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Georg Leß: „die Nacht der Hungerputten"

Die letzten Fragen von Satzbau und Wohnraum

Alexander Kappe


Georg Leß. Foto: Dirk Skiba

Putten sind Säuglinge mit – nach den Gesetzen der Aerodynamik – zu kurzen Flügeln, um abheben zu können. Niemand weiß, warum und wozu sie eigentlich existieren. Ihr Entwicklungsstand schließt eine musikalische Ausbildung aus, dennoch sieht man sie allenthalben mit Instrumenten hantieren. Und sie sind viel zu herzig, um auch noch gut sein zu können. Georg Leß mag diese opake Unsichtbarkeit zu einem gewagten Gedichtband angeregt haben. Alexander Kappe hat ihn gelesen und ist zu dessen poetologischen Gründen vorgestoßen.


I. Wohnstatt und Stattliches

Mit Georg Leß’ die Nacht der Hungerputten ist vergangenen Herbst ein Buch beim Berliner Verlag kookbooks erschienen, das die Liste kurioser lyrischer Erzählwelten um einen herausragenden Beitrag ergänzt. Dass es bei den lyrischen Ausflügen ins Erzählerische meist nicht ohne gewaltige narrative Wagnisse einhergeht, ruft Ann Cottens Versepos Verbannt! von 2016 ins Gedächtnis. Leserschaft und Fernsehmoderatorin wurden auf die Insel Hegelland entführt, auf der schiffbrüchige Matrosen ihr Domizil errichtet haben. 2022 erschien mit Tim Hollands wir zaudern, wir brennen ein erzählerisch angelegter, spannender Band, der unter anderem die Übernahme des Bundeskanzleramts durch ein Kollektiv vorsah. Ulf Stolterfohts neu-nerusalem von 2015 wartete mit einem humorig-berührenden Christus-Cocktail, zusammengesetzt aus Karl May, Erbauungsliteratur und Erfindungsgabe. Das Unerhörte wurde im letzten Zyklus konsequenterweise von einem BND-Mitarbeiter verkostet und verhört. Und mit Anne Webers Annette, ein Heldinnenepos gewann ein erzähllyrisches Werk 2020 unerwartet den Deutschen Buchpreis. Die Renaissance lyrischen Erzählens ist nun eine Weile in Bewegung.(1)
Schon 2013 hatte Leß’ Band Schlachtgewicht seine Leserschaft gefunden (zum Beispiel mich). Vom Fuchs am Südkreuz, der zu Beginn des Bands auftritt, werde ich bei Nachtspaziergängen regelmäßig verfolgt, nur ist’s bei mir der Moabiter Landwehrkanal, den wir gemeinsam gehen. Im selben Jahr erschien auch der lesenswerte Essay Über das heimliche Verhältnis zwischen Gedicht und Horrorfilm.(2) 2019 legte er mit die Hohlhandmusikalität gewaltig nach – und führte erstmals jene Putten ein, die nun zu Hauptprotagonisten eines ganzen Bands werden.
Einem derart risikoprojektversierten Autor wie Leß muss man vor der Lektüre einen angemessenen Kredit geben.(3) Die Idee des Bands allein verdient für Fantasie, Einbildungskraft und dichterischen Mut größte Anerkennung. Die Texte loten die Grenzen dessen aus, was dichterisch möglich ist, ohne die Vermittlung existenziellerer Probleme aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig sprühen die einzelnen Gedichte vor brillanten Ideen, ohne die Rührung der Leserschaft zu vergessen. Es sind Gedichtbände wie dieser, auf welche die Lyrikentwicklung der letzten 25 Jahre hingespart hat. Dass solche Bände geschrieben werden und gedruckt werden, ist ein Zeichen für ein Betriebsumfeld, das sich trotz widriger Umstände einen Instinkt für das Marktuntaugliche, aber Schaurig-Schwierig-Schöne bewahrt hat. 
Das Zentralmotiv klingt abgefahren, werden in diesem Band doch aus den tröstenden unschuldigen Putten kannibalistische Tollpatsche mit Hang zur Selbstzerfleischung. Das ist kein Quatschmachen, sondern lässt sich als Auseinandersetzung mit der conditio humana und als Auseinandersetzung mit der Aufgabe des Dichtens selbst lesen. Geschickt blendet Leß die Ursache für Animation und Absturz der vormaligen Schmuckobjekte aus; niemand berichtet vom Anfang der Reise, vom frühen Horror. Ob sie ausgestoßen wurden oder sie den Beschluss gefasst haben, der vom Kosmos zugedachten Aufgabe der Vertröstung der Seelen nicht mehr nachzukommen, bleibt glücklicherweise offen. 
Die Texte rufen mehrere, im kulturellen Archiv fest verankerte Erklärungsmuster auf. Die Putten sind das, was wir verdrängt haben. Die Putten sind das, was wir sublimiert und überschminkt haben. Die Putten sind das, was wir wieder sein werden. Alles so ungefähr Freud. Dann bewegen wir uns in der nicht gerade schlanken Ahnenlinie derjenigen, die hinter der edelbarocken Fassade der Kultur eine ursprünglich animalische Natur vermuten, jederzeit bereit, aus dem Käfig entlassen zu werden. Womöglich täuschen wir uns in den Engelsgesichtern. Nur Kleider der Unschuld sind sie. Kleiderunterhalb derselbe schmatzende Moloch wie der, den ich ohnehin jeden Morgen im Spiegel sehe.(4) 
