1982 hat Wim Wenders im Zimmer 666 des Hotels Martinez in Cannes seine Regisseur-Kollegen versammelt, um ihnen Fragen zur Zukunft des Kinos zu stellen. Dass dabei immer wieder die wahrhaft dialektische Entscheidung ins Zentrum rückte, ob der Film die Wirklichkeit schafft oder als Produkt der Realität aufscheint, ist angesichts der Wirkmacht des Kinofilms nicht verwunderlich. Ulrich Breth reflektiert die Ideengeschichte, die sich in den Aussagen der Dokumentation spiegelt.
Im flüchtigen Anblick des Kleidersaums der schönen Passantin aus dem Gedicht À une Passante (1855), das Charles Baudelaire in die zweite Auflage seiner Fleurs du mal aufnehmen sollte, hat jene ästhetische Moderne ihren frühen und unüberbietbaren Ausdruck gefunden, als deren letzter Adept möglicherweise der Filmemacher Wim Wenders zu gelten hat, der sich nach eigenem Bekunden mehr noch als Reisender, denn als Filmemacher versteht. Der Weltreisende ist gewissermaßen die abstrakte Großform des großstädtischen Flaneurs. Wie jener sich den Stößen der Menge zu erwehren hat, so dieser der Fülle der Bilder, die auf ihn einstürzen.
Mehrfach hat sich Wim Wenders in seinen Filmen als Verteidiger des Kinos gegenüber der Macht der Bilder durch das Fernsehen und die neuen Medien ins Spiel gebracht. So zum Beispiel in der Dokumentation Chambre 666 (1982), in der er während des Cannes Film Festivals fünfzehn Regiekollegen, unter ihnen Jean-Luc Godard, Rainer Werner Fassbinder, Steven Spielberg und Michelangelo Antonioni, im letzten freien Zimmer der Stadt, einem Raum des Hotel Martinez, auf eine Liste von Fragen über die Zukunft des Kinos antworten lässt. Abgesehen von den Interviews zeigt der Film drei Einstellungen auf eine 150 Jahre alte Zeder aus dem Libanon, die an der Autobahn in der Nähe zur Einfahrt des Flughafens Charles de Gaulle steht und deren Alter für Wenders ihre Zeitgenossenschaft gegenüber der Geschichte der Fotografie symbolisiert. Insofern ist der Schwenk auf die Zeder am Anfang und Ende des Films sowie am Anfang von Fassbinders Statement mehr als ein ornamentales Element. Ihm lässt sich der Hinweis entnehmen, dass in Wenders' Filmen die Naturgegenstände immer zugleich Informationsträger von Spuren des Intelligiblen sind, denn wenn es anders wäre, könnten sie uns überhaupt nicht erscheinen. Godard hat diesen Sachverhalt in filmtheoretisch relevanter Form zum Ausdruck gebracht. Filme und Bilder machen sich selbst, wenn man sie nicht sieht. Das Unsichtbare ist das, was man nicht sieht. Eben das ist das Unglaubliche: Das Unglaubliche ist das, was man nicht sieht. Film heißt, das Unglaubliche zu zeigen, das, was man nicht sehen kann, was unglaublich ist. Godards Beitrag ist mit Abstand der längste, dennoch fällt seine Antwort auf die Frage, ob der Film eine Sprache sei, die verloren gehe, eine Kunst, die aussterben werde, vergleichsweise lakonisch aus: Das ist nicht schlimm. Das geht vorbei. Ich werde sterben, warum nicht auch meine Kunst? Dieses pourquoi pas lässt sich sowohl als verspätete Replik auf die lateinische Schulweisheit vita brevis, ars longa als auch als letzte Auskunft der in ihrem Rätselcharakter erstarrten Kunst der Moderne verstehen, deren Aufstieg, wenn man dieser vorgeschichtlichen Spur zu folgen bereit ist, vom je ne sais quoi der französischen Geschmacksdebatte ihren Ausgang genommen hat. Diese Überlegung ist deshalb nicht zu weit hergeholt, weil die Moderne sich sämtlicher Traditionsbestände versichert, um nochmals ein einzigartiges Pathos zu entfesseln, dass allen Späteren fremd und unverständlich erscheinen muss. Godard hat hierzu bemerkt, Hollywoods Traum sei es, nur noch einen einzigen Film zu machen, der überall in der Welt laufe. Die Filme wechseln die Titel, die TV-Serien wechseln die Titel, aber es ist immer der gleiche Film. Es entspricht der inneren Logik dieses Traums und des Epochenbruchs, der in ihm zum Ausdruck kommt, dass sich nicht mehr angeben lässt, wovon dieser immergleiche Film überhaupt handelt.
