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Claude Simons Satzkunst

Der Satzbau als Dichtwerk

Felix Philipp Ingold


Der Wind. Foto: pixabay

Es kommt vor, dass erzählende Prosa, die in ihren Ursprungsländern literarische Umbrüche auslöste, uns staunen, aber eben auch kalt lässt. Unter den vielen Gründen, die sich dafür anbieten, lassen sich auch die guten Übersetzungen aus anderen Sprachen finden, in denen diese Sprachkunstwerke ihre Wirkung entfalten können, aber eben nur dort. Felix Philipp Ingold zeigt, dass die Romane Claude Simons, der 1985 den Literaturnobelpreis bekam, es deshalb schwer bei uns haben.

 

Claude Simon ist 1985 für sein erzählerisches Gesamtwerk mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet worden. Gut ein Dutzend Romane und sonstige Prosatexte hat er zwischen 1947 und 2001 in loser Folge vorgelegt und sich damit namentlich als ein Großmeister literarischer Beschreibungskunst profiliert. Vorzugsweise griff er dabei auf historische Stoffe und autobiographische Ressourcen zurück. Statt lineare, chronologisch gefügte Handlungsverläufe aufzuzeichnen, legte er es darauf an, streng deskriptive Momentaufnahmen (von Gegenständen, Gebäuden, Landschaften, Wetterlagen, Personen usf.) sorgsam zu komponieren, vergleichbar den Scherben eines zerbrochenen Spiegels oder den Buntglassplittern eines Kaleidoskops, die aus lauter Bruchstücken assoziativ immer wieder neue Bilder entstehen lassen. Solcherart führt Simon unterschiedlichste Sinneseindrücke in einem gemeinsamen Textgerüst zusammen und schafft daraus dann doch jedesmal eine integrale künstlerische Einheit.

Ein bemerkenswertes, ja unverwechselbares Charakteristikum von Claude Simons Prosa sind seine überlangen und hochkomplexen Sätze, die oft eine Druckseite oder mehr für sich beanspruchen. Die Lektüre und das Verständnis derartiger Sätze erfordert naturgemäß erhöhte Konzentration und Umsicht – sie können nicht wie in gewohnter Erzählliteratur diagonal überflogen werden, vielmehr ist man (sofern es um ihr Verständnis geht) gezwungen, sie Wort um Wort langsam zu erschließen.

Dabei gewinnen – gegenüber klischeehafter Literatursprache und gängigen Metaphern – sowohl grammatische Formen wie auch syntaktische Strukturen klar an Bedeutung: Was gesagt wird, ist merklich dadurch konditioniert, wie es gesagt wird. Ein Satzgebilde mit vielen verschiedenen Redeteilen und Nebensätzen, kann auch unabhängig von seiner expliziten Aussage eine mehrdimensionale Sinnstruktur hervorbringen, die zeitliche, räumliche, kausale, konditionale u.a. Zusammenhänge schafft und festhält. Der grammatische und syntaktische Bau solcher Sätze bekommt dadurch ein Eigengewicht und wird gleichzeitig zu einem Gegengewicht in Bezug auf deren jeweiligen Inhalt, der ja normalerweise im Vordergrund steht.

Wenn einst Roman Jakobson die „Grammatik der Poesie“ als „Poesie der Grammatik“ ausgewiesen und durch zahlreiche Gedichtanalysen (zu Hölderlin, Baudelaire, Hopkins, Chlebnikow, Brecht) einsichtig gemacht hat, könnte man vielleicht – vergleichs- und versuchsweise – im Hinblick auf Claude Simons kunstvoll gebaute Sätze sagen, es handle sich dabei, unter linguistischem Gesichtspunkt, um eigens ausgearbeitete Prosagedichte: Ein Satz, für sich genommen, als Gedicht. Jakobsons Forderung, dem „grammatischen Bau“ des literarischen Texts ein „Eigengewicht“ zu geben, das als System und Organisation der grammatischen Formen eben dessen „Literarität“ bestätige, wäre damit erfüllt.

Erstellungsdatum: 10.06.2025