MenuMENU

zurück

Die Tänzerin und Choreografin Petra Lehr

Der Schwung der Synapsen

Doris Stickler


Petra Lehr. Foto: Jörg Baumann

Die freie Tanzszene ist mit Widrigkeiten gepflastertes Metier. Was es heißt, sich dort als Tänzerin und Choreografin zu behaupten, führt Petra Lehr in ihrer jüngsten Produktion „remembering for tomorrow“ vor Augen. In der Solo-Performance blickt sie nicht nur auf jahrelange Erfahrungen zurück. Die Gründerin des co.lab.tanztheaters will mit dem Stück auch Frauen bestärken, eigene Ideen und Wünsche umzusetzen, wie sie Doris Stickler erzählte.

 

Von schwereren Unfällen war die passionierte Radlerin stets verschont geblieben. Im vergangenen Jahr ist es dann passiert. Auf dem Fahrradweg (!) kollidierte sie mit einem Auto und handelte sich einen Kreuzbandriss und eine Reihe anderer Schädigungen ein. „Das war im März und im September stand ich wieder auf der Bühne. Ein Arzt wollte mich sogar in die geriatrische Orthopädie überweisen“, erzählt Petra Lehr. Wenn sie sich daran erinnert, muss sie schmunzeln. Dem Herrn war offenbar nicht klar, wie hart Tänzerinnen im Nehmen sind – auch im Alter.

Das ist für die 70-Jährige ohnehin kein Kriterium. Seit einem halben Jahrhundert im Tanz zuhause, brachte sie der runde Geburtstag im Gegenteil auf die Idee für eine neue Produktion. In „remembering for tomorrow“ – Erinnerungen für Morgen – lässt Petra Lehr ihr Leben als Tänzerin und Choreografin und die Entwicklung der freien Tanzszene Revue passieren. Die Solo-Performance hatte im Februar im Gallus Theater Premiere und wird dort erneut auf dem Spielplan stehen.

Seit sie 1983 dort die erste Inszenierung auf die Bühne brachte, ist sie dem Hause treu. Das wird sie auch weiterhin bleiben, denn: „Ans Aufhören denke ich noch lange nicht.“ Petra Lehr arbeitet bereits an einer neuen Performance – dieses Mal wieder mit einem Ensemble. Regelmäßiges Profitraining bei der Tanzplattform Rhein Main sowie gelegentlich bei der Dresden Frankfurt Dance Companie steht ohnehin auf ihrem Stundenplan. Das unentwegte Engagement ist bei ihr Tradition. „In den vergangenen 45 Jahren habe ich im Schnitt jährlich ein neues Stück entwickelt.“

 


Petra Lehr. Foto: Jörg Baumann

 

Da Petra Lehr die Besetzung jedes Mal neu formiert, gründete sie 1993 das co.lab.tanztheater. Es sei eine Austauschplattform für Künstler:innen verschiedener Genres, vor allem Musik, Schauspiel und Bildende Kunst. Nicht lange vor der co.lab-Gründung war sie von Wiesbaden nach Frankfurt umgesiedelt und lernte die Stadt schnell doppelt zu schätzen. „Das hiesige Kulturamt hat gleich meine erste Produktion gefördert.“ Zuvor in der Landeshauptstadt zuhause, führte sie ihre Stücke im ganzen Rhein-Main-Gebiet auf wurde aber selten von amtlicher Seite unterstützt. „Das Geld zum Leben habe ich hauptsächlich mit Tanzunterricht verdient.“