Die Gegenposition zur Stellung, die Wenders einnimmt und die Godard formuliert hat, wird von Paul Morrissey vertreten, der als Andy Warhols Assistent einst Gerard Malanga beerbt und sich als Regisseur von Filmen wie Flesh (1968), Lonesome Cowboys (1968), Trash (1970) und Andy Warhols Frankenstein (1973), in denen jeweils Joe Dallesandro als Hauptdarsteller agierte, einen Namen gemacht hat. Er bevorzugt das Fernsehen gegenüber dem Film, weil da Menschen vorkommen, während der Film, wie die Literatur, keine Charaktere mehr hervorbringe, sondern etwas Schreckliches: Regisseure und Fotografie.
Steven Spielberg redet in seinem Beitrag ausschließlich über ökonomische Zwänge (Wir wissen alle, dass das Geld knapp ist) und über Geld. Was Der Weiße Hai damals gekostet hat (8 Mio. US Dollar) und heute kosten würde (27 Mio. US Dollar), was E.T. - Der Außerirdische gekostet hat (10,3 Mio. US Dollar) und in 5 Jahren kosten wird (18 Mio. US Dollar), und dass sich die Branche mit einer jährlichen Kostensteigerung von 15 Prozent auseinanderzusetzen hat.
Fassbinder führt in seinem auffallend kurzen Beitrag den Begriff des bombastischen Sensationskinos ein, dem er das individuelle, nationale Kino gegenüberstellt, dem er sich offensichtlich selbst verpflichtet fühlt. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich die Rezeptionshaltung der Zuschauer von der Wahrnehmung optischer Reize auf die Wahrnehmung taktiler Reize verschoben hat, muss es aber nicht. Denn Fassbinder führt den Terminus Sensationskino zwar ein, aber nicht näher aus.
Im letzten Beitrag des Films schaltet Wenders ein Tonbandgerät ein, damit Yilmaz Güney, der sich in einem Versteck aufhält, ebenfalls zu Wort kommt. Güney, dessen Film Yol – der Weg gerade mit der Goldenen Palme ausgezeichnet worden ist, war Jahre zuvor aus einem türkischen Gefängnis geflohen, nachdem er in einem umstrittenen Prozess wegen eines Tötungsdelikts zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden war.
Den einzelnen Beiträgen ist nicht immer zu entnehmen, wo die Konfliktlinien im Hinblick auf die Frage nach der Zukunft des Kinos verlaufen. Der Gegensatz zwischen europäischem Autorenfilm und Hollywood-Kino, sowie den Funktionen, Geschichten zu erzählen oder das Publikum das Sehen zu lehren, bzw. ein Medium der Aufklärung oder ein Propagandainstrument zu sein, stehen einander unversöhnt gegenüber.
Am Ende des Jahrzehnts, in seiner Dokumentation über den japanischen Modedesigner Yohji Yamamoto, Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten (1989), einer Auftragsarbeit für das Centre national d’art et de culture Georges-Pompidou, die er zunächst zögerlich und mit gemischten Gefühlen angenommen hat, ist Wenders einen Schritt weiter. Der Film beginnt mit einem Statement, in dem er dem Kino mit seinen analogen Mitteln der mechanischen Produktion die Explosion der Bilder im digitalen Zeitalter gegenüberstellt.
Im weiteren Verlauf tauscht Wenders immer häufiger seine 35mm Kamera mit den 30 Meter langen Tageslichtspulen, die er nach einer Minute wechseln muss, gegen eine Videokamera aus, um gegen Ende des Films festzustellen, dass die Videokamera häufig die adäquateren Bilder vom modernen Tokio und der Welt des Modemachers liefert, den er bei seiner Arbeit in Tokio und Paris begleitet.
Was aus dem Mund der Hollywood-Regisseure aus Chambre 666 noch äusserst befremdlich klang, das Fernsehen habe es mit Menschen zu tun, der jeweils nächste Film müsse perfekt sein, hier klingt es zunächst folgerichtig und überzeugend. Er versuche, äussert der Modemacher, jeweils etwas Neues zu schaffen, das immer ganz klassisch sei; er sei kein Modedesigner, sondern Schneider; er möchte eine Form, eine Silhouette schaffen, dazu bedürfe es keiner Farbe; das von ihm bevorzugte Schwarz sei die Schlussfolgerung aller Farben; er müsse an Menschen denken, um ans Schneidern gehen zu können, da er den Menschen etwas mitteilen möchte.
Gemeinsam ist der Film- und Modeindustrie der Warencharakter ihrer Produkte. Der wesentliche Unterschied besteht in der Art und Weise, in der die vom Film und der Mode lancierten Produkte ihren Erfolg suchen. Während der Erfolg eines Films letztlich von den Besucherzahlen abhängt und damit an den Massenkonsum gebunden ist, leben die Produkte der Mode von der Illusion, dass von ihrem Zauber etwas auf die, die in sie hineinschlüpfen, übergeht. Und diese Illusion ist unvereinbar mit der Vorstellung des Massenkonsums. Sie ist vielmehr Ausdruck des Differenzkonsums der Haute Couture, während die Massenkonfektion erst zum Prêt-à-porter nobilitiert werden muss, um überhaupt tragbar zu sein. Der Aufstieg von Modemachern wie Yamamoto hat zu seiner Voraussetzung, dass sich in der Welt der Mode die Form vom Material emanzipiert hat. Das Geld für den maßgeschneiderten Anzug zahlt man dem Schneider für den Schnitt, den Anzug bekommt man geschenkt. Genau das ist die Haltung, der von Yamamoto widersprochen wird.