Wenig barocke Gemälde, deren symbolische Mitteilung dringend auf Putten angewiesen wäre; eigentlich sind sie immer überflüssig wie das Semikolon; so wie Lyrik; doch Überfluss hat nicht umsonst zwei Konnotationen (Müll, du kannst weg, und du bist ein Überschuss, der wohin muss). Die Lust am Überfluss ist dann auch immer eine Geste des Widerstands gegen Funktionalisierung durch die instrumentelle Vernunft. Die Putten wehren sich dagegen, in der Funktion der Kosmosveredelung aufzugehen (wunderbar: „es wimmelt kurz und feist in meinem schlanken Schatten / nützlicher wären Kriegselefanten“). Sie strecken die Waffen, sie streiken, kehren ihr Innerstes nach außen. Nur ist ihr Innerstes leider kein Rosengarten und Eros, sondern auch Thanatos und Lust am Verfleischigen. 
Doch gibt es keinen Text, keine Stimme in den Gedichten, die sich zu solchen finalen Diagnosen hinreißen lässt. Es ist eine berührte, berückte, bestürzte Wahrnehmungsstimme, die dem Absturz der Putten beiwohnt. Der Band verheddert sich trotz gedankenlyrischer Anlage nicht in Besinnungsaufsätzen zu diesen Fragen, sondern evoziert Anschauungsmöglichkeiten, wie sie auch beim Beobachten von Gemälden notwendig ist. Herbeirufen statt Ausbuchstabieren ist Eleganz, weil Ausbuchstabieren im Gedicht unangenehme Quietschgeräusche produziert, welche die Ankunft des Autors auf unserem Schoß ankündigen. Für konzeptionell denkende Lyrik wie auch für Lyrik, die vom Abwegigen erzählt, ist es von besonderer Bedeutung, auf welche Weise das Konzept oder die Regeln der erzählten Welt kommuniziert werden. Der einfachste mögliche Weg etwa wäre es gewesen, dem Band etwas wie ein Vorwort voranzustellen oder eine andere Stelle zu designieren, um die Anzahl der Fragezeichen im Kopf der Leserschaft freundlich zu verringern. Stattdessen entscheidet sich Leß für eine Struktur von zwei Kapiteln, die jeweils mit einem Nachwort versehen sind. Die zwei Nachworte runden nicht Einzelgedichte und Konzept, auch liefern sie nicht Ursprung oder Anlass für das Zur-Erde-Kommen der Putten.(5)
Leß lässt die Putten es lieber selbst krachen lassen. Und zwar wortwörtlich, denn gleich zu Beginn des Bands erfolgt der Landeanflug der Hungerputten durch ein Möbelhausdach.(6) Wenig gelenk stürzen die kleinen Biester zu Boden. Alles erzählt aus Sicht eines Menschen, der im Möbelhaus nach Heimat sucht (allein dieses Bild schon wunderbar schwankend zwischen dem Auslösen von Rührung und Gelächter, Pathos und Bathos). Die lyrische Stimme der meisten Gedichte scheint einer konkreten, gleichwohl namenlosen Person aus der Erzählwelt der Gedichte zugehörig. In manchem Gedicht scheint es die Putte selbst oder ein Putten-Wir zu sein, das berichtet.
Das heißt: Wenn die lyrische Stimme über die Putten spricht, spricht sie auch über sich. Die Stimme spiegelt sich im seltsamen Gehampel der Hungerputten. Diese kluge Entscheidung ist es dann auch, die Leß die meist gedankenlyrische Verhandlung existenzieller Themen erlaubt, der „letzten Fragen von Satzbau und Wohnraum“, wie es im Gedicht wer mitschreibt heißt. Die taumelnden Putten, die genauso gern am nächsten wie an sich selbst nagen, werden zu Spiegelbildern des Menschen, zu verkleinerten Versionen der Großen. Sie sind unheimlich, weil wir sie heimlich verstehen (jetzt wirklich Freud). Während die lyrische Stimme über die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Ich und Anderen verfügt, fehlt eine solche Fähigkeit den schlechthinnigen Objekten, denen man anbefohlen hat, Subjekte zu werden, wie Putten es sind. Ihr Schicksal als Wesen, die aus dem festgefügten Bildrahmen gefallen sind, ist – wie wunderbar konsequent – die Spiegelung der Situation des Menschen als Wesen ohne fest verankerten Wohnsitz im Kosmos, ohne ganz Mensch zu sein. Putte-Sein als ewiges Spiegelstadium. Poetisch reflektiert das die Syntax in ihrem Hang zu Ellipsen und Schleifen, in denen Subjekt-Objekt-Strukturen und Attribution zweideutig werden.
Der Band ist auch als Band über das Gedichtemachen zu verstehen, und zwar insbesondere über das Gedichtemachen in der Gegenwart. Um die lyrischen Form-Großereignisse der letzten Jahrzehnte zu toppen, lässt sich nur die Reflexivität steigern oder ins Kleine, Intime, Persönliche zurückziehen. Das ist das Epigonalismusproblem, das immer lauert und den Jüngeren, die auf neue Entwicklungen immer irgendwie zu reagieren haben, und auch so manchen Gesamtwerken, die zwischen Selbstwiederholung und Neuerungskrampf schwanken, gern die Beine in den Weg stellt. Beide Optionen des Was nun? treffen materialisiert aufeinander: in Form der souverän-selbstkritischen lyrischen Stimme (Verkleinerung und Verinnerlichung) und der Putten (Steigerung des Möglichkeitsraums). Der Gedichtband votiert dann für eine Vermählung beider Welten, für eine Hybridisierung der Wesen, denn es sind zarte Putten.(7)
Leß sagt das Existenzielle nicht einfach nur auf komplizierte Weise, er erfindet eigene Wesen als Träger dieser Selbstansprache, indem er sich eine kulturell bedeutsame Figur aneignet. Gelungen findet das insbesondere eine Leserschaft, die der anthropologischen Überzeugung ist, dass man steinige Wege zurücklegen muss für innere Einsichten von Wert. Sie kosten etwas, sie gibt es nicht kostenlos; umsonst ist nur jenes teure Überflüssige.(8) 

