Wer nichts mehr zu sagen hat und dann Gedichte schreibt, hat etwas zu sagen. In dieser Situation hat Jerk Götterwind seinen Lyrikband „Hinter den Wracks“ verfaßt. Und wenn der poetische Gestus auch an die Trümmer-Gedichte der Nachkriegszeit erinnern, dann, weil auch da eine Katastrophenerfahrung vorausging. Ein Neubeginn, ein Buchstabieren erster Worte gibt diesen auch eine neue Bedeutung. Ní Gudix ist bei der Lektüre des Gedichtbandes „Hinter den Wracks“ von Jerk Götterwind diesen Spuren gefolgt.
Beim Lesen von Jerk Götterwinds Gedichtband „Hinter den Wracks“ (RUP 2024) musste ich an einen Satz von Samuel Beckett denken: „Jedes Wort ist nur ein unnötiger Fleck auf der Stille und dem Nichts.“ Die Worte sind überflüssig geworden. Die Worte stören. Es geht um den Zeitpunkt, an dem man das Schreiben neu anfangen muss, weil man die Stille und das Nichts kennengelernt und festgestellt hat, dass die alten Wörter kaputt sind. Weil man lange weg war und nur dem Regen und den Vögeln zugehört hat. Die früher so alltäglichen Parolen und Floskeln, das übliche Trallala und Gequatsche ist nur noch störend. Man braucht Wörter nicht mehr.
Auch Götterwind braucht die Worte immer weniger. In den letzten Jahren ist es stiller um ihn geworden. Sicher, es sind weiterhin Gedichte und Kurzgeschichten von ihm in Kleinverlagen erschienen. Aber er hat keine Homepage mehr, und auf Facebook ist er zwar registriert, aber er postet nichts mehr und meldet sich nur noch selten mit Kommentaren zu Wort. „Es gibt nichts mehr zu sagen“, meinte er mir gegenüber einmal in einer E-Mail.
Und nun dieser Gedichtband. „Hinter den Wracks“ heißt er, und man denkt an Hausruinen, Geisterstädte, verfallene Bauwerke, die einst groß und laut waren und nun von der Natur und der Stille zurückerobert werden. Und man denkt auch an den literarischen Underground der 90er Jahre, der inzwischen auch aus Wracks besteht, aus dichtgemachten Kneipen, leerstehenden Verlagsruinen, abgegessenen Phrasen; man denkt an seelische und körperliche Wracks, an Drogen und Alkohol, an die abgewrackten Typen, die früher wild und laut waren und die jetzt vom Alter, von Krankheiten oder auch vom Tod eingeholt worden sind. Kaputte Häuser, kaputte Menschen, kaputte Wörter. Im gleichnamigen Gedicht heißt es: „Hinter den Wracks / Liegen meine Bücher / Verwundete Worte / Zerfetzte Buchstaben // Hinter den Wracks / Traurige Erinnerungen / An vermeintlich bessere / Zeiten dem Zerfall // Preisgegeben“ (S. 51).
Ich habe einmal in Polen eine Straße gesucht, von der sich dann herausstellte, dass es sie nur noch im Stadtplan gab. Passanten, die ich auf polnisch fragte, schüttelten die Köpfe: Diese Straße gebe es hier nicht. Als ich dort einbog, wo laut Stadtplan die Straße war, sah ich verfallene Mauern, Reste von Häusern, mit Gras und Unkraut dazwischen. Ein Mann stand dort, und als ich auch diesen nach der Straße fragte, sagte er auf Deutsch: „Ist hier.“ Künstlerpause. „Gewesen.“ Das ist Götterwinds „Hinter den Wracks“. Der Underground ist hier. Gewesen. Götterwind ist einer der Überlebenden. Er besucht die Friedhöfe, er blickt auf die toten Wörter. Eine Ära ist zu Ende.
Die aktuelle Zeit ist eigentlich eine sehr laute. Hysterie, Geschrei überall, jeden Tag wird eine neue Sau durchs mediale Dorf getrieben (oder auch zwei oder drei Säue, es kommt nicht mehr drauf an). Blogs schießen aus dem Boden, jeder Pups im Kies wird hochgejazzt und endlos diskutiert, und man schlägt mit immer denselben Worthülsen aufeinander ein. Gerade hier ist es wohltuend, dass Götterwind diesem Getöse den Rücken kehrt. Das ganze hysterische Zeitgeistgedröhn lässt er hinter sich; es ist nur noch ein Rauschen irgendwo weit weg, ein undefinierbares Nebengeräusch, aus dem Götterwind herausgetreten ist. Das tote Holz der immergleichen Phrasen, mit denen man da hinten so besessen kämpft, hat er nicht mehr nötig.
Das bedeutet nicht, dass Götterwind „heiße Eisen“ ausspart oder sich in Trivialität und seichter Befindlichkeitenbeschau verliert. Er schreibt über Corona, er schreibt über Veganismus, er schreibt über Depressionen, Einsamkeit und Krankheit, aber er schreibt darüber mit einem klaren offenen Blick, mit Humor und Präzision und ohne die üblichen Worthülsen, und die sattsam bekannten „Ich sitze hier und trinke Bier“-Trivialitäten des Social Beat sucht man bei ihm vergebens.
