Es ging das Gerücht, Jacob Taubes brauche Bücher nicht zu lesen, sondern könne sich ihren Inhalt durch Handauflegen einverleiben. Denn er konnte mehr erzählen, als er wissen konnte. Die schillernde Figur des Judaisten und Hermeneutikers, der bis März 1987 lebte, hat der einstige Geschichtsprofessor in Washington, Jerry Z. Muller, in „vielen Leben“ beschrieben. Und Arno Widmann, der in Taubes’ Seminaren saß, äußert sich darüber kundig.
Der Autor hat mit vielen Unterbrechungen 20 Jahre an dem Buch gearbeitet. Es ist großartig geworden, eine der lohnendsten Lektüren dieses Winters. Es ist die Biografie eines obskuren Denkers, sein Flackern zwischen Genie und Wahnsinn, und es ist eine Geschichte wesentlicher Denker des 20. Jahrhunderts. Man legt das Buch schnell beiseite, wenn einen die in entlegenen Zeitschriften veröffentlichten oder auch gar nicht erschienenen Artikel von Jacob Taubes über messianische Strömungen im Judentum, über Paulus, den Begründer der christlichen Theologie, nicht interessieren. Aber wer immer am Umsturz der bestehenden Verhältnisse interessiert ist, landet irgendwann bei Jacob Taubes, dem Professor der Apokalypse. Der Titel ist ausgezeichnet. Taubes war besessen davon, unterzukommen in der akademischen Welt. Gleichzeitig aber war das sein Ort, um vor ihr zu fliehen.
Taubes war besessen von der Welt der Bücher, aber er schrieb so gut wie nichts. Er las, das macht Muller deutlich, in allem, aber zugleich so gut wie nichts. Berühmt ist der Fall, dass zwei Wissenschaftler sich über einen nahezu unbekannten Scholastiker des Mittelalters unterhielten. Sie stellten ihn dar als einen Mann, der zu vermitteln suchte zwischen Thomas von Aquin und Duns Scotus. Taubes hörte eine Weile zu, dann sagte er etwas über den Mann, das auf eine intime Kenntnis seines Werkes und seiner Lebensumstände schließen ließ – nur: Der Mann hatte nie existiert. Die beiden hatten ihn erfunden, um Taubes eine Falle zu stellen. Er war eitel genug, hineinzutappen. Daraus wurde eine akademische Wanderlegende. Es gab immer mehr Leute, die für sich beanspruchten, Taubes „überführt“ zu haben.
Muller erzählt das, aber er ist klug genug, nicht nur hämisch zu lachen. Taubes war in der Lage, aus den Andeutungen der beiden und aus seiner Kenntnis der Philosophie der beiden mittelalterlichen Denker plausibel den zu konstruieren, der zwischen beiden vermittelte. Ob er wirklich existierte oder nicht, war angesichts dieser Leistung gleichgültig. Muller sagt das nicht, das sage ich. So wie ich Jakob Taubes am Ende seines Lebens kennenlernte, gehe ich davon aus, dass die Erfindung einer Figur und ihrer Gedanken ihn stolz machte. Ich glaubte nicht, dass es ihn wirklich genierte.
Ich erinnere mich an ein Seminar über den 1. Korintherbrief. Wir waren etwa ein halbes Dutzend Studentinnen und Studenten. Es war Winter. Es wurde früh dunkel. Der alte – aber gar nicht wirklich so alte – Jacob Taubes, vom Krebs gezeichnet, das Urbild eines jüdischen Gelehrten, beugte sich über die griechischen Urtexte und korrigierte dann und wann die von uns vorgelesene deutsche Übersetzung. So gingen wir den Text Satz für Satz durch. Meine Freundin hatte so etwas noch nie erlebt. So nah war sie in ihrem ganzen Studium noch nie einem Text gekommen. Sie glühte vor Begeisterung. Taubes bemerkte das und wurde noch genauer.
Es war ein Exerzitium. Wie es sich für einen Hermeneutikprofessor gehörte.
Aber dann geschah etwas ganz und gar Ungehöriges. Taubes schlief ein. Zuerst hatte der Kopf ein wenig gewackelt. Er ruckte hoch und redete. Unzusammenhängend. Dann legte er die Arme auf den Tisch und schlief auf ihnen ein. Wir saßen da, wussten nicht, was wir tun sollten. Wir hätten ihn wachrütteln müssen. Aber wir trauten uns nicht, ihn anzufassen.
Jacob Taubes war sehr schwach, das Seminar war anstrengend für ihn. Erst durch Mullers Buch habe ich erfahren, dass Taubes mit diesem Seminar an 30 Jahre alte Erfahrungen anknüpfte. Die Beschäftigung mit Paulus ist noch älter. Der junge Taubes war von Anfang an fasziniert von dem Juden Paulus, der – wie aus Versehen – zu dem Begründer einer christlichen Theologie wird. Die Ablehnung seines Messias durch jüdische Gemeinden ließ ihn einen Messias erschaffen, der die ganze Menschheit erlösen sollte.
Jacob Taubes wurde der Prophet dieser paulinischen Revolution, ihn faszinierte die Nähe des Untergangs dieser Welt. Er war Apokalyptiker. Er glaubte an das Ende. Das war es, was er in der Studentenrevolte sah. Er nahm sie wahr als eine Sekte, die den Untergang der alten Welt nicht nur heftig herbeisehnte, sondern ihn betrieb. Dass Rudi Dutschke seinen Sohn Hosea-Che nannte, passte Taubes ins Konzept.
Es gibt ein berühmtes Foto, das Jacob Taubes in der Freien Universität Berlin mit Herbert Marcuse zeigt. Das Auditorium maximum ist gegen alle feuerpolizeilichen Auflagen zum Bersten gefüllt. Marcuse spricht ins Mikrofon. Taubes hält eine Pfeife in der Hand und blickt nach oben. Bis zur Lektüre von Mullers Buch dachte ich, er sehe nach, ob jemand sich aus dem Publikum melden möchte. Jetzt gehe ich davon aus, dass Taubes den Messias sucht, jedenfalls irgendetwas, das nicht nur diesem Spektakel, sondern dem ganzen Weltenlauf ein Ende macht.
Aber Jakob Taubes, der an die Apokalypse glaubte, glaubte zugleich nicht an sie; Paulus war ja widerlegt. Die Naherwartung hatte sich um mindestens 2000 Jahre verzögert. Dem Ende des Römischen Reiches waren andere Reiche gefolgt. Aus der apokalyptischen Sekte war die Kirche hervorgegangen. Und ein Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation hatte sich gegründet und war untergegangen.
Die Welt drehte sich weiter. Die Geschichte hatte gesiegt. Nicht ihr Ende.
Jerry Z. Muller
Professor der Apokalypse
Die vielen Leben des Jacob Taubes
Aus dem Englischen von Ursula Kömen
927 S., geb.
ISBN: 978-3-633-54321-2
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022
Erstellungsdatum: 18.07.2024