Selbst Angriffe auf Schauspieler Tristan Tzaras auf der Bühne gehörten dazu: Als permanente Revolution hat sich der Schriftsteller André Breton den Surrealismus gedacht. Schließlich hatten er und seine Mitstreiter sich von der Kodifizierung des Denkens, Schreibens, Darstellens und Handelns befreit und wollten sich nicht mit einer methodischen Festlegung erneut fesseln. Die literarischen Texte und Manifeste der „Sürrealistischen Revolution“, die zum ersten Mal vollständig in deutscher Übersetzung erschienen sind, weisen deshalb modifizierend in alle möglichen Richtungen. Ulrich Breth zeigt, dass diese künstlerische Lebensauffassung auch heute noch nicht abgetan ist.
Meist sind es die kleineren, unabhängigen Verlage, die mit ihrem Programm ins verlegerische Risiko gehen. Sie verstehen sich als Teil sozialer Bewegungen oder einer kulturellen Avantgarde. Sie geben auch solchen Neuerscheinungen eine Chance, die nicht unmittelbar marktgängig sind, und bewahren vergriffene Texte, die für das Verständnis der Literatur und Theoriebildung der Moderne und Postmoderne von grundlegender Bedeutung sind, durch ihre Wiederveröffentlichung vor dem Vergessen.
Zu ihnen gehörte einst die nicht mehr existente, in Berlin-Kreuzberg ansässige Edition Sirene, die sich in den 1980er und 1990er Jahren durch bibliophile Veröffentlichungen um die Literatur des Surrealismus verdient gemacht hat. Gleiches gilt für den Hamburger Textem Verlag, der die zwölf Ausgaben der Publikation der Pariser Surrealistenbewegung „La Révolution surréaliste“, die zwischen dem 1. Dezember 1924 und dem 15. Dezember 1929 erschienen sind, im März dieses Jahres in deutscher Sprache veröffentlicht hat. Damit liegt diese Zeitschrift erstmals komplett in deutscher Übersetzung vor. Für die Arbeit an den Neuübersetzungen konnten die beiden Herausgeber Benjamin Dittmann-Bieber und Christian Driesen, von denen Driesen zwei Hefte der Zeitschrift und weitere Texte selbst übersetzt hat, eine Reihe arrivierter Übersetzerinnen und Übersetzer gewinnen, darunter den Bourdieu- und Deleuze-Übersetzer Bernd Schwibs, von dessen literarischen Übersetzungen in diesem Zusammenhang besonders die Neuübersetzung von André Bretons „Nadja“ 2011 im Suhrkamp Verlag zu Buche schlägt, die Autorin Unda Hörner, die Verfasserin des Bandes „Die realen Frauen der Surrealisten“, der im vergangenen Jahr bei ebersbach & simon erschienen ist, sowie Nicola Denis, die unter anderem durch ihre Übersetzungen von Éric Vuillard und Honoré de Balzac bei Matthes & Seitz bekannt geworden ist.
Im Ankündigungstext zur Publikation hat der Textem Verlag darauf hingewiesen, dass die Relektüre der Zeitschrift der Rezeption des Surrealismus in Deutschland entgegenwirken soll, die ihn auch heute noch überwiegend auf die bildende Kunst bezieht, während er in Frankreich auch als literarische Bewegung wahrgenommen wird. Was ihn von den anderen Stilrichtungen und Avantgarde-Bewegungen des späten 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterscheidet, ist, dass er sich nicht nur über die Kompetenzschranken des Systems der Künste hinwegsetzt, sondern als anarchistische bzw. revolutionäre Bewegung auf das gesellschaftliche Ganze zielt.
Das „Ü“ in der deutschsprachigen Übersetzung des Titels enthält eine Reminiszenz an Walter Benjamins Aufsatz „Der Sürrealismus“, der im Februar 1929 in drei Folgen der Wochenschrift „Die literarische Welt“ erschienen ist.
Benjamins auf das Jahr 1925 zurückgehendes Interesse am Surrealismus, in dem er eigene Intentionen wiedererkennt, gilt mehr der Bewegung als einzelnen Werken der Autoren, mit denen er erst ein Jahrzehnt später durch die Vermittlung seines Übersetzers Pierre Klossowski in Berührung gekommen ist. In seinem Aufsatz bezieht er die Position des distanzierten Betrachters, um das revolutionäre Potential des Surrealismus in Stellung zu bringen. „Hier wurde der Bereich der Dichtung von innen gesprengt“, heißt es dort, „in dem ein Kreis von engverbundenen Menschen „Dichterisches Leben“ bis an die äußersten Grenzen des Möglichen trieb.“ Und weiter: „Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen, darum kreist der Sürrealismus in allen Büchern und Unternehmen.“ Dabei wird der Erleuchtung, die der Traum oder der Rausch zu gewähren vermag, die „profane Erleuchtung“ zur Seite gestellt: „Der Leser, der Denkende, der Wartende, der Flaneur sind ebensowohl Typen des Erleuchteten wie der Opiumesser, der Träumer, der Berauschte.“
„Eine letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“ hat Benjamin seinen Text im Untertitel genannt, in dem er seine Erwartung an die Klasse der bürgerlichen Intellektuellen, inmitten der Krisis des humanistischen Freiheitsbegriffs endlich Farbe zu bekennen, mit der zeitlichen Perspektive verbindet, dass sich der Augenblick des Umschlags der ästhetischen Revolte in die „Organisierung des Pessimismus“, wie er unter Hinweis auf einen Ausdruck Pierre Navilles formuliert, nicht endlos prolongieren lässt.