II. Satzbau und Weltschraub
Die Hungerputten erweitern den Möglichkeitsraum dessen, wie „erzählte Welten“ in der Lyrik funktionieren können. Vielleicht etwas für die Zukunft der Lyrik: der Prosa das Erzählen entreißen. Nicht nur Prosa kann erzählen, Lyrik kann es auch. Auch ein Mittel, um aus der Nische rauszukommen. Auf die Prosa zugehen, sie enteignen. 
Wie man das anstellen kann, führen die Hungerputten vor, weil sie geschickt mit einem der wichtigsten Kriterien für erzählte Welten umgehen, nämlich Kohärenz. Zauberhafter Ausflug mit Späßchen: Wenn in einer erzählten Welt voller Magie die Tatsache eingeführt wird, dass Zaubersprüche nur mittels eines Zauberstabs ausgeführt werden können, ab Kapitel 95 von Band IV plötzlich Figuren über die Fähigkeit verfügen, ihre Feinde nur mittels einer lässigen Handbewegung in die ewigen Jagdgründe zu befördern, glühen die Reddit-Threads enttäuschter Anhänger. Fehlt der Plot-Point, wie die Figuren dieser Welt zur wunderbaren Verbesserung ihrer magischen Fähigkeiten gelangt sind, fehlt Kohärenz. 
Dasselbe gilt nicht nur für fantastische Texte und insbesondere die modernen fantastischen Texte, die komplexe Mythologien zu entfalten suchen, sondern für jedweden Erzähltext. Wenn Odysseus die Sirenen passieren will und seinen Mitstreitern aufträgt, sich die Ohren mit geschmolzenem Wachs zu verstopfen, der Erzähler aber nach erfolgreicher Passage das Wachs in den Ohren gegen Kopfhörer der Marke Beats by Dre austauscht, befinden wir uns in einer kohärenzbefreiten (und anachronistischen) Erzählwelt. Kohärenz ist also zunächst Kennzeichen handwerklicher Qualität. Umgekehrt kann mangelnde Kohärenz genau handwerkliche Qualität bedeuten, weil das Fehlen dieser Kohärenz selbst bereits eine Aussage beinhaltet: World’s a messy place. Sinn schafft schaffendes Wort. 
Genauso problematisch wie Widersprüche sind Leerstellen im Regelwerk der erzählten Welt. Das ist bei Leß der Fall, wenn er den Ursprung der seltsamen Vorgänge ausblendet und den Putten seltsame Eigenschaften gibt, deren Kohärenz höchstens das kulturelle Bild vom Barock als Kulturraum des Übermäßigen wie Regelsüchtigen garantiert (wer oder was sind die Putten, woher kommen sie, was wollen sie, sind sie auf eigenes Anraten unterwegs oder war’s doch ein großangelegter Höllensturz ganzer Engelsgeschwader, warum haben sie ständig Nackenschmerzen, etwa vom Sterne- oder vom Angucken von gewaltigen Gemälden, warum essen sie Menschen wie ihre eigene Art, warum so viel Marzipan, hat da jemand den Speiseplan seiner Protagonisten nicht durchdacht?)(9) 
Formen der Regelabweichung – Kopfhörer auf den Ohren statt Wachsmatschepatsche in den Ohren, hungrige Putten statt gütiger Engel – sind manchmal einfach und manchmal schwieriger zu entziffern. Sie bieten große literarische Möglichkeiten. Gleichwohl bleiben sie auf das etablierte Regelwerk als großes Nein bezogen. Das gehört zum Konzept der Abweichung. Der Regelfall wird zum Palimpsest, das durchscheint, wenn die oberste Papierschicht abgetragen ist. 