Es sind in gewisser Weise Gedichte eines Überlebenden. Gedichte aus der Stille, Gedichte der Sprachlosigkeit. Man hat manchmal den Eindruck, Götterwinds lyrisches Ich war lange krank, lag lange im Koma und kommt nun langsam wieder zu sich: „In meinem Kopf nur / Luft durch den ab und / An eine Steppenhexe / Reitet verdorrte Ödnis“ („Wind kommt auf“, S. 14). Und es sind dann auch die stillen Momente, die Ruhe, das Schweigen, die das lyrische Ich besonders anziehen, und diese Momente will es sich bewahren, bevor wieder der Alltag mit seiner ganzen Aufdringlichkeit und seinem dummdreisten Positivismus über ihm zusammenbricht: die „Unruhe die den Rest des Tages / Umarmt ihm durch die Haare / Wuschelt und versucht ihn / Auf den Mund zu küssen“ („Ein kurzer Augenblick“, S. 24).
Die Wörter muss sich der Überlebende wieder neu zusammenbauen, er muss wieder neu schreiben lernen, er, der aus der Stille kommt, lernt die Buchstaben wieder ganz von frischem kennen: „Schließlich hatte ich es geschafft / Jeder einzelne Buchstabe / War geputzt und stand glänzend / Vor mir bereit Großtaten zu / Vollbringen“ („Es geht wieder los“, S.11).
Jerk Götterwind, geboren 1967, lebt in Hessen und ist seit den 1990er Jahren eine bekannte Figur der literarischen Subkultur. Er veröffentlichte Gedichte und Geschichten in Zeitschriften und bei Kleinverlagen, er trat auch als Herausgeber und Übersetzer in Erscheinung (so übersetzte er zusammen mit Axel Monte Jack Blacks „Der große Ausbruch aus Folsom Prison“, bei Killroy Media erschienen). 2009 traf ich ihn, als wir gemeinsam in der Anthologie „Monsters of Poetry“ vertreten waren und mit anderen daraus Lesungen machten. Als ich 2013 mit Andreas Balck die Literaturzeitschrift „LaborBefund“ herausgab, bekam Jerk Götterwind mit der Nr. 11 im Januar 2014 ein Sonderheft. Damals führten wir im Klappentext Fernando Pessoas Zitat „Ich trage das Bewusstsein des Scheiterns wie eine Siegesfahne vor mir her“ an und schrieben: „Mit diesem Bewusstsein werden die Phrasen von Sieg und Niederlage, von Versagern, Helden und Antihelden als propagandistische Lügen entlarvt, mit denen die Mächtigen ihren Status absichern. Auch die Lyrik Jerk Götterwinds trägt dieses Bewusstsein des Scheiterns in sich, und das bedeutet nicht, dass er sich auf das Scheitern selbst etwas einbildet, sondern im Gegenteil: dass er den Siegesfahnen-Kult als Illusion durchschaut hat, als Show.“ Das trifft nach wie vor zu. Nur mit dem Unterschied, dass die Schlacht inzwischen längst vorbei ist. Wir befinden uns nicht mehr mitten im Getümmel, wir befinden uns hinter den Wracks, die bereits von Moos überwuchert sind. Götterwinds Lyrik akzeptiert das Scheitern, akzeptiert den Verfall und versucht nicht, die Leichen wiederzubeleben.
Themen in den Gedichten sind immer wieder Krankheit, Sterben, Friedhof, Depressionen, Migräne, Corona sowie Stille, Einsamkeit, Sprachlosigkeit, das lyrische Ich allein auf weiter Flur, die Absurdität des Lebens, Musik im Hintergrund, ein Vogel singt, Regen, Schottland, die Unwirklichkeit des Ichs und das Aufgehen im großen Nichts.
Ein schmales Bändchen, aber ein sehr starkes. Der Post-Underground lebt. Es geht weiter. Aus der Asche, aus dem Schweigen, das Tote hinter sich lassend und es überwindend.
Weitere Veröffentlichungen von Jerk Götterwind aus den letzten zehn Jahren:
„Nach dem Regen“, Gedichte, in Kooperation mit RUP, 2022
„Alles stürzt ein“, Chapbook, Cut-Ups, RUP, 2020
„Flitschesteine“, Gedichte, 2019, Dialog-Edition
„Lemmy - eine Hommage“, als Mit-Hrsg. zusammen mit Marvin Chlada, 2017, Dialog-Edition
„Staub & Schatten“, Gedichte, 2017, Dialog-Edition
„Etwas ist geblieben“, Gedichte, 2016, SV
Jerk Götterwind
Hinter den Wracks
Lyrik
104 S., Softbuch
Rodneys Underground Press (RUP), Dortmund 2024
Erstellungsdatum: 29.01.2025