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Bei Archäologen gehört das Deuten ihrer Fundsachen zum Beruf. Aber auch dem Flaneur fügen sich visuelle Eindrücke zu fragmentarischen Geschichten, die sich unabhängig von der Realität selbst erzählen. Wenn Rainer Erd auf einem Pariser Friedhof zwei Brüder und eine Frau gemeinsam in einem Grab angezeigt sieht, wobei einer von ihnen Édouard Manet heißt, regt das seine Phantasie an. Das Rätsel, das sich damit verbindet, und die Geschichte der Toten findet er in dem Buch „Paris in Aufruhr“ erklärt.
Wer den kleinen Pariser Friedhof Passy besucht, gleich in der Nähe des Trocadéro, von wo aus man einen wunderbaren Blick auf den Eiffelturm hat, findet drei berühmte Persönlichkeiten des kulturellen Lebens der Stadt: Jean-Louis Barrault, der unvergessliche Baptiste Debureau aus Marcel Carnés Jahrhundertfilm „Kinder des Olymp“, Fernandel, der unsterbliche Komiker aus „Don Camillo und Peppone“ und Édouard Manet, der Maler, ohne den der französische Impressionismus des 19. Jahrhunderts undenkbar ist.

Der Grabstein von Manet lässt den Besuchern ins Nachdenken geraten, weil der Name dort dreimal vertreten ist. Neben Édouard steht dort Eugène und Berthe Manet. Der flüchtige, nicht kundige Besucher ist schnell bereit, eine „ménage à trois“ zu vermuten, im experimentierfreudigen Paris keine Seltenheit. Doch beim zweiten Blick auf den Grabstein findet man hinter Berthe Manet den Zusatz „veuve d‘ Eugène Manet“, Witwe von Eugène Manet. Die Witwe von Eugène Manet war Berthe Morisot, die als eine der wenigen hochgeschätzten Malerinnen des französischen Impressionismus in die Kunstgeschichte eingegangen ist.
Warum die drei gemeinsam auf dem kleinen, wenig bekannten Pariser Friedhof beerdigt sind, hilft ein im Insel Verlag (Berlin) erschienenes Buch zu verstehen. Eugène war der jüngere Bruder des weltberühmten Édouard Manet und die ebenfalls weithin renommierte Berthe Manet, alias Berthe Morisot, die Schwägerin von Édouard. Aus welchen Gründen Berthe Morisot den unbekannten, in der Malerei nicht engagierten Bruder Eugène und nicht ihren Förderer Édouard heiratete, schildert der australische Journalist Sebastian Smee, Kunstkritiker für die Washington Post und Pulitzer-Preisträger, auf 466 spannend geschriebenen Seiten.

Gründe für eine ménage à trois hätte es reichlich gegeben. Berthe saß Édouard lange Zeit Modell, war fasziniert von seiner Malerei und zunehmend verliebt in ihn. Sie lernte viel von ihrem Förderer und setzte sich mit zähem Ehrgeiz in einem Jahrhundert als anerkannte Malerin durch, in dem eine Frauenkarriere als Künstlerin die große Ausnahme war. An staatlichen Kunstakademien nicht und von privaten Kunstschulen nur nach Bezahlung hoher Aufnahmegebühren angenommen, und dennoch wenig geachtet, war der Weg für Frauen in der Pariser Kunstwelt des 19. Jahrhunderts mehr als schwer. Da hätte es nahe gelegen, dass die begabte, neun Jahre jüngere Berthe mit dem allseits geschätzten Édouard eine amouröse Liaison eingegangen wäre und nicht mit dem wenig kunstinteressierten jüngeren Bruder, der sich weitgehend auf die Verwaltung des Familienvermögens beschränkte.
An ihr lag es auch nicht, dass aus den Sitzungen für Édouard nicht mehr wurde als eine produktive Freundschaft. Auch Édouard war dem Gedanken an eine Liaison nicht abgeneigt gewesen, hätte es da nicht eine Suzanne Leenhoff gegeben, mit der er verheiratet war und die zu betrügen oder gar zu verlassen ihm nicht in den Sinn kam. Dazu war der ältere Manet zu sicherheitsorientiert und in seine Kunst vertieft. So pflegten Édouard Manet und Berthe Morisot über viele Jahre eine Freundschaft, in der sie ihm Modell saß und die Möglichkeit für das Malen weithin anerkannter Bilder (wie „Berthe Morisot au bouquet de violettes“, 1872) gab. Oder sie malten gemeinsam, zunächst unter seiner Anleitung, später dann immer eigenständiger und kontrovers zu ihm.