Problematisch wird es, wenn dieses große Nein der Abweichung erstens den Geist adoleszenter Revolte atmet, einer Revolte, die sich gegen alles richtet, was man nicht selbst geschaffen hat und gekränkten Künstlernarzissmus enthüllt. Oder zweitens, wenn die Energie aus der Revolte gegen alles speist, was nur den Anschein von Stabilität erweckt, wie es Regelwerke und insbesondere tradierte Regelwerke ja zweifellos tun, und der Erschaffer aus intellektueller Bequemlichkeit vergisst, dass die Revolte des Fluiden mittlerweile genauso zur Metaphysik erstarrt ist wie dasjenige, gegen das irgendwo ab Mitte 20. Jahrhundert mal revoltiert wurde. 
All das tut Leß nicht. Stattdessen weichen die Texte ab, um etwas Unvorstellbares zur Anschauung zu bringen und grundsätzliche Fragen des Menschseins zu verhandeln, und dabei eine frische, originelle Sprache wie auch ein irres, unterhaltsames Szenario bieten. Auch sind die Abweichungen in Leß’ Poetik leise, etwa im Gedicht gegen die zehn zeilen, das selbstverständlich elf Zeilen hat.
Bücher sind nicht nur dafür zu schätzen, was ihnen gelingt, sondern auch dafür, welche Fehler sie vermeiden. Wunderbare Bücher machen die Leserschaft vergessen, dass es diese Fallstricke gegeben hätte. Sie lassen es aussehen, als sei Gelingen der einzig mögliche Ausgang gewesen. Im Falle des Konzepts von die Nacht der Hungerputten hat eine Vielzahl solcher möglichen Fauxpas gegeben. Man muss Respekt vor einem hervorragenden Handwerker wie Leß haben, der die Schwierigkeit der selbstgestellten Aufgabe unsichtbar machen kann.
Lyrisches Erzählen verfügt, Stand jetzt, über den ungeheuren Vorteil, nicht mit einer Leserschaft kommunizieren zu müssen, die an bestimmte Versatzbaustücke realistischen Erzählens gewöhnt ist. Klar, Erwartungshaltungen gibt es beim fleißig lyriklesenden Publikum natürlich auch. Doch darf man nicht unterschätzen, was es mit dem Schreiben und insbesondere dem Erschaffen von Welten macht, wenn es derart viele Texte gibt, die letztendlich im selben Regelsystem operieren, wie es bei der Prosa der Gegenwart ohne jede Abwertung schlichtweg der Fall ist. Texte, die davon absehen, einer oder mehrere Figuren bei der Ausfechtung eines Konflikts beizuwohnen und gewisse Grundstrukturen des Erzählens wie Exposition und Klimax und Mittel der Beschreibung von Personal einzuhalten, fallen rezeptionsseitig flott in die Kategorie „abgefahren“. Geschenkt, ob das berechtigt ist oder nicht. Rezeptionspsychologisch ist das literarische Feld inklusive Literaturbetrieb nun mal gerade derartig gepolt. 
Lyrik der Gegenwart hat dieses Problem weniger, der Möglichkeitsraum ist mittlerweile grundsätzlich größer (eben wegen des großen Wagemuts von Persönlichkeiten der letzten 30, 40 Jahre). Originalität muss in der Lyrik gegenwärtig nicht gegen die Form erkämpft werden, wie es in der Prosa der Fall ist. Individualpoetiken sind zwar auch in Prosa möglich. Viele von mir geschätzte Werke entwickeln eine solche auch. Das gegenwärtige literarische Feld operiert aber mehr über die Wahl der Stoffe.(10) Das lyrische Erzählen hat derzeitig die vielleicht einmalige historische Gelegenheit, aus der Nische herauszukommen, deren Existenz allerorten für Verdruss sorgt. Enteignung ist also das Schlüsselwort, das nicht nur Ex-Kommunisten und Cum-Ex-Spezialisten im Mund führen sollten. Gestisch gesprochen: Auf die nichtsahnende Prosa zugehen und freundlich grüßen, wie man alte Bekannte grüßt, den Handschlag anbietend, und ihr beim Austausch von Nettigkeiten dreist die Schlüssel des Erzählens aus der Tasche fingern. Dass Lyrik ebenfalls hochgradig aufregend erzählen kann, zeigen die Nacht der Hungerputten.

