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Ein Essay über das gebrochene Israel nach dem Hamas-Überfall

Das perpetuum mobile der Rache für die Rache scheint stillzustehen. Dem Vergeltungswunsch sind die Anlässe ausgegangen. Doch ein Waffenstillstand ist noch kein Frieden. Und für übertriebenen Optimismus besteht keinerlei Anlass. Das gebrochene, von Hass zerfressene Israel nach dem Hamas-Überfall und dem Vernichtungskrieg in Gaza ist anfälliger für die Verlockungen des messianischen Nationalismus als vor dem Justizputsch. Eran Rolnik hat die gesellschaftliche Situation analysiert.
Der Ausdruck „das andere Deutschland“ tauchte Anfang der 1950er-Jahre im israelischen öffentlichen Diskurs während der Debatten über das Luxemburger Wiedergutmachungsabkommen auf. Sein Ursprung reicht jedoch weiter zurück: Eine kleine Berliner Zeitung der 1920er-Jahre trug diesen Namen und wollte ein Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg als moralische, pazifistische Republik definieren, die sich ihrer historischen Verantwortung bewusst ist. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Zeitung geschlossen, doch der Begriff „das andere Deutschland“ blieb als kulturelle Metapher bestehen – Ausdruck der Möglichkeit eines Deutschlands, das national, aber nicht nationalistisch ist, fähig zu trauern über seine Entscheidungen und sich im Spiegel der Geschichte zu betrachten. Mitten im Zweiten Weltkrieg bereitete Thomas Mann in einer Rundfunkrede in Kalifornien seine Landsleute darauf vor, dass „das andere Deutschland“ nur wiederentstehen könne – nicht aus Stolz, sondern aus Scham.
In psychoanalytischer Sprache lässt sich das Bedürfnis, von einem „anderen Deutschland“ zu sprechen, als Reaktion auf Verlust verstehen. Freud unterschied in seinem Aufsatz „Trauer und Melancholie“ zwischen Trauer – einem Prozess der Trennung vom Objekt und seiner Idealisierung – und Melancholie, in der das Objekt seine Realität verliert, jedoch in der Psyche gefangen bleibt und deren Entwicklung lähmt. Alexander und Margarete Mitscherlich nannten dieses Phänomen „die Unfähigkeit zu trauern“ – Ausdruck einer deutschen Gesellschaft, die zwar die militärische Niederlage anerkannte, jedoch nicht die Tiefe ihrer emotionalen und idealen Bindung an den mörderischen Vater. Der Staat wollte zu rasch vergessen. So entstand eine Kultur, die von „Wiederaufbau“ und „Normalisierung“ sprach, statt von Verantwortung und Schuld.
Ein ähnlicher Prozess findet heute in Israel statt. Doch handelt es sich nicht um eine besiegte Diktatur, sondern um eine sich formierende Theokratie – eine zerfallende Demokratie, deren seelische Bestandteile – Gewissen, Zweifel, Reflexion – erodiert sind. An ihre Stelle ist das Trauma des 7. Oktober 2023 getreten, der Angriff der Hamas, als konstitutives Prinzip des israelischen Selbstverständnisses und seiner Verdrängungen. Auch hier bildet sich eine Sprache heraus, die man „das andere Israel“ nennen könnte: ein Selbstbild jener Israelis, die den entgleisten Staat wieder auf die Spur bringen wollen und bemüht sind, eine liberale und moralische Identität gegenüber der Welle von Nationalismus, Militarismus, Traumatisierung und Personenkult zu bewahren.
Doch auch „das andere Israel“ ist – ähnlich wie „das andere Deutschland“ nach 1945 – nicht allein aus dem Trauma des 7. Oktober hervorgegangen, sondern aus einer kumulativen Erfahrung verleugneter Verluste. Die israelische Gesellschaft ist bereit, das Versagen des 7. Oktober in technischen Begriffen – Geheimdienst, Militär, Logistik – zu erklären, weigert sich jedoch, ihre tiefere moralische Blindheit zu erkennen: die Gewöhnung an Besatzung als Lebensform, die Blindheit gegenüber dem legitimen Anspruch eines anderen Volkes auf dieses Land, die Leugnung der unterschiedslosen Zerstörung in Gaza, die Erosion der Fähigkeit, sich mit dem Leid anderer zu identifizieren. Auch unter denen, die sich als „das andere Israel“ verstehen, ist eine moralische Müdigkeit spürbar: Der Widerstand gegen Ungerechtigkeit entspringt nicht mehr einem politischen, sondern einem kulturell-therapeutischen Bewusstsein.