Bis eines Tages der kleine Bruder Eugène Manet Berthe einen Heiratsantrag machte, den sie zur Überraschung nicht weniger ohne größere Bedenkzeit annahm, war sie doch die Einzige von drei Schwestern, die noch keine Ehe gegründet und keine Kinder großgezogen hatte, was die Eltern ihr nicht selten in Erinnerung brachten. Im Dezember 1874 gab sie ihr Ja-Wort, wenngleich der junge Manet nicht ihre große Liebe war. Da er sie aber in ihren künstlerischen Ambitionen stets unterstützte, entwickelte sich zwischen den beiden eine Beziehung, aus der – von ihren Eltern nicht mehr erwartet, aber sehr begrüßt – ein Mädchen hervorging.
Was sich bisher wie die Geschichte einer Künstlerbeziehung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Paris liest, ist in dem Buch von Sebastian Smee aber viel mehr. Smee schildert die Kommunikation zwischen den genannten Akteuren vor dem Hintergrund einer der dramatischsten und blutigsten Auseinandersetzung im Paris des vorletzten Jahrhunderts: dem deutsch-französischen Krieg, dem Sturz von Napoleon III. und der Zerschlagung der Kommune.
Am 19. Juli 1870 hatte Frankreich Preußen den Krieg erklärt, nachdem es sich durch Otto von Bismarcks Emser Depesche gedemütigt sah. Hintergrund war die Absetzung der spanischen Königin Isabella II. und die Suche nach einem neuen spanischen Monarchen. Da einer der Kandidaten Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen war, ein Verwandter des preußischen Königs Wilhelm I., fürchtete Frankreich einen Machtzuwachs Preußens. Bismarcks Depesche hatte diese Ahnung nur bestätigt. In die Enge getrieben und seiner Macht in Europa möglicherweise begrenzt, erklärte Frankreich unter dem Jubel der Bevölkerung Preußen den Krieg, was von Manet und seinen künstlerischen Freunden unterstützt wurde. Doch bereits nach wenigen Wochen war das französische Heer geschlagen und befand sich auf dem Rückzug. Das preußische Militär belagerte Paris.
Paris als das politische und kulturelle Zentrum von Frankreich war nun mit einem doppelten Problem konfrontiert. Um die Stadt lagerten preußische Truppen und drohten die Stadt einzunehmen und zu zerstören. Und im Inneren war das Land in fünf politische Lager gespalten, die sich wechselseitig bekämpften und zu neutralisieren versuchten. Die politische Instabilität des Landes erhielt einen weiteren Schub, als sozialistische Gruppen angesichts der Belagerung von Paris am 9. Oktober 1870 von Belleville, dem radikalen Arbeiterviertel von Paris, zum Rathaus der Stadt marschierten und mit dem Schlachtruf „Vive la Commune“ Neuwahlen forderten. Die Regierung, die einen militärischen Angriff auf die preußische Armee vorbereitete, sah sich von zwei Seiten mit Problemen konfrontiert. Einerseits wollte sie die preußische Armee besiegen und vertreiben. Andererseits musste sie zugleich die radikalen Kräfte im Inneren im Zaum halten. 1870 war eine Zeit, in der Paris, die Stadt des Lichts, der Kultur und des Vergnügens seinen Glanz verlor. Es war keine Kulturwelthauptstadt mehr, sondern eine Festung, in der Theater, Restaurants und Cafés geschlossen und in Depots für Waffen und andere militärische Ausrüstung oder in Krankenhäuser umgewandelt waren.
Aber Paris war in dieser Zeit von Not, Entbehrung und Leid auch ein Ort von Kreativität. Da die preußische Armee die Stadt belagerte und damit die Kommunikation des Zentrums mit anderen Orten in Frankreich behindert war, entstand nach der Idee des Fotografen Nadar die Pariser Ballonpost. Am Butte Montmartre, wo heute ein Karussell steht, ließ Nadar mit Gas gefüllte Ballons aufsteigen, in denen sich Mitteilungen an Soldaten und Heerführer befanden, die außerhalb des von den Preußen gezogenen Rings stationiert waren. Um zu garantieren, dass bei einem Absturz der Ballons die Nachrichten nicht verloren gehen, befanden sich in den Ballons Brieftauben, an deren Füßen die Nachrichten noch einmal befestigt waren. Gelangte ein Ballon nicht ans gewünschte Ziel, dann die trainierten Brieftauben.
In diesen turbulenten Jahren war in Paris eine Gruppe von Malern (Manet, Renoir, Degas, Sisley und Berthe Morisot) entstanden, die, fasziniert vom Licht, Bilder erarbeitete, die die klassische Malerei in eine Formsprache auflösten, die konturenlos zu sein schien. Meist waren sie von der offiziellen Pariser Kunstwelt abgelehnt, ihre Bilder nicht auf den jährlich stattfindenden Pariser Salons ausgestellt worden. Die politischen Entwicklungen der Jahre 1870/71 bremsten sie jedoch wieder in ihrem ursprünglichen oppositionellen Elan.