Umso mehr weiß es Petra Lehr zu schätzen, dass das Frankfurter Kulturamt und das Hessische Kultusministerium ihr bis heute Fördergelder gewähren. Bei „remembering for tomorrow“ beteiligte sich auch das Frauenreferat an der Finanzierung. Mit ihrem Lebensrückblick wollte Petra Lehr nicht zuletzt besonders Frauen bestärken, eigene Ideen und Wünsche umzusetzen. Zu ihrer Freude hat es bereits „während der Aufführung viele zustimmende Ahs und Ohs und Zwischenapplaus gegeben. Hinterher sind mehrere Frauen auf mich zugekommen und haben gesagt, dass ich ihnen Mut gemacht habe.“ Eine schönere Resonanz hätte sie sich kaum wünschen können. Zumal sie aus eigener Erfahrung weiß, dass es gelingt, Träume zu realisieren – selbst wenn es anfangs illusorisch erscheint. Schon als Kind begeistert von Ballett, sperrten sich die Eltern gegen einen Unterrichtsbesuch und erlaubten ihr nur den Turnverein. Als Petra Lehr später Design studierte, wurde hierzulande Modern Dance populär. Weil sie dessen enorme Bewegungsfreiheit noch mehr als Ballett faszinierte, ließ sie ihr Studium immer mehr schleifen. „Irgendwann habe ich mich dann entschlossen, Modern Dance und Jazztanz zum Beruf zu machen.“ Da es 1979 in Deutschland dafür keine Ausbildung gab, ging sie in die USA.

Dort besuchte sie zunächst in San Francisco eine Schule für Bewegungs- und Maskentheater und wechselte dann an die Martha Graham School of Contemporary Dance und das Alvin Ailey American Dance Center in New York. Nebenher jobbte sie, um alles zu finanzieren. Ende 1980 kehrt Petra Lehr nach Deutschland zurück und debütierte ein Jahr später als Choreografin. Eine ganze Weile nahm sie temporär Unterricht an den New Yorker Schulen und fasste in Deutschland mit ihren Produktionen in der freien Tanzszene zunehmend Fuß.


Petra Lehr im Gespräch mit der Dramaturgin von REMEMBERING FOR TOMORROW Johanna Milz. Foto: Jörg Baumann

 

Parallel hatte sie wiederholt Lehraufträge an Universitäten, leitete Tanz- und Theaterprojekte in Schulen und stellte mit Menschen mit Beeinträchtigungen Tanztheaterstücke auf die Beine. Eine Pilates-Ausbildung und das Zertifikat Tanzmedizin besitzt sie auch. Wie segensreich Bewegung für Körper, Geist und Seele ist, weiß Petra Lehr aus eigener Erfahrung nur zu gut. Das belegen inzwischen auch wissenschaftliche Studien, die dem Tanzen sogar eine Verminderung von Demenz- und Alzheimererkrankungen bescheinigen. „Bewegungen zu koordinieren bringt die Synapsen im Gehirn in Schwung.“

Um älteren Menschen diese förderlichen Effekte zugänglich zu machen, initiierte sie 2016 am Künstler:innenhaus Mousonturm den Tanz-Klub ü60. Ein Jahr später kam der Tanz-Klub ü40 hinzu. Beide Gruppen erarbeiteten jeweils einmal jährlich ein Stück, das zur Aufführung kam. Petra Lehr bedauert zutiefst, dass der Mousonturm 2022 ihre gut besuchten Angebote gestrichen hat. Seither unterrichtet sie privat zwei Gruppen, mit denen sie ebenfalls kleine Stücke kreiert. Allerdings habe sie nun oft mit einem Riesenproblem zu kämpfen: Räume für Proben und Aufführungen zu finden. Bei Ausschreibungen seien in erster Linie die Jungen gefragt, und wenn es um Themen wie Integration oder Diskriminierung geht, spiele die Gruppe der Älteren so gut wie keine Rolle.

Wenngleich Mittelkürzungen die Lage zusätzlich verschlimmern, lässt sich Petra Lehr nicht entmutigen. Dafür behauptet sie sich schon viel zu lange in einem Metier, das mit Widrigkeiten gepflastert ist und höchste Einsatzbereitschaft verlangt. „Für ein Stück entwickle ich Idee und Konzept, stelle Anträge, suche Mitwirkende, organisiere Proberäume und Auftrittsorte, leite die Proben und tanze meistens mit.“ Immerhin sieht sie in jüngster Zeit einen Lichtschimmer am Horizont. „Bis vor kurzem gab es keinerlei Verbindungen zwischen der Freien Szene und den Stadt- oder Staats-Theatern. Das ändert sich gerade, zwar sehr, sehr langsam, aber immerhin tut sich was.“

 

Fotos Jörg Baumann
www.baumann-fotografie.de

 

 

 

Erstellungsdatum: 03.08.2025