Israel erlebt, in Freuds Begriffen, eine kollektive Melancholie. Der Schatten des Verlustes liegt auf ihr: Sie kann sich nicht vom Selbstbild als Opfer trennen, schwankt zwischen Selbstanklage und Weltanklage – und macht doch weiter, als sei nichts geschehen. Der Schatten des Palästinensers fällt auf die israelische Demokratie. Statt ihn als politisches Subjekt anzuerkennen, verschanzt sie sich in einem asketischen Überlebensmodus, in dem jeder „Andere“ – Kritiker, arabischer Bürger oder politischer Gegner – als Bedrohung wahrgenommen wird.
Damit verliert die Gesellschaft die elementare Voraussetzung der Demokratie: die Anerkennung, dass der Andere Teil der Öffentlichkeit ist, kein Eindringling, den man jenseits der Grenze abwehren muss. Die öffentliche Sprache wird hohl. Begriffe wie „Mitgefühl“, „Gerechtigkeit“ oder „Verantwortung“ verlieren an Bedeutung, und „das andere Israel“ schrumpft zu einem Kreis von Intellektuellen mit geringer gesellschaftlicher Wirkung. Es bleibt ein kritisches, nostalgisches Bewusstsein ohne politische Kraft – eine melancholische Haltung des Protests.
Ähnlich wie im Deutschland der 1950er-Jahre bevorzugt auch Israel den raschen Wiederaufbau gegenüber tiefem Durcharbeiten. Wie W. G. Sebald über die deutschen Städte schrieb, die so wiederaufgebaut wurden, „dass wir nicht fragen müssen, was vorher war“, werden in Israel Mauern, Siedlungen und neue Mythen errichtet, um zu überdecken, was darunter vergessen wurde – Jahre der Besatzung, Gleichgültigkeit und doppelter Moral. Bauen ersetzt Erinnerung und Durcharbeiten.
Auf den ersten Blick versucht „das andere Israel“, Widerstand zu leisten: Es fordert eine Untersuchungskommission, prangert Korruption an, unterstützt eine freie Presse und unabhängige Institutionen. Doch hinter dem Kampf um eine „andere Normalität“ lauert die Falle eines überwältigenden Konsenses: der Wunsch nach Einigung der Lager, in der Hoffnung, die letzten Wahlen seien ein historischer Unfall gewesen und die nächsten würden Israel aus seiner Identitätskrise retten – als könnte das Land durch einen Wahltag erlöst werden. Hier droht jener Fehler, den die Mitscherlichs beschrieben: Verarbeitung wird durch Versöhnung ersetzt, Veränderung durch Nostalgie, Untersuchung durch Trost.
Vielleicht wird der Prüfstein für die Aufrichtigkeit des „anderen Israel“ sein Verhältnis zur internationalen Kritik sein. Boykotte und internationale Verurteilungen – auch wenn sie unangenehm, unwissend oder heuchlerisch sind – dienen als moralischer Spiegel, als Erinnerung an das, was die Gesellschaft selbst zu vergessen sucht. Doch in Israel wird nahezu jede Kritik sofort in die Sprache der Belagerung übersetzt: „Alle sind gegen uns.“ Dieses Opferbewusstsein verwandelt jede Kritik in Identifikation mit Verfolgung. Die Gesellschaft reagiert auf Schuld mit Abwehr, auf Abwehr mit Entfremdung, auf Entfremdung mit Verhärtung der Positionen.
So entsteht ein Kreislauf aus Schuld und Verleugnung. Das ist das melancholische Muster, das Freud beschrieb: Die Selbstanklage verändert nichts, weil der Melancholiker nicht wissen will, was er verloren hat – er scheut die innere Bedeutung des Verlustes und fixiert sich am verlorenen Objekt. „Das andere Israel“ bietet vielleicht ein Gewissen, jedoch weder Gewissenserforschung noch Wandel. Um politische Bedeutung zu gewinnen, müsste es den Kreislauf der Opferidentifikation durchbrechen und den Anderen nicht nur als Feind, sondern als Teil der nationalen Identität anerkennen. Doch in Israel wird das Konzept des „Anderen“ zunehmend auf eine sicherheitspolitische Dimension reduziert. So verliert die Demokratie ihre elementare Existenzbedingung – die Anerkennung, dass der Andere Teil derselben Öffentlichkeit ist, selbst wenn er das Gefühl kollektiver Zugehörigkeit infrage stellt.
