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In Zeiten der Netzspionage, der Internetüberwachung ganzer Völker treten Begriffe wie Algorithmus und binärer Code ins Bewusstsein vieler Menschen, die sich noch nie mit Mathematik beschäftigt haben. Der binäre Code drückt alle Informationen mit Eins und Null aus. Während die Eins schnell erfunden war, brauchte es dagegen lange, bis kluge indische Mathematiker die Null als Zahlenwert entdeckten. Clair Lüdenbach hat der Geschichte der Null nachgespürt und den Gründen für den mathematischen Genius der Inder.
Bangalore, das Mekka der Informationstechnologie, ist laut und bunt wie jede andere indische Großstadt. An einer Straßenecke treffen sich allabendlich in einem winzigen Tempel einige fromme Sänger. Ihr Lied begleitet die Opfervorbereitungen des Brahmanenpriesters. Dass zwischen der religiösen Aufgabe eines Brahmanen und den schnellen Denkern in den High-Tech-Entwicklungsfirmen eine uralte Verbindung besteht, ist nur schwer vorstellbar. Doch es gibt auf diesem Subkontinent, der vor allem für seine übergroße Armut bekannt ist, eine uralte wissenschaftliche Tradition.
Schon lange vor unserer Zeitrechnung wurde in Indien mit Lust gelernt und geforscht: Sprachwissenschaft, Logik, Astronomie, Physik und Geometrie genossen ein hohes Ansehen. Als die antiken Griechen endlich bis 10.000 zählen konnten, waren die Inder schon bei 10 hoch 23 angelangt. Für unsere heutige Computerwelt ist jedoch ihre Erfindung der Null von besonderer Bedeutung. Damit fanden sie die zweite Hälfte des binären Codes, der auf Null und Eins beruht. Die Eins ist eine Banalität, die schon die Urmenschen kannten, in dem sie die Stückzahl ihrer erjagten Beute als Strichliste in einen alten Knochen ritzten. Auch die Babylonier, Griechen und Sumerer rechneten mit der Eins. Die Null aber hat eine eigene Geschichte.
Wer Wissen und Nichtwissen auch
Zusammen schaut, ganz unbeirrt,
Besiegt durch Nichtwissen den Tod,
Durch Wissen er unsterblich wird.
So lautet ein Vers aus den alt-indischen Geheimlehren, den Upanishaden, wie ihn Helmuth Glasenapp übersetzte. Die frühesten mathematischen Texte sind tatsächlich in Verbindung mit der hinduistischen Religion entstanden. Ungefähr ab 800 v. Ch. wurden die Shulva-Sutren verfasst, eine Art Leitfaden (Sutra bedeutet Faden). Darin sind die geometrischen Regeln zum Ausmessen des Opferplatzes enthalten. Die Hindupriester, die Brahmanen, benutzten als Hilfsmittel Schnüre, die zwischen Pfähle ausgespannt wurden: die Shulva. Schon damals wurde ein Lehrsatz der Geometrie, nämlich der Satz des Pythagoras Im rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Quadrate über den Katheten gleich dem Quadrat über der Hypothenuse formuliert, aber nicht bewiesen, wie man heute weiß. In den Shulva-Sutren, den Schnur-Regeln, wird ein mathematisches Problem innerhalb eines eindeutig religiösen Zusammenhangs behandelt. Die Null ist zwar, wie das religiöse Regelwerk, auch in einem Sutra beschrieben, jedoch bietet es mathematisch-poetische Lösungen, verriet der Indologe Eberhard Guhe in einem Gespräch:
„Die Null findet man eigenartiger Weise zum erstenmal in einem metrischen Werk erwähnt. Für die Mathematik ist das ja ein eigenartiger Kontext. Aber es gibt eine Arbeit von einem gewissen Pingala, das sind die Chandara-Sutren, die sind etwa 200 vor Christus verfasst worden, und das ist ein Werk über Versmaße. Ausschlaggebend für die Klassifikation eines Versmaßes war die Abfolge von langen und kurzen Silben. Und Pingala stellt sich jetzt die Frage, wie viele Möglichkeiten der Aufeinanderfolge von langen und kurzen Silben gibt es, bei einem Versmaß mit einer unbekannten Anzahl Silben? Pingala berechnet das auf eine etwas komplizierte Art und Weise. Er benutzt abwechselnd zwei Rechenoperationen, und zwar Quadrieren und Verdoppeln. Und um nun die Übersicht zu behalten, was er quadrieren und was er verdoppeln muss, macht er sich eine Tabelle. In dieser Tabelle verwendet er als Symbol für das Quadrieren 2 und für das Verdoppeln die 0. Man nimmt nun an, dass zumindest seit Pingala die 0 als Zahlzeichen bekannt war.“
Die Null wurde mit dem Wort Shunya – die Leere oder das Nichts – beschrieben. Aber man nannte sie auch Bindu: der Punkt oder Tropfen. Erst viel später wurde der Punkt auch das Zeichen für die Null. Warum Pingala in seinem Regelwerk der Verse das Zahlenpaar Null und Zwei wählte, bleibt sein schwer erklärbares, mathematisches Geheimnis.
