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Nicolas Sarkozy zieht um

Die Straße der Gesundheit

Rainer Erd


Rue de la Santé. Foto: Rainer Erd

Der Berg, auf dem die lyrisch gestimmten Studenten aus dem Quartier Latin ihre Gedichte zu rezitieren pflegten, wurde von ihnen nach dem griechischen Sitz der Musen Mont Parnasse genannt. Ursprünglich war das ein gigantischer, spätmittelalterlicher Schutthaufen. Heute hören wir bei der Erwähnung des Quartier du Montparnasse in unserem Inneren die Musette auf dem Akkordeon und andere verschüttete Souvenirs klingeln. Aber der Stadtteil hat auch seine unerbittlichen Seiten. Rainer Erd erzählt von einem, der umzieht.

 

Der frühere französische Präsident Nicolas Sarkozy (2007 – 2012) hat Umzugspläne. Er wird das bürgerliche Neuilly, wo er mit seiner Frau Carla Bruni wohnt, verlassen und in das multikulturelle Paris-Montparnasse umziehen – unfreiwillig. Montparnasse, das ehemalige Pariser Künstlerviertel, hat viel zu bieten. Vor allem eine ruhmreiche Geschichte.

Im späten 19. Jahrhundert war es noch der Pariser Stadtteil Montmartre im 18. Arrondissement, der Zentrum einer künstlerischen Erneuerungsbewegung wurde: dem Impressionismus. Dort haben viele gelebt, die noch heute von Touristenscharen – in Erinnerungen schwelgend – besucht werden: Picasso, Renoir, Degas, Monet, Toulouse-Lautrec, Vincent van Gogh u.a.

Doch um die Jahrhundertwende ist den Erfolgreichen unter ihnen die Enge des Viertels und die tägliche Mühe beim Bewältigen der vielen Treppen des Hügels („Butte Montmartre“) zu viel geworden. Sie sind, allen voran wie so häufig Pablo Picasso, auf die andere Seite der Seine gezogen, nach Montparnasse, dem 14. Arrondissement. In den Zwanzigerjahren entwickelte sich Montparnasse so zum künstlerischen Zentrum von Paris, das aufstrebende Schriftsteller wie Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald und James Joyce, als sie nach Paris kamen, wie selbstverständlich dorthin ziehen ließ. Die „années folles“ in Paris, denen Woody Allen in seinem hinreißenden Film „Midnight in Paris“ ein Denkmal gesetzt hat, sind zum festen Begriff einer Generation von Künstlern auf dem Montparnasse geworden, die jedem Studierenden nahegebracht werden, der sich mit Literatur und Kunst in Paris beschäftigt.

Wer heute Montparnasse und seine vielen Cafés und Restaurants (wie „La Coupole“, „La Rotonde“, „La Select“, „La Closerie de Lilas“ u.a.) besucht, fühlt sich Hemingway und anderen so nah wie die Besucher von Montmartre an Renoir denken, wenn sie die „Moulin de la Galette“ sehen. Montparnasse steht für Literatur und Kunst.

Doch Montparnasse hatte schon seit 1867 auch eine ganz andere Seite, von der man in der Regel nichts hört, sie nicht so interessant findet. 1867 nämlich wurde dort in der Rue de la Santé (der Straße der Gesundheit), ganz in der Nähe der touristisch überlaufenen Katakomben am Place Denfert-Rochereau, ein Haus eröffnet, das weder etwas mit Kunst noch mit Gesundheit zu tun hat. Dass es in der Rue de la Santé liegt, ist dem Umstand geschuldet, dass dort auch ein Krankenhaus betrieben wurde, das den Namen rechtfertigte.

Das Gebäude, von dem hier berichtet wird, hatte allenfalls insofern etwas mit Gesundheit zu tun, als diese dort beeinträchtigt oder vernichtet wurde. In der Rue de la Santé, weniger als einen Kilometer vom Friedhof Montparnasse entfernt, auf dem Künstler, Schriftsteller, Schauspieler und Musiker beerdigt sind, liegt das größte Gefängnis der Stadt Paris, das ihre wechselvolle Geschichte auf eine andere Weise spiegelt als dies Museen, Opernhäuser und Theater tun.