Die Aufgabe des „anderen Israel“ wäre, ein moralisches Bewusstsein zu etablieren, das nicht nur an das erinnert, was verloren wurde (das persönliche Sicherheitsgefühl der Bürger), sondern auch an das, was nie existierte (volle Gleichberechtigung für alle Einwohner des Landes). Doch israelische Politik neutralisiert Kritik durch Spott, Schweigen oder Etikettierung. Es besteht die Gefahr, dass „das andere Israel“, das in den letzten zwei Jahren nur in der klaren Forderung nach Rückkehr der Geiseln eine deutliche Stimme fand, weiterhin in einer unpolitischen Sprache spricht, die den alten Eliten gefällt – jenen, die fühlen, dass sie von einer Katastrophe getroffen wurden, aber noch keine neuen Worte gefunden haben, um ihren Anteil daran zu verstehen. So entsteht ein Milieu von Intellektuellen, Juristen, Psychotherapeut:innen, Pädagog:innen und Wissenschaftler:innen, das – ähnlich den „guten Deutschen“ – ein moralisches Bewusstsein pflegt, jedoch häufig voyeuristisch und distanziert bleibt, als blicke es aus sicherer Entfernung auf das Geschehen, ohne echte Leidenschaft oder moralische Verpflichtung. Der Unterschied ist, dass Israel noch keine totale Katastrophe erlebt hat, die eine nationale Gewissenserforschung und äußere Intervention erzwingen würde. Deshalb bleibt „das andere Israel“ in einem Zwischenzustand – weder exiliert noch im Zentrum, weder ausgestoßen noch beteiligt. Es existiert als unsichtbares kritisches Bewusstsein, ein Flickenteppich empörter Kommunikationsgruppen, eine dünne Schicht nostalgischer Unruhe, die keine echte Opposition bildet, sondern allenfalls verhindert, dass die israelische Gesellschaft völlig in Vergessenheit und faschistoide Halluzination versinkt.
Im Moment scheint „das andere Israel“ ein Gewissen ohne Macht zu sein: eine Gemeinschaft von Intellektuellen, Therapeut:innen, Lehrer:innen, Ärzt:innen sowie Kultur- und Wissenschaftsleuten, die einen inneren Diskurs über Heilung und Hoffnung führen – aber keine neue politische Sprache anbieten können, außer dem wiederholten Ruf nach Rückkehr der Geiseln. Wie die „guten Deutschen“ nach dem Krieg droht auch ihnen, eine beobachtende Elite zu bleiben, die sich der Katastrophe bewusst ist, jedoch Schwierigkeiten hat, ihre Ursachen klar zu benennen oder moralisches Bewusstsein in politisches Handeln zu übersetzen.
Grund zur Zuversicht gibt es kaum. Ohne ein politisches, rechtliches und soziales Sicherheitsnetz internationalen Zuschnitts – wie es die Alliierten Deutschland nach 1945 boten – wird ein Trauma von solcher Tiefe, wie es Hunderttausende Bürger und Soldaten in den letzten zwei Jahren erlitten haben, eher die destruktiven als die lebensfördernden Kräfte stärken. Ein Bürgerkrieg scheint greifbar nah, und manche werden alles daransetzen, ihn zu entfachen. In einer Realität, in der die Werte der Demokratie zu leeren Symbolen werden, verliert auch das Gewissen seine Kraft. Die israelische Gesellschaft ist mit Normalisierung beschäftigt, nicht mit Selbstbetrachtung. So könnte „das andere Israel“ nicht nur marginal, sondern störend werden – eine Stimme, die an das erinnert, was die Mehrheit zu vergessen sucht.
Doch gerade diese Stimme ist jetzt nötiger denn je. Wenn niemand mehr zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Fakt und Verleugnung unterscheiden kann, wenn niemand mehr fragt, was unter den Schichten der Routine im besetzten Westjordanland verborgen liegt, erlischt die Möglichkeit der Erneuerung. „Das andere Israel“ kann das Land nicht verändern, doch es bewahrt die Erinnerung, die Verpflichtung, den wahren Pulsschlag der jüdischen Geschichte – auch als universale Geschichte – zu hören und auf die innere Stimme zu achten. Denn die moralische Bedeutung des Anderen liegt darin, dass man seine Stimme hört, selbst wenn die Gesellschaft längst aufgehört hat zuzuhören.
Zuerst erschienen in Haaretz am 10. Oktober 2025 (hebräische Originalfassung), englische Ausgabe am 17. Oktober 2025
Erstellungsdatum: 14.11.2025