Im zeitlichen Abstand erst wird deutlich, was für einen ungeahnten Einfluss das deutsche Fernsehprogramm in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Gemüter der heranwachsenden Generation hatte. Die künstliche Schlagerseligkeit, die angestrengte Fröhlichkeit, die als ‚volkstümlich’ verkauft wurde, hat sich ihr, zumeist mit einer unüberwindlichen Distanz, ins Gedächtnis gelegt. Andreas Maiers Reminiszenz erinnert daran, worauf wir gerne verzichtet hätten.
Das mal wieder kranke Kind im Bett der Eltern, lassen wir es für das folgende fünf sein, ist in seinen Fernsehgewohnheiten bereits so gestählt, daß es morgens hinnimmt, was auch immer kommt. Sogar der Blaue Bock, der manchmal um acht Uhr morgens wiederholt wird, wird hingenommen und dem Nichtschauen vorgezogen. Das kranke Kind liegt im Bett und schaut Heinz Schenk, Roy Black und Ivan Rebroff, die allesamt von Dingen singen, die das Kind nicht verstehen kann, die Getränke trinken, die für das Kind völlig unbekannt sind, und die massenhaft Zigaretten und Pfeifen und Zigarren rauchen, ohne daß im Zimmer je davon zu riechen wäre. Nichts davon entstammt dem Zimmer, dem Haus, der Straße und dem Ort, in dem sich das Kind befindet, aber es strahlt zugleich aus zahllosen Bildschirmen in die diversen Zimmer des Ortes hinein, und die Mutter sagt: Auch drüben in Bad Nauheim sitzt jetzt der Onkel vor dem Bildschirm und schaut den Blauen Bock.
Der Onkel hatte dann nämlich an diesem Tag Spätschicht und am morgen noch frei.
Das Kind liegt hinter zugezogenen Stores (sie werden alle vier Wochen gewaschen) im leeren Schlafzimmer im ersten Stock des aus Firmengeld neugebauten Hauses auf dem ehemaligen Familiengrundstück der Familie Boll in Friedberg in der Wetterau, noch spricht es nicht viel, noch sitzt es meist stumm da, und wenn Verwandte kommen, hat es vor denen grundsätzlich Angst. Es schaut, ohne zu verstehen, allein, aber ohne sich einsam zu fühlen, den Blauen Bock.
Das Kind starrt auf die künstlich bunten Kulissen. Es sind Theaterkulissen, die eine Stadt darstellen. Das Kind war nie im Theater, es kennt auch die Stadt Friedberg, in der es nun lebt, nur sehr punktuell von einigen Autofahrten. In schneller Reihenfolge tauchen auf dem Bildschirm (das Kind hat kein Bewußtsein für „Bildschirm“, es weiß nur, daß es nicht zu nahe herangehen soll, weil das schädlich sei) verschiedene Menschen auf, zu einigen dieser Menschen hat das Kind bereits Zutrauen gefaßt. Es merkt auf beim Wiedersehen, etwa wenn die Putzfrau erscheint. Immer hat irgendwann während der Sendung die Putzfrau ihren Auftritt. Die Familie im Mühlweg hat auch eine Putzfrau. Sie heißt Frau Eiler. Frau Eiler hat, wie die Putzfrau im Blauen Bock, ein Kopftuch im Haar. Frau Eiler ist stets freundlich zu dem Kind. Sie putzt überdies alles weg. Vielleicht hat das Kind Zutrauen zu der Putzfrau im Blauen Bock, weil es Zutrauen zu Frau Eiler hat, die alles wegputzt.
Und dann sieht es Roy Black, der immer freundlich ist, er lächelt, auch ihm zum Beispiel kann man vertrauen, aber nicht ganz, denn er hat einen starken Bartwuchs, der auch bei glattester Rasur die Wange färbt wie beim gefürchteten Onkel J. Auch Ivan Rebroff genießt Vertrauen, denn er erinnert an einen Priester, den die Familie kennt und der den Mühlweg bisweilen besucht. Das Kind sieht noch viele andere und vor allem immer wieder Heinz Schenk, dessen Mundform das Kind allerdings immer in Angst versetzt, als würde er es gleich auffressen. Auch Roy Black hat einen zu großen Mund.
Der Teufel und der liebe Gott schauen dem Kind zu. Wie das Kind im Bett auf Roy Black starrt und die anderen, auch auf die Putzfrau und Heinz Schenk. Auf die Kulissen der Stadt. Auf die Bembel.
Der Teufel inspiziert interessiert das Zimmer. Das Elektrokabel geht vom Fernseher zur Steckdose. Das Antennenkabel läuft zum Dach, dort steht eine Antenne, sie empfängt Rundfunkwellen. Das Elektrokabel verschwindet kurz im Untergrund des ehemals nicht der Familie gehörenden, dann aber der Familie gehörenden Grundstücks und taucht wieder auf, um an der wenige zehn Meter vom Haus entfernt liegenden Umschaltstation wieder in die Lüfte zu steigen, immer noch im Mühlweg. Von da schwingt es sich bis zum Warthfeld, und ab da über zahllose Masten. Sie verästeln sich nach überall, durchziehen das ganze Land und enden hier und da an einem Kraftwerksort, Kohle, Atom, Wasser, überall zahllose Mitarbeiter vor Ort, die in zahllosen Wohnungen mit zahllosen Familien und Fernsehern hausen, in denen möglicherweise im selben Moment der Blaue Bock zu sehen ist, ausgestrahlt als morgendliche Wiederholung bundesweit durch die ARD, während die Strahlen, die die Antenne im Mühlweg empfängt, ihre Spur zurückverfolgen lassen zum Winterstein, dem von Onkel J. so geliebten Ort mit seinem Sendemast oberhalb des Forsthauses, und von da zum sogenannten Sternpunkt am Dornbusch in Frankfurt, der Anlage, über die auch schon wenige Tage zuvor die Sendung Zum Blauen Bock im Original ausgestrahlt worden war.
Der liebe Gott und der Teufel sitzen über Andi zu Gericht, wie er morgens im Jahr 1972 im Bett liegt und den Blauen Bock eingeschaltet bekommen hat und ihn auch tatsächlich teilweise mitverfolgt von Heinz Schenk über Roy Black bis hin zu Ivan Rebroff, der eigentlich Hans Rippert heißt und damals nicht nur seine sexuelle Orientierung, sondern auch seine nationale Herkunft verbrämt, was aber zu der Zeit niemand begreift. Meine Großmutter hielt ihn immer für einen Russen. Übrigens hielt sie auch Hans Albers zeitlebens stets für einen wirklichen und wahren Kapitän zur See auf hoher Fahrt. Auch mein Onkel J. glaubte daran. Sie waren noch ganz bei sich und glaubten noch den Dingen, die sie sahen.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Auszug aus: „Der Teufel“, Roman, Suhrkamp, Frühjahr 2025
Erstellungsdatum: 30.07.2024