Es kommt vor, dass erzählende Prosa, die in ihren Ursprungsländern literarische Umbrüche auslöste, uns staunen, aber eben auch kalt lässt. Unter den vielen Gründen, die sich dafür anbieten, lassen sich auch die guten Übersetzungen aus anderen Sprachen finden, in denen diese Sprachkunstwerke ihre Wirkung entfalten können, aber eben nur dort. Felix Philipp Ingold zeigt, dass die Romane Claude Simons, der 1985 den Literaturnobelpreis bekam, es deshalb schwer bei uns haben.
Claude Simon ist 1985 für sein erzählerisches Gesamtwerk mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet worden. Gut ein Dutzend Romane und sonstige Prosatexte hat er zwischen 1947 und 2001 in loser Folge vorgelegt und sich damit namentlich als ein Großmeister literarischer Beschreibungskunst profiliert. Vorzugsweise griff er dabei auf historische Stoffe und autobiographische Ressourcen zurück. Statt lineare, chronologisch gefügte Handlungsverläufe aufzuzeichnen, legte er es darauf an, streng deskriptive Momentaufnahmen (von Gegenständen, Gebäuden, Landschaften, Wetterlagen, Personen usf.) sorgsam zu komponieren, vergleichbar den Scherben eines zerbrochenen Spiegels oder den Buntglassplittern eines Kaleidoskops, die aus lauter Bruchstücken assoziativ immer wieder neue Bilder entstehen lassen. Solcherart führt Simon unterschiedlichste Sinneseindrücke in einem gemeinsamen Textgerüst zusammen und schafft daraus dann doch jedesmal eine integrale künstlerische Einheit.
Ein bemerkenswertes, ja unverwechselbares Charakteristikum von Claude Simons Prosa sind seine überlangen und hochkomplexen Sätze, die oft eine Druckseite oder mehr für sich beanspruchen. Die Lektüre und das Verständnis derartiger Sätze erfordert naturgemäß erhöhte Konzentration und Umsicht – sie können nicht wie in gewohnter Erzählliteratur diagonal überflogen werden, vielmehr ist man (sofern es um ihr Verständnis geht) gezwungen, sie Wort um Wort langsam zu erschließen.
Dabei gewinnen – gegenüber klischeehafter Literatursprache und gängigen Metaphern – sowohl grammatische Formen wie auch syntaktische Strukturen klar an Bedeutung: Was gesagt wird, ist merklich dadurch konditioniert, wie es gesagt wird. Ein Satzgebilde mit vielen verschiedenen Redeteilen und Nebensätzen, kann auch unabhängig von seiner expliziten Aussage eine mehrdimensionale Sinnstruktur hervorbringen, die zeitliche, räumliche, kausale, konditionale u.a. Zusammenhänge schafft und festhält. Der grammatische und syntaktische Bau solcher Sätze bekommt dadurch ein Eigengewicht und wird gleichzeitig zu einem Gegengewicht in Bezug auf deren jeweiligen Inhalt, der ja normalerweise im Vordergrund steht.
Wenn einst Roman Jakobson die „Grammatik der Poesie“ als „Poesie der Grammatik“ ausgewiesen und durch zahlreiche Gedichtanalysen (zu Hölderlin, Baudelaire, Hopkins, Chlebnikow, Brecht) einsichtig gemacht hat, könnte man vielleicht – vergleichs- und versuchsweise – im Hinblick auf Claude Simons kunstvoll gebaute Sätze sagen, es handle sich dabei, unter linguistischem Gesichtspunkt, um eigens ausgearbeitete Prosagedichte: Ein Satz, für sich genommen, als Gedicht. Jakobsons Forderung, dem „grammatischen Bau“ des literarischen Texts ein „Eigengewicht“ zu geben, das als System und Organisation der grammatischen Formen eben dessen „Literarität“ bestätige, wäre damit erfüllt.
Claude Simons vorrangiges Interesse gilt nicht der Aussage, vielmehr dem Ausdruck (der Sprachform) seiner Texte, mithin ihrer lautlichen, rhythmischen und syntaktischen Machart, wenn nicht gar Eigenmächtigkeit auf Kosten ihrer außerliterarischen Bedeutung. Damit nimmt er ein für alle Poesie charakteristisches Form- und Funktionsmerkmal für seine Erzählkunst in Anspruch und verschiebt den Focus der Aufmerksamkeit von den Handlungen, Stimmungen, Spannungen, die im Roman stets vordergründig präsent sind, auf die phonetischen und grammatikalischen Qualitäten der Sprache als solchen.