Es dauerte bis zum 6. Jahrhundert nach Christus, bis wiederum ein Inder, der Mathematiker und Astronom Bhramagupta die Null als geschriebene Zahl in Rechenoperationen verwendete und sie als einen eigenständigen Zahlenwert behandelte. Im siebten Jahrhundert schrieb dann der persische Mathematiker Al-Chwarizmi, auf dessen Namen das Wort Algorhithmus zurückgeführt wird, eine Abhandlung über „Das Rechnen mit indischen Ziffern“. Damit führte er die Null ins arabische Zahlensystem ein.
Die weisen Hindus schufen ein Ordnungssystem für Menschen, Flora und Fauna. Sie ordneten den Staat und die Gesellschaft und kalkulierten das Weltalter. Nach diesen Berechnungen leben wir seit über 3000 Jahren in der Morgendämmerung des vierten Zeitalters, in dem, nach hinduistischer Auffassung, auf Streben nach Besitz und Macht, Krieg und Verwüstung hingearbeitet wird. Die indischen Forscher ließen sich von dieser dunklen Prophezeiung nicht irritieren. Statt fatalistisch abzuwarten, verpackten sie ihre Erkenntnisse in optimistischer Gelassenheit mit Vorliebe in poetische Texte. Der Mathematiker Bhaskara, der im 6. Jahrhundert lebte, schrieb ein Werk mit dem Titel „Die poetische Schöne“ und stellte darin Gleichungen nicht mit trockenen Zahlen vor, sondern er rechnete mit Bienen und Blüten. Auch die Mediziner verabreichten ihre Regeln für ein gutes Leben in Versform. Glasenapp übersetzte aus dem Theaterstück „Die Wonne zu leben“:
Der ew’gen Weisheit zugewandt,
Sei Lebensklugheit doch dein Teil.
Dann hältst du beides in der Hand:
Das Erdenglück und höchstes Heil.
Heute vermitteln die indischen High-Tech-Entwickler ihre Erkenntnisse mit nüchternen Worten. Die Erfolge der Inder auf dem Gebiet der Hochtechnologie und ihre Begabung für logisches Denken sind nicht unbedingt erblich, sondern haben andere Gründe, wie der verstorbene Unternehmensberater Rajan Malavia erklärte:
„Das erste ist sicher eine soziale Motivation. Denn der gesamte I.T.-Sektor ist völlig losgelöst von meiner sozialen Herkunft. Er gibt eine außerordentlich große Chance, mobil zu werden und die sozialen Schranken zu überwinden. Es gibt eine enorme Motivation für den Einzelnen, seine Zähne zusammenzubeißen und das Beste zu geben.“ Nur wenn es um den richtigen Heiratspartner geht, wählt man weiterhin nach Kaste und Klasse.
Isaak Pulipra vom Indien Forum Frankfurt fügt noch andere Gründe hinzu:
„Diese Wissenschaft ist genau auf den Inder zugeschnitten. Denn für Informationstechnologie brauchen sie keinen grossen materiellen Einsatz, keine grossen Gebäudekomplexe oder riesigen Maschinen. Das kommt alles uns zugute.“
Rajan Malavia betonte die Überwindung der Kastenschranken, womit er eines der wesentlichsten Elemente für einen allgemeinen ökonomischen Fortschritt benannt hat.
„Ich glaube, die Inder werden das nicht gerne hören, die I.T.-Branche hilft uns, die selbst auferlegten Schranken zu überwinden. Sagen wir, ein Chamar – einer aus der Schumacherkaste, wenn der Sohn oder die Tochter eine Chance haben, in den I.T.-Bereich zu gehen, dann wird diese Art von sozialer Schranke schnell überwunden. Daher kommt überhaupt der zweite Gesichtspunkt, dass unglaublich viele Frauen im I.T.-Sektor arbeiten, weil sie die traditionellen Schranken zwischen Mann und Frau überwinden hilft.“
Heute steuert die I.T.-Branche etwa (nach jüngsten Recherchen 10% des gesamten Brutto-Inlandsprodukt bei. Insgesamt erwirtschaftet der Dienstleistungssektor heute mehr als 50 % des Bruttoinlandsprodukts. Dagegen erwirtschaftet die Landwirtschaft nur noch 26%, gegenüber früheren über 50% des BIP). „Aber I.T. gibt Indien ein phantastisches Marketingbild, weil es das Image Indiens von heute auf morgen weltweit veränderte. Bei einer Bevölkerungszahl von über 1.25 Milliarden Menschen, schlechter Infrastruktur, unfähigen Politikern und Vergeudung der Ressourcen ist die neue Ökonomie der größte Hoffnungsträger für alle Klassen und Kasten. Diese Veränderung wirkte sich auch auf die Wahrnehmung Indiens in Deutschland aus. Indien ist nicht mehr nur ein Synonym für Elend. Heute ist Indien zur viertgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen. Die Führungsmacht hat aber immer noch der Rivale China. Auch verschleiern diese Zahlen, dass die Armut in Indien immer noch überwiegt. Aber die Erfindung der Null bleibt den Indern.
Erstellungsdatum: 30.11.2025