Die Opéra-comique muss nicht komisch sein. Jacques Offenbachs selten aufgeführter „Fantasio“ geht zwar auf eine Komödie von Alfred de Musset zurück, aber der Komponist strebte eine anspruchsvoll-unterhaltende Umsetzung an, der die politische Doppelbödigkeit nicht abhanden kam. An der Staatsoper Wiesbaden haben die Regisseurin Anna Weber und die Dramaturgin Hanna Kneißler zu seiner Musik aber eine Kontrafaktur vorgenommen, eine erhebliche Überschreibung. Margarete Berghoff beschreibt das spektakuläre Ergebnis.
Das Königreich Bayern steht vor dem Staatsbankrott und möchte durch eine Heirat der Tochter des Königs mit dem Prinzen von Mantua wieder Geld in die leeren Kassen spülen und einen Krieg vermeiden. Ein Sujet, das in der Weltgeschichte viele Vorbilder findet. Die Zwangsehe wird aber durch den Studenten Fantasio vereitelt, denn er und die Prinzessin verlieben sich ineinander. Wie so oft in Offenbachs Werken siegen Menschen unterer Klassen über die obere Gesellschaftsschicht. Der Adel wird an der Nase herumgeführt und am Ende gibt es doch noch ein Einsehen und ein Happy End.
In Wiesbaden haben die Regisseurin Anna Weber und die Dramaturgin Hanna Kneißler eine Text-Überschreibung des Stückes gewagt. Auf die Musik von Offenbach haben sie eine ganz neue zeitbezogene Geschichte geschrieben. Hier ist es kein Staat, sondern ein Theater, das pleite ist und deshalb einen Investor sucht und diesen auch schnell findet. Zusätzlich zum Theaterkauf besteht er darauf, Theres (Josefine Mindus), die Tochter des Theaterkönigs (Fabian-Jakob Balkhausen) zu heiraten. Der Vater willigt ein. Prinz, der Investor (Jack Lee) hat aber heimliche Pläne. Er will das Theater abreißen lassen, um an gleicher Stelle ein privates Schloss für sich zu bauen. Fantasio, (Fleuranne Brockway), eine Studentin und Anführerin einer Studentenrevolte, entlarvt den Betrug. Die Studenten kämpfen mit vereinten Kräften und Erfolg für den Erhalt des Theaters und die Befreiung von Theres aus den Klauen des Investors.
Anna Webers Idee der Text-Überschreibung geht voll auf. Die Dramaturgie der Geschichte und die Musik von Jacques Offenbach sind passgenau aufeinander abgestimmt. Die Geschichte ist klug ausgedacht. Sie beinhaltet die zwei Hauptthemen der Opéra-comique: „Handeln aus Geldnot“ und „Zwangsehe“. Sie öffnet dazu einen tiefen Blick in die fantasievolle Zauberwelt des Theaters und nimmt Bezug auf die aktuelle existentielle Bedrohung vieler Theater. Beispielhaft seien hier die Theater in Zittau und Görlitz genannt, die, um Geldnöten zu begegnen, einen Namensponsor suchten.
Es geht um Begebenheiten und Zustände, von denen wir täglich in den Nachrichten hören. Viele Themen der Überschreibung stehen aber auch in direkten Zusammenhang mit dem Leben in Paris zur Zeit Offenbachs. Das Abreißen der Pariser Altstadt, um die aufbegehrende Bevölkerung aus der Stadtmitte zu vertreiben und um breite Boulevards für den Auftritt der Oberschicht zu schaffen. Das Thema der Geldnot betraf Offenbach direkt. Er ging mehrmals bankrott, da er seine Stücke überbordend ausstattete und oftmals den Überblick über sein Budget verlor.
Die Stücke Offenbachs, Vaudevilles, meist Einakter, waren in diesen krisenreichen Zeiten ein willkommener „Tanz auf dem Vulkan“. Sie boten Teilen der Pariser Stadtgesellschaft Ablenkung und ausgelassene Stunden des Vergessens und stärkten ihre Hoffnung auf bessere Zeiten.
