Mit sublimem Blick hielt Inge Werth nicht nur hierzulande gesellschaftliche Umbrüche und wegweisende Proteste mit der Kamera fest. Sie bereiste unzählige Länder, um visuelle Eindrücke von Schieflagen und Widerständen zu vermitteln. Ihre authentischen Arbeiten machten sie zu einer gefragten Chronistin, die die Fotografie-Geschichte mitgeschrieben hat. In einem Gespräch mit Doris Stickler blickt sie auf ihr bewegtes Leben zurück.
Zur Fotografie kam Inge Werth quasi wie die Jungfrau zum Kind. Früher für ein Kosmetikunternehmen oft auf Reisen, geriet sie auf einer ihrer Bahnfahrten in ein angeregtes Gespräch mit einem Herrn. Das mündete in eine lange Freundschaft, die ihr irgendwann eine kleine Leica bescherte. Sie machte sich umgehend mit der Handhabung des Geschenks vertraut, zog damit schon bald in jeder freien Minute los und richtete in ihrer der Küche eine Dunkelkammer ein. Das Fotografieren hatte bei Inge Werth eine bis dahin ungeahnte Leidenschaft entfesselt, die ihr zur Berufung wurde.
Wenn die heute 94-Jährige zurückblickt, zieht sich das Ungeplante wie ein roter Faden durch ihren Werdegang. „In meinem ganzen Leben kam immer alles durch Zufall auf mich zu. Ich habe viele Wendungen erlebt und mich immer darauf eingelassen.“ Diese Offenheit schreibt sie ihrer Neugierde zu. Die galt und gilt vor allem den Menschen. Deren Unterschiedlichkeit habe sie auch in der Fotografie von Anfang an geleitet. „Ich wollte festhalten, wie die Leute leben und was sie tun.“
Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Nachdem die Wochenzeitschrift „Die Zeit“ auf gleich zwei Seiten Inge Werths Aufnahmen veröffentlicht hatte, trudelten fortan Aufträge ein. Ihr sublimer Blick auf Menschen und das alltägliche Geschehen wurde auch von anderen renommierten Printmedien wie „Der Spiegel“, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ oder der „Frankfurter Rundschau“ geschätzt. In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche machten sie ihre authentischen Arbeiten zu einer gefragten Chronistin.
Die Ostermärsche, die Widerstände gegen atomare Aufrüstung oder die Notstandsgesetze, die Rebellion der 1968er, die Häuserkämpfe oder die Frauenbewegung – Inge Werth begleitete alle wegweisenden Proteste mit der Kamera. Auch für die Gewerkschaften war sie unterwegs, um die Kämpfe für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne zu dokumentieren. Das Aufbegehren der Bürger:innen sichtbar zu machen, endete für sie nicht an den Landesgrenzen. Inge Werth bereiste unzählige Länder, um visuelle Eindrücke von den dortigen Schieflagen und gesellschaftlichen Umwälzungen zu vermitteln.
In dem Buch „Paris brennt“ sind ihre Aufnahmen von der 1968 in Gewalt eskalierenden Mai-Revolution verewigt. Während der Nelkenrevolution in Portugal und den Balkankriegen war sie ebenfalls vor Ort, sie besuchte die Elendsviertel in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince, traf in Palästina den damaligen Präsidenten Jassir Arafat und, und, und… Stets von Empathie geleitet, hielt Inge Werth weltweit die missliche Lage der einfachen Leute fest. „Ich habe immer darauf geachtet, ohne Vorurteile zu dokumentieren, auch wenn ich mich nicht mit dem Geschehen identifizierten konnte.“
Vermeintlich spektakuläre Aufnahmen wie etwa von verzerrten Gesichtern bei Handgreiflichkeiten seien ihr auch zuwider gewesen. „Ich wollte niemand bloßstellen oder verletzen.“ Das Bedürfnis, sich in andere einzufühlen und respektvoll zu handeln schreibt Inge Werth zum Teil ihren schrecklichen Erfahrungen am Ende des Zweiten Weltkriegs zu. In der Nähe von Stralsund zuhause, erlebte die damals 14-Jährige die sowjetische Luftangriffe mit. In der Nachkriegszeit verschlug es sie nach Hamburg, wo sie eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin absolvierte und später für das Kosmetikunternehmen tätig war – bis die Leica über sie kam.
Kleinbildkameras präferiert Inge Werth bis heute. Bei Titelbildern oder den Frankfurter Römerberggesprächen, die sie jahrelang fotografierte, habe sie mitunter auch ein Stativ benutzt. Bei Ereignissen auf der Straße sei sie mit einem kleinen Gerät aber viel flexibler. „Zum Teil hatte ich mehrere Kameras und Objektive dabei und bis zu 40 Kilogramm auf dem Rücken“, erinnert sie sich. „Heute frage ich mich manchmal: Wie hast du das alles geschafft?“ Zu akzeptieren, dass die körperliche Leistungskraft nicht mehr die von früher ist, fällt ihr entsprechend schwer. Dem ländlichen Idyll bei Bad Hersfeld, das ihr die Eltern hinterlassen hatten, kehrte Inge Werth nur gezwungenermaßen den Rücken. „Ich hatte nicht mehr genug Kraft, im Winter ständig Holz zu hacken, um es warm zu haben.“
Sie zog daher nach Frankfurt zurück und lebt seit sechs Jahren in einer Wohnung der Henry und Emma Budge-Stiftung. In der Anlage zwischen Seckbach und Bergen fühlt sie sich ausgesprochen wohl. „Das Haus ist groß, hell und umgeben von viel Grün, wir feiern oft zusammen, der Umgang ist herzlich, und Angebote gibt es auch sehr viele.“ Trotz Einschränkungen noch so vital, dass man ihr die Anzahl der Lebensjahre nicht glauben mag, frönt Inge Werth weiterhin ihrer Leidenschaft. Als Geschäftsführer Thorsten Krick und Rabbiner Andrew Steiman ihre Aufnahmen von den vielfältigen Aktivitäten im Hause in die Hände bekamen, waren sie völlig begeistert.
„Frau Werth hat mit ihrer kleinen Kamera oder ihrem Handy Augenblicke gesammelt und deren Kostbarkeit damit sichtbar gemacht. Wir sehen darin ein Stück der Vision unseres Stifter-Ehepaares Emma und Henry Budge verwirklicht, dass Juden und Christen gemeinsam unter einem Dach einen würdigen Lebensabend verbringen.“ Mit dem Titel „Budge“ ließen die beiden dann einen Fotoband drucken, der das gesellige Leben eindrücklich vor Augen führt. Im vergangenen Jahr bereitete Inge Werth nicht nur das Erscheinen des Budge-Buches ungemeine Freude. In der Sonderausstellung „Stadt der Fotografinnen. Frankfurt 1844-2024“ präsentierte das Historische Museum die Werke von 40 Fotografinnen, die regional, national und international tätig waren. Dazu gehörten natürlich auch die Arbeiten einer Frau, deren Aufnahmen die Fotografie-Geschichte mitgeprägt haben.
Erstellungsdatum: 22.07.2025