Denn in der Dominanz der Form bleiben die gesellschaftlichen Kosten des Anzugs, vom Rohstoff über dessen Bearbeitung bis zum industriellen Design einschließlich der Ressourcen und technischen Schritte, die dieser Vorgang verbraucht, außer Betracht. Gegen die Form betont er den Vorrang des touch, Wenders übersetzt das mit dem Ausdruck Griff, der vom Material ausgeht. Im Griff nach dem Material erspürt der Modemacher den Faltenwurf der Zeit. In ihm hat nicht nur das unbehandelte Naturmaterial seine Spur hinterlassen, sondern in ihm teilt sich mit, wie sich das Kleidungsstück in zwanzig Jahren anfühlen wird. Insofern ist es nicht erstaunlich, wenn Yamamoto an einer Stelle des Films den Gedanken äußerst, am liebsten würde er als Schneider keine Mode entwerfen, sondern die Zeit. Gleichzeitig führt er neben dem Menschen die Wirklichkeit als letzte Instanz ein, vor der sich die Flüchtigkeit der Mode zu bewähren hat.
Wie Wenders schätzt er die Bilder des Fotografen August Sander, dessen voluminöser Bildband Menschen des 20. Jahrhunderts ihm als Inspirationsquelle dient. Sein Ziel ist es, Menschen, die seine Kleider tragen, so aussehen zu lassen wie wirkliche Männer und Frauen auf den alten Fotos, die keine Kleidung tragen, sondern die Wirklichkeit. Für einen Moment fällt da der Blick von Wenders' Kamera auf den Kragen des Mantels von Jean-Paul Sartre. Und nun kommt es zu einer eigentümlichen Verschränkung. Denn es geht nicht nur ein Teil des Zaubers der Kleider auf ihre Besitzer über, gelegentlich nehmen auch Kleidungsstücke den Charakter der Person an, die sie trägt.
In Walter Benjamins letztem Text Über den Begriff der Geschichte heißt es: Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Dem entspricht Yamamotos Verfahren, der sich für seine Entwürfe durch die Kleidungsstücke auf alten Fotos anregen lässt. Doch seine Vermutung, bei den Menschen und Kleidern auf diesen Fotos handle es sich um Selbstdarbietungsformen der Wirklichkeit, beruht auf einer Täuschung. Das, was er die Wirklichkeit nennt, entsteht erst dort, wo die Mode das stets Neue dem Dickicht des Einst entreißt. Der Treibsatz für diesen Tigersprung ins Vergangene besteht in einer Beschleunigungserfahrung, die er nicht mehr reflektiert, sondern ins Existenzielle umdeutet. Für mich selbst kann ich nur sagen, dass ich schnell alt werden will, um alles so schnell wie möglich zu beenden. Außer dem Ende kommt nichts mehr, keine Zukunft, in der noch etwas beginnen könnte. Wenders dementiert diesen subjektiv-resignativen Gestus, indem er während des Selbstkommentars des Modemachers die Kamera über ein Friedhofsgelände schweifen lässt und dabei das Pathos der stummen Dinge in den Blick rückt, die in ihrer bloßen Dauer überleben, auch wenn sich ihre mögliche Bedeutung im Modus subjektiver Wahrnehmung nicht mehr entziffern lässt.
Auch in den 1990er Jahren und den beiden letzten Jahrzehnten hat Wenders Filme gemacht, die großartige Momente haben, in denen die Zeit gleichsam still steht, so etwa die Anfangsszene aus The Million Dollar Hotel (2000), in der Tom-Tom (Jeremy Davis) vom Hoteldach springt, während des Laufs über das Dach in die Kamera blickt und den Betrachter zugleich mit einer abwehrenden Geste auf Distanz hält.
Dabei muss dahingestellt bleiben, ob diese Filme die auratische Qualität seiner frühen Meisterwerke erreichen. Denn es ist durchaus möglich, dass sie über das Mass dessen hinaus, was jetzt schon absehbar ist, wie die unvergleichliche Dignität der älteren Damen und Herren des Buena Vista Social Club (1999), Botschaften enthalten, die zu vernehmen Späteren vorbehalten bleibt, da hierfür die Zeit noch nicht gekommen ist.
Siehe auch
Wim Wenders Stiftung
Erstellungsdatum: 28.07.2024