MenuMENU

zurück

Gedicht

Die verbotene Schwelle

Dacia Maraini


 

Ein Fuß davor und einer dahinter,

ein Fuß schräg und einer gerade.

Die Schwelle wandert, ich weiß,

sie rückt vor und zurück, beäugt mich

aufmerksam und stumm

und die Füße folgen ihr.

Soll ich hinein- oder hinausgehen?

Der Mundschutz baumelt im Wind

und ich weiß, ich darf nicht ausgehen,

doch die Schwelle lacht mich an und die Stille

schnürt mir die Kehle zu.

Ich weiß, die Schwelle belauert mich,

während ich auf- und abgehe

im schmalen Flur meiner Wohnung.

Mit dem Gedanken drücke ich gegen eine leichte

Glastür, drücke gegen ein Eisentor,

ein Schattenwürgen überkommt mich,

ich gehe durch zwei Flügel blauer Blumen,

Nachgeschmack des Rauschens von der Straße.

Ich werde den heiligen Fluss schon überschreiten, sag ich mir,

doch heute balanciere ich auf einem Fuß, auf dem anderen

belauert mich die Schwelle, ich weiß,

und ich laufe im braunen Schatten,

während die Bilder der Sterbenden mir folgen.

Ein Fuß schräg und einer gerade.

Über die Schwelle des Hauses treten

bedeutet, wiedergeboren werden aus der eigenen Asche.

Du bist deine eigene Tochter, sagt mir die tote Mutter

mit ihrer kraftlosen, unverstellten Stimme,

du bist die Tochter dieser Maus, die

in deinen trägen Gedanken wühlt.

Die Freiheit der Füße singt in meinem Kopf,

das Paar Schuhe steht da und weiß,

dass die Schwelle des Hauses zu übertreten

eine Frage des Gewissens ist.

Die Ansteckung ist dazu da, den Übergang zu regeln

und viele Augen blicken auf die Straße,

während jemand am Fenster gegenüber

eine rot-grün-weiße Fahne hisst,

ich weiß, Mutter, was es ist, das uns verlorengeht

nicht der Schatten der Krankheit

und auch nicht der Fluss aus Pech,

der uns in die Hölle bringt,

sondern das süße Gefühl der Wiedergeburt,

das die Schwelle demütig souffliert,

dort, wo die Füße entsetzt stehenbleiben

dort, wo die Verbote beginnen,

dort, wo ein alter Vater

mit entblößter Brust und einem Kopf

voller Kanülen und Sauerstoffröhrchen

seinen letzten Atemzug tut,

während einer mit seinem Hund vorbeiläuft,

während ich glücklich zurückweiche

auf den schwarz-weißen Fußbodenkacheln,

während der Abend kommt, wenn es noch Morgen ist

und alles verstummt, die Dächer bevölkert sind,

wir, du, sie – vielleicht, meine Schwelle,

wird es uns gelingen, dich zu überschreiten

mit ruhigem Gewissen und aus

Liebe zum Leben.

 

2. April 2020

Aus dem Italienischen von Gudrun Jäger

 

Erstellungsdatum: 17.09.2024