Zwei Jahrzehnte später sind die Erwartungen an den Surrealismus in dem Essay „Der Surrealismus und die zeitgenössische Literatur“ von Julien Gracq, der jetzt in der Juli/August-Ausgabe 2025 in „Sinn und Form“ in deutscher Übersetzung erschienen ist, merklich herabgesetzt. Wie eine lange im Umlauf befindliche Münze hat die einstige Avantgarde-Bewegung viel von ihrem einstigen Glanz verloren. Ihr Einfluß wird auf das vom Existenzialismus geprägte literarische Feld begrenzt. „Seit 1925 ist eine Menge passiert. Hitler und die Atombombe, Hiroshima und Buchenwald – und noch manch anderes Skandalon für den Geist. Von alledem verrenkt wie eine Gliederpuppe, schweißgebadet wie nach einer anstrengenden Turnstunde schläft das Publikum heute wie auf einem Bett von Rosen, wenn es auf so harmlose Weise gereizt wird.“ Immerhin gesteht Gracq dem Surrealismus eine Art Fernwirkung zu; sein Erfolg bestehe „in einer von anderen Doktrinen selten erreichten Fähigkeit, sich über weite Entfernungen hinweg auszubreiten, sich in fremden und entlegenen Gewässern aufzulösen, sie zu kontaminieren.“ Möglicherweise hat das keiner treffender ausgedrückt, als der von Gracq bemühte Maurice Blanchot, der über das Gespenst des Surrealismus gesagt hat: „In jeder Person, die schreibt, gibt es eine surrealistische Berufung.“ Das mag mit dem explosiven Kern der Bewegung zusammenhängen, um den Benjamins Aufsatz beharrlich kreist. Letztlich darum, dass sich jeder, der das Verb „Schreiben“ in seiner intransitiven Form in der ersten Person Singular gebraucht, in dem Phantasma wiedererkennt, „mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und wahllos so viel wie möglich in die Menge zu schießen“, als das André Breton die „einfachste surrealistische Tat“ in seinem „Zweiten Manifest des Sürrealismus“ beschrieben hat.
Dass sich der zentrale Gedanke des Surrealismus, ein Äußerstes an Realitätserfahrung in seinen ästhetischen Manifestationen als „die intensivste Vorstellung von dem, was ist“ auf die Spitze zu treiben, keineswegs erledigt hat, hat Karl Heinz Bohrer, wiederum zwanzig Jahre nach Julien Gracq, in seinem Aufsatz „Surrealismus und Terror oder die Aporien des Juste-milieu“ (1969) unter Hinweis auf die Aktionen der Wiener Gruppe, von Joseph Beuys und Hermann Nitsch sowie der Berliner Kommune I als Teil der westdeutschen Studentenbewegung gezeigt.
in den zwölf Ausgaben der Zeitschrift „Die Sürrealistische Revolution“ finden sich Beiträge von 60 Autoren sowie grafische Arbeiten, Fotos und Collagen surrealistischer Künstler. Unter den Texten nehmen Beiträge von Louis Aragon, Antonin Artaud, André Breton, Robert Desnos, Paul Éluard, Michel Leiris, Max Morise und Benjamin Péret breiten Raum ein. Unter den grafischen Beiträgen besitzen die von Giorgio de Chirico, Max Ernst, André Masson, Pablo Picasso, Man Ray und Joan Miró sowohl qualitativ wie quantitativ besonderes Gewicht. In einer frühen Ausgabe der Zeitschrift ist Paul Klee ebenso vertreten wie Hans Arp, Yves Tanguy und Georges Malkine in späteren Ausgaben und Salvador Dali und René Magritte im letzten Heft. Dass sich im Surrealismus die Intuitionen der Literatur und Malerei immer wieder verschränken, lässt sich auch dem großen Essay „Der Surrealismus und die Malerei“ von Breton entnehmen, der in mehreren Fortsetzungen in der Zeitschrift abgedruckt ist. Mehrfach ergreift er als ebenso streitbares wie unangefochtenes Haupt der Bewegung die Gelegenheit, um das Profil des Surrealismus zu schärfen. In dem Text „Warum ich die sürrealistische Revolution anführe“, der im vierten Heft abgedruckt ist, klingt das noch so: „Die Bedingungen des Kampfes müssen noch festgelegt werden, da unsere Jugend und die Gefahren absoluter Untätigkeit, denen wir ausgesetzt sind, uns dazu getrieben haben, ihn auszufechten. Einige von uns können bereits ermessen, wie viel Terrain wir erobert und wie viel wir verloren haben.“ Im „Zweiten Manifest des Surrealismus“, das in der Schlussnummer der Zeitschrift abgedruckt ist, hat dies Bemühen bereits Züge des politischen Sektierertums angenommen, das für die spätere Phase des Surrealismus insgesamt charakteristisch ist. Festzuhalten bleibt, dass Breton bestrebt war, den Surrealismus in seiner Flüchtigkeit lebendig zu halten und gleichzeitig zu verhindern, dass er sich in die Sphäre des dadaistischen Bierulks auflöst, dem er seine Entstehung verdankt, oder sich mit dem auf das System der Künste beschränkten Stilbegriff verwechselt, der er auch ist.