In Wiesbaden wird das Publikum mit dem Hinweis „das Theater ist geschlossen, die Vorstellung fällt aus“ begrüßt. Und dann wird doch gespielt. „Fantasio“ beginnt zur Ouvertüre mit einer skurrilen Theaterauktions-Vorschau. Alles soll versteigert werden, Instrumente, Kostüme, Requisiten, Theatersessel und sogar ganze Theaterfiguren. Der Chor löst sich aus dem Publikum heraus und nimmt an der Versteigerung teil.
Von Anfang an ist das Publikum mit einbezogen. Die Seitenlogen und der Zuschauerraum dienen turbulenten Auftritten und Abgängen. Das Publikum wird Teil des Geschehens. Das Saallicht bleibt zeitweise hell. Allmählich erscheinen alle Figuren und es gibt zwei Welten. Die bunte fantasievolle Theaterwelt und die reale nüchterne Welt in Gestalt von zwei Herren in Nadelstreifen-Anzügen.
Kurz darauf wird der Narr und mit ihm die Komödie zu Grabe getragen. Ein Moment, der trotz der überzogenen Dramatik zu Herzen geht. Schwere und Ernst, Leichtigkeit und Humor, das geht bei Offenbach zusammen. Ein Kunstgriff, mit dem er sein Publikum geistreich zu unterhalten verstand. Zynische, verklausulierte, feine Gesellschaftskritik, die das Publikum Abend für Abend erheiterte.
Auch in Wiesbaden ist der ganze Abend ein pures Vergnügen. Das Regieteam hat sich ganz dem skurrilen Humor Offenbachs hingegeben. Die Zeichnung der einzelnen Figuren, bei Offenbach ein zentrales Thema, ist hier detailreich und fantasievoll gelungen. Ein Farbenmeer aus dem einzelne Personen herausragen, weil sie noch farbiger sind. Die Kostüme von Laura Kirst sind eine Augenweide. Sie wählte knalliges Rot für die weiblichen Hauptfiguren. Rot, die Farbe der Kraft und der Liebe. Eine weitere wiederkehrende Farbe ist lila, die Farbe der Frauenemanzipation.
Die Bühne spiegelt im ersten Akt den Zuschauerraum wider und bezieht so das Publikum mit ein. Wenn sich die Bühne später zu einem großen Garten öffnet und noch später dunkle Wolken über dem Geschehen hängen, gibt es Blüten, die wie ein Trost und gleichzeitig wie eine Bedrohung von oben herunterkommen. Ein opulentes und sehr buntes Bühnenbild voller Ideen, das mit großen plakativen Formen der Geschichte einen passenden Rahmen gibt. Manche Kostüme wirken wie direkt aus dem Bühnenbild herausgeschnitten und bilden somit eine wohltuende Einheit in dem ganzen Gewusel des Geschehens.
Ein Stück von Offenbach auf die Bühne zu bringen, heißt auch heute noch, dass es etwas teurer wird. Wer aufwendige Ausstattung liebt, kommt hier voll auf seine Kosten. Keine langweiligen Kleider und Anzüge von der Stange. Hier dürfen und sollten die Ausstatter die Grenzen des „guten Geschmacks“ überschreiten.
Theres, dem Investor versprochen, befreit sich im Laufe der Geschichte immer mehr aus den Zwängen ihrer Situation. Die Freundschaft mit Fantasio unterstützt sie dabei. Ob die beiden ein Liebespaar sind, so wie in der ursprünglichen Geschichte, bleibt hier offen. Der Investor und sein Adjutant (Sascha Zarrabi) sind ein perfektes „Duo infernale“. Doch am Ende wird es dem Adjutanten zu viel, er verlässt seinen Arbeitgeber und schließt sich den Studenten an. In seiner kleinen Arie tanzt er so grazil, dass es Zwischenapplaus gibt. Überhaupt wird viel geklatscht, denn ein großes Schild mit der Aufschrift „Applaus“ gibt vor, wann geklatscht werden soll. Das Publikum ist so beglückt, dass es mit Applaus nicht spart.
Der Chor hat viel zu tun. Er erscheint immer wieder in großen bunten Kostümen. Bewegt sich gekonnt in den interpretierenden Choreographien von Paulina Alpen.