 

 

(1) In einem dreisten Move der Eigenwerbung sei auch auf die sechste Ausgabe der Transistor – Zeitschrift für zeitgenössische Lyrik verwiesen, die sich der Gattung »Langgedicht« widmete.

(2) Im Band Metonymie bei J. Frank/Verlagshaus Berlin.

(3) Zugegebenermaßen musste die Bereitschaft zur Kreditvergabe bei mir die Hürde einer ersten Assoziation überspringen, die der Titel die Nacht der Hungerputten in meinem Fernsehkind-Kopf hervorrief, nämlich: die in jederlei Hinsicht grauenerregende amerikanische Zeichentrickserie Attack of the Killer Tomatoes (1990-1991). Ich bekam davon Albträume und esse zur Traumabewältigung seither nur Pizza bianco.

(4)Jeden Morgen schnurrt es Pfui! Wenn die Katze die Möglichkeit hätte, würde sie dich fressen.

(5) Lösungsversuche bleiben ohnehin Aufgabe der Leserschaft, der man diese Leistung zuzutrauen hat, will man nicht misanthropisches Herumgemäkel an den Fähigkeiten der Weltmitbewohner mitkommunizieren und anempfehlen. Gelehrt werden möge bitte nur an Schulen und von mir aus noch an Theatern.

(6) Selbst schuld, wer hier nicht an den zweiten Teil von George Romeros Reihe Living Dead, nämlich Dawn of the Dead (1978) denkt. In diesem Film verschanzen sich die Figuren in einer Einkaufspassage vor den lebenden, nach Menschenfleisch hungernden Toten. Statt kapitalismuskritischen Untertönen also ein Bild für die Unmöglichkeit, eine Heimat in der Welt zu finden. Findet Novalis gut, die taz schlecht. Aber da gibt’s ja ohnehin keine Lyrikrezensionen.

(7) Deren Fortpflanzungsgeschichte den Stoff für künftige interdisziplinäre Großanträge von Lyrikforschern und Biologen bei der DFG bieten möge.

(8) Das ist auch das Problem mit allzu unvermittelten Pathosausschüttungen. Nicht etwa, weil es peinlich ist zu glauben, dass wir im Leben einer sinnlosen Veranstaltung beiwohnen, oder sich jeder zum Affen macht, der etwas von sich, vom Nächsten oder Leben will. Wenn wir etwas nur direkt sagen müssten, um Einsicht oder Veränderung einzuleiten, wäre schon längst alles anders. Unvermitteltes Pathos ist schlicht eine Abkürzung.

(9) Das Ausblenden der Ursache für die präsentierten Ereignisse ist ohne Frage probates literarisches Mittel, von Mystery bis Kafka. Entweder, um das Publikum bei einem seriellen Werk bei Laune zu halten, etwa wenn man beim Schauen der Fernsehserie Lost ganze sieben monsterlange Staffeln darauf wartet, dass endlich aufgeklärt wird, warum diese ganzen Leute überhaupt auf einer einsamen Insel sind (Spoiler: It’s all a dream.) Oder um Atmosphäre zu erzeugen.

(10) Vielleicht nur meine Lesehaltung: Beim Lyriklesen assoziiere ich Wörter mit Bildern. Beim Prosalesen assoziiere ich Text mit Text.

Georg Leß
die Nacht der Hungerputten
Gedichte
31 S., brosch
IBSN: 978-3948336240
Verlag Kookbooks, Berlin 2023

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Erstellungsdatum: 26.10.2024