Für Breton ist das Adjektiv „surrealistisch“ keine rezeptionsästhetische Kategorie, sondern ein produktives Vermögen, eine produktive Kraft, derer er sich versichert, indem er ihr eine ehrwürdige Tradition verleiht, die er auf Lautréamonts „Gesänge des Maldoror“ zurückdatiert, in denen das Schönheitsideal der Surrealisten als „die unvermutete Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ vorweggenommen wird. Als produktives Vermögen entzieht sich der Surrealismus der Fixierung in eine letztgültige Gestalt. Deswegen lehnt er es ab, die von ihm gemeinsam mit Philippe Soupault in dem Band „Die magnetischen Felder“ (1920) angewandte Technik der Écriture automatique zur Schreibroutine werden zu lassen, um literarische „Bravourstücke“ hervorzubringen. Gleichwohl gehören Versuche experimentellen Schreibens ebenso wie Traumprotokolle und die kollaborative Technik der Cadavre exquis auf dem Gebiet der Malerei zur Antriebssphäre, aus der der Surrealismus sich speist. Sie bilden einen wesentlichen Teil der Zeitschrift und werden ergänzt sowohl durch Gedichte, Wortspiele und Glossare, in denen sich die Lust an der Produktion ästhetischer Nebenideen auslebt, als auch durch Essays, politische Aufrufe, Umfragen, Briefe, die Präsentation von Zeitungsberichten und schließlich durch die Veröffentlichung des Drehbuchs zu seinem Film „Ein andalusischer Hund“, mit dem sich Luis Bunuel vorbehaltlos zum Denken und zur Aktivität der Surrealisten bekennt.
Nicht zuletzt erweisen sich die Surrealisten als Strategen in der Besetzung des literarischen Feldes, die in aufwändig gestalteten Anzeigen auf ihre Ausstellungen und Publikationen hinweisen und sich in Zitatmontagen und der Wiedergabe von Zeitungsberichten mit ihrer Außenwirkung intensiv auseinandersetzen.
Ihre Manifeste („ Öffnet die Gefängnisse, löst die Armee auf“, „Anschreiben an den Papst“, „Brief an die Chefärzte der Irrenanstalten“) nehmen Positionen vorweg, die die Denker des französischen Poststrukturalismus Jahrzehnte später aufgegriffen haben und die heute noch als minimale Erschütterungen in den autoritären bzw. neoliberalen Ordnungen der Gesellschaften des 21. Jahrhunderts vernehmbar sind.
Ergänzt wird die Veröffentlichung der 12 Hefte „Die sürrealistische Revolution“ durch die neueste Ausgabe der ebenfalls im Textem Verlag erscheinenden Kulturzeitschrift „Kultur & Gespenster“, die dem Schwerpunktthema Surrealismus gewidmet ist und als Bedienungsanleitung für das nun in vollständiger deutschsprachiger Übersetzung vorliegende Hauptdokument des französischen und internationalen Surrealismus zu verstehen ist. Sie enthält Texte von Unda Hörner, Milena Adam, Thomas Hauschild, Toby Kamps, William N. Copley, Bernd Schwibs, Carl Einstein, Elisabeth Lenk, Rita Bischof, Tim Trazkalik, Sebastian Baden u.v.a. sowie zahllose Cadavres Exquis von Künstlerinnen, Kuratorinnen und normalen Menschen, wie der Verlag schreibt. Bedienungsanleitung heißt in diesem Zusammenhang so viel wie: einige der Überschussmomente, die der Surrealismus freigesetzt hat, fern von ihren Ursprüngen hier und jetzt in Funktion zu setzen.
Benjamin Dittmann-Bieber, Christian Driesen (Hrsg.)
Die Sürrealistische Revolution (La Révolution Surréaliste)
12 Hefte im Schuber, 432 S.
Übersetzung: Milena Adam, Nicola Denis, Christian Driesen, André Hansen, Unda Hörner, Bernd Schwibs, Arabel Summent, Tim Trzaskalik
ISBN: 978-3-86485-311-1
textem Verlag, Hamburg 2025
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Erstellungsdatum: 01.09.2025