Unterstützt wird der Chor von Mitgliedern des jungen Staatsmusicals und Gästen, so dass es manchmal ziemlich eng auf der Bühne wird.
Jacques Offenbach hat mehrere Jahre, unterbrochen von Krieg und Krankheit an „Fantasio" gearbeitet. Seine Musik zeigt sich hier weniger „offenbachianisch“. Nicht wie gewohnt laut und schrill und voller wilder Galoppe, sondern eher lyrisch und fein. Schöne Melodien und breite orchestrale Partien und Untermalungen. Der Dirigent Chin-Chao Lin scheint diese Musik zu lieben, wendig und voller Leidenschaft dirigiert er das fantastische Orchester. Beim Applaus wirkt er so erfreut und erfüllt, dass man für einen Moment meinen könnte, Jacques Offenbach sei wieder auferstanden.
Die Regie von Anna Weber treibt die Geschichte und besonders sichtbar die Entwicklung der Personen voran. Fantasio erkennt, dass es sich lohnt, für seine Überzeugungen zu kämpfen. Prinz, der Investor, fragt sich in einer Arie, warum er nicht geliebt wird, trotz seines „Großgönnertums“. Im Finale singt er, einsam auf einer bedrohlich schwingenden Abrisskugel sitzend, die hier allerdings nur aus Pappmaché besteht. Alles hat sich gegen ihn gewendet und er tritt von seinem Kaufvertrag zurück. Mit Schnelligkeit, Leidenschaft, Innehalten, Nachdenken, und großem Ideenreichtum vollziehen sich diese Wandlungen.
Anna Weber arbeitet mit kleinen Details, die sich eindeutig vermitteln und den Personen ihre Einzigartigkeit geben. Der verzaubernden Fantasiewelt des Theaters wird hier eine besondere Bedeutung gegeben. Fantasie, nicht nur als bereichernder Selbstzweck, sondern als Experimentierfeld und Motor für anstehende Veränderungen.
Die spürbar gute Zusammenarbeit zwischen der Regisseurin, der Bühnenbildnerin und der Kostümbildnerin ist der Arbeit anzumerken.
Am Ende entdecken Fantasio und Theres das Publikum und sprechen es direkt an: Ein Dankeschön und gleichzeitig die Aufforderung, kämpft für uns und für das Theater.
Das macht deutlich, dass auch wir als Zuschauer*innen und Zuhörer*innen Verantwortung tragen für den Erhalt von Kunst Kultur und Theater. Nutzen wir dafür unsere Fantasie.
Nächste Vorstellungen am 9. und 23. März
https://www.staatstheater-wiesbaden.de/spielplan/a-z/fantasio/
Jacques Offenbach
Fantasio
Opéra-comique in drei Akten (1872)
Libretto von Paul de Musset und Charles Nuitter nach der Komödie von Alfred de Musset, in einer Übersetzung von Carsten Golbeck, Fassung von Anna Weber und Hanna Kneißler
Besetzung:
Musikalische Leitung:
Chin-Chao Lin/Holger Reinhardt
Inszenierung:
Anna Weber
Bühne:
Sina Manthey
Kostüme:
Laura Kirst
Choreografie:
Paulina Alpen
Licht:
Marcel Hahn
Chor:
Albert Horne
Dramaturgie:
Hanna Kneißler
Fantasio: Fleuranne Brockway/Camille Sherman
Theres: Josefine Mindus/Galina Benevich
Ein Prinz: Jack Lee
Marinoni: Sascha Zarrabi
König vom Theater: Jonathan Macker/Fabian-Jakob Balkhausen
Flamel: Inna Fedorii
Rutten: Michael Birnbaum
Sparck: James Young
Facio: Joshua Sanders
Hartmann: Wooseok Shim
Bühnentroll: Martin Stoschka/John Holyoke
Mitglieder des Jungen Staatsmusicals & Gäste:
Marei Bär/Tara Daphne Bethke/Pauline Bischoff/Noemi Brumbach/Rosali Bördner/Merve Senol/Charlotte Kühn/Zoe Krawinkel/Denise Moser/Fabiana Renker/Elena Simeonova
Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden
Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Erstellungsdatum: 01.02.2025