Im „Maison d’Arrèt de la Santé“, auf das mit vielen Straßenschildern in einer Weise hingewiesen wird, als handele es sich um eine Institution, in die man sich zur Pflege seiner Gesundheit begeben kann, wurde Pariser Geschichte einer ganz anderen Art geschrieben, als man sie üblicherweise kennt. Hier hatten Personen für eine gewisse Zeit oder bis zum Lebensende ihr Domizil, wenn sie gegen Recht verstoßen hatten, besser gesagt: wenn sie Normen zuwiderhandelten, die von den jeweils Herrschenden als Recht empfunden wurden.


Maison d’Arrèt de la Santé. Foto: Rainer Erd

 

Im „Maison d’Arrèt de la Santé“, in dem bis 1977 die Todesstrafe per Guillotine vollstreckt wurde, waren neben den üblichen Straftätern auch politische Gefangene arretiert. Und zwar in vielen unterschiedlichen Epochen der französischen Geschichte. Hier wurden Männer und Frauen aus der Pariser Kommune 1871 eingesperrt oder exekutiert, Oppositionelle aus der Zeit des 1. Weltkriegs und – für einen deutschen Beobachter besonders schwer zu ertragen – WiderstandskämpferInnen gegen die deutsche Besetzung von Paris (1940 bis 1944).  Jüdische Bewohner der Stadt gehörten ebenso zu den Inhaftierten, bevor sie in Konzentrationslager gebracht und dort meist umgebracht wurden.


Maison d’Arrèt de la Santé. Gedenktafel. Foto: Rainer Erd

 

Warum die Geschichte des „Maison d’Arrèt de la Santé“ momentan großes öffentliches Interesse hervorruft, ist die Verurteilung des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy am 25. September 2025 wegen Teilnahme an einer „kriminellen Vereinigung“ und die sofortige Vollstreckung des Urteils durch Inhaftierung in eben jenem Gefängnis in Montparnasse. Das französische Strafrecht sieht, anders als das deutsche, die Möglichkeit einer „exécution provisoire“, einer vorläufigen Vollstreckung eines Urteils auch für den Fall vor, dass der Verurteilte gegen das Urteil Berufung einlegen will.

Möglich ist dies bei einer besonders schweren Tat oder wenn es im öffentlichen Interesse liegt. Die Pariser Richterin Nathalie Gavarino, die Sarkozy verurteilt hat, und mittlerweile Morddrohungen erhält, hielt die sofortige Vollstreckung des Urteils für erforderlich. Sarkozy muss sich nun vier Wochen nach Urteilsverkündung in der Rue de la Santé 42 zum Haftantritt melden und die nächsten fünf Jahre an dem Ort verbringen (wenn das Urteil vom Berufsgericht nicht wieder aufgehoben wird), in dessen Hof in der Vergangenheit der Henker zu früher Stunde Urteile per Guillotine vollstreckt hat. Zunächst unter Teilnahme der Öffentlichkeit vor dem Gefängnis auf dem Boulevard Arago und ab 1937, als öffentliche Hinrichtungen verboten wurden, im Innenhof des Gefängnisses. Die Hingerichteten beerdigte man damals anonym auf Friedhöfen außerhalb der Stadt, damit sie nicht zu Märtyrer werden konnten.

Diese Geschichte seines zukünftigen Zuhauses kennt der ehemalige französische Präsident und frühere Innenminister und dürfte von ihm als besondere Schmach empfunden werden. Auch die ruhmreiche künstlerische Vergangenheit von Montparnasse wird ihm darüber nicht hinweghelfen. Die Geschichtsschreibung des 14. Arrondissements erhält aber eine neue Variante, die der Heroisierung des Viertels einen anderen, weniger glorreichen Aspekt hinzufügt. Kunst und Verbrechen lagen literarisch ja häufig dicht beieinander.


Maison d’Arrèt de la Santé. Außenansicht. Foto: Rainer Erd

 

 

Erstellungsdatum: 14.10.2025