Dies hier im Einzelnen darzulegen, ist aus zweierlei Gründen problematisch. Einerseits deshalb, weil die Sätze mehrheitlich zu umfangreich sind, um an dieser Stelle vollständig angeführt werden zu können, andrerseits aber auch, weil die französische Originalfassung, ebenfalls aus Platzgründen, fortgelassen und durch eine deutsche Nachbildung ersetzt werden müsste. Wenn dabei gleichwohl die Grammatik und Syntax der Vorlage erhalten bleibt, geht ihre lautliche Qualität (Melodik, Rhythmus) notwendigerweise verloren und ebenso das sprachinterne assoziative Spiel mit Redensarten, Dialekten, Zitaten. Das ist im Übrigen auch der Grund dafür, dass Simons Prosa in jeder noch so angestrengten Übersetzung (egal, in welcher Sprache) zumeist als uninteressant, wenn nicht als langweilig empfunden wird. Dennoch sei ein solcher Versuch gewagt. Als Beispiel verwende ich den letzten Langsatz aus dem frühen Roman „Der Wind“ (Le vent, 1957), der für sich allein zwei Druckseiten einnimmt. Der Satz beginnt wie folgt:
„Und ohne Zweifel gab es für ihn etwas, das wichtiger als die Ruhe war oder das er vorab abzuwarten hatte, ehe an Ruhe auch bloß zu denken war, und das er allein in dieser Luft erlangen konnte, etwas, das er allein dort unten entdecken konnte, sitzend auf dieser Bank, wo er ohne Zweifel seine Tage verbrachte, ohne nun auch nur noch den ersten Donnerstag des nächsten Monats abzuwarten, vielleicht gar ohne überhaupt noch etwas zu erwarten, ohne irgendetwas noch zu suchen, nicht mal eine Antwort, sich damit begnügend zu verweilen dort, in der langsamen und immer gleichen Abfolge der Stunden, der Tage, vor unverändertem, unveränderlichem Dekor die altertümliche und verehrungswürdige Erde, die alte verdreckte Welt, unentwegt bei jeder Morgendämmerung neu erstehend in ihrer ursprünglichen Jungfräulichkeit unter dem strahlenden Licht, ohne Geheimnis, offenkundig …“; und er endet: „… und die ewigen Boulespieler, und der einsame Gesang eines Vogels im Käfig, herkommend aus der Tiefe eines Haushofs jenseits der Dächer, jenseits der Zeit, das Schweigen: alles erneut in der unzerstörbaren Ordnung, selbst der Wind, von neuem da, die ersten Stöße des Herbstwinds, sporadisch nun das Zelt des Cafés schüttelnd, es walkend, es blähend und dann wieder es erschlaffen lassend mit trockenem Knattern wie von Geschützfeuer.“
Das ist, wohlverstanden, keine literarische, sondern lediglich eine Rohübersetzung, die alle grammatikalischen und syntaktischen Gegebenheiten des französischen (drei- bis viermal umfangreicheren) Originals berücksichtigt.
Dass Simons Beschreibungsprosa weitgehend auf konjugierte (bestimmte, aktive) Verbformen verzichtet und statt dessen unbestimmte Formen bevorzugt (Partizipien, Infinitiv, unpersönliche Ausdrücke), ist durchwegs sachgerecht und prägt seinen Personalstil. Bezeichnend dafür ist außerdem seine Vorliebe für parataktische Satzgliederung (mit „und“, „denn“ usf.) und generell für Aufzählungen von Gegenständen oder Eigenschaften. All diese stilistischen Besonderheiten sind grammatischer oder syntaktischer Art. Über das Frühwerk „Der Wind“ hinaus sind diese Besonderheiten für Claude Simons Erzählkunst bestimmend geblieben: Als ingeniöser Satzbaumeister ist hier ein Erzähler zum Dichter geworden.
Erstellungsdatum: 10.06.2025