Urteil des höchsten Verwaltungsgerichtshofs Frankreichs („Conseil d’État“) am 03.04.2024 endeten. Das Gericht entschied, der Club müsse das Gelände räumen.
Und nun geschah etwas für die feine Avenue Junot Ungewöhnliches: Die Betreiber des privaten Clubs dachten nicht daran, das Gelände zu verlassen. Unterstützt von Montmartre-Bewohner, die sich mit den Pétanque Spielern solidarisierten, und von prominenten Schauspielern wie Pierre Richard („Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh“) und Fabrice Luchini („Mein fabelhaftes Verbrechen“) kamen sie der gerichtlichen Räumungs-Anordnung nicht nach.
Die Stadtverwaltung setzte daraufhin einen polizeilichen Räumungstermin für den 21. Oktober 2024 fest und rückte mit großem Polizeiaufgebot an. So etwas hatte die Avenue Junot noch nie erlebt. Die auf dem Gelände verbliebenen Clubmitglieder beeindruckte das massive Polizeiaufgebot wenig, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich einer breiten Unterstützung der Bewohner von Montmartre sicher waren. Der Aufforderung der Polizei, das Gelände zu räumen, kamen sie nicht nach.
Nun kam der Polizei die undankbare Aufgabe zu, unter dem Protest der Anwohner gegen meist ältere unbescholtene Menschen mit Gewalt vorzugehen, die nichts anderes getan hatten, als dem französischen Nationalsport Pétanque nachzugehen, den ihnen die Stadt Paris seit einem halben Jahrhundert gewährt hatte. Die Polizei trug einen nach dem anderen von dem Gelände und zerstörte anschließend das Vereinshaus, in dem sich die Mitglieder für ihre geselligen Veranstaltungen getroffen hatten.
Neun Monate später, am 23. Juli 2025, fand die offizielle Eröffnung des nun öffentlichen, ökologisch aufbereiteten Junot-Gartens statt, in dem neben drei Pétanque-Anlagen ein Kräutergarten, ein Gehege für kleine Tiere und andere ökologische Projekte angeboten werden.
Offiziell scheint der Konflikt damit befriedet. Spricht man aber mit Bewohnern von Montmartre, dann hört man weiterhin Unverständnis darüber, dass die Stadt ein über Jahrzehnte akzeptiertes und von den Anwohnern genutztes Projekt im Interesse eines Luxushotels beseitigt hat, selbst wenn das neue Projekt als öffentlicher Garten deklariert wird. Dass man den Garten erst nach Betätigung der Klingel des „Hôtel Particulier“ betreten kann, lässt das „öffentliche“ Projekt für viele unglaubwürdig erscheinen.
Als der Autor dieser Zeilen Anfang August 2025 den „Jardin Junot“ mehrere Male betritt, nachdem ihm der Pförtner des Luxushotel Einlass gewährt hat, ist dieser menschenleer. Allein ein paar Häschen und Insekten zeugen von Leben im öffentlichen Garten Junot.
Erstellungsdatum: 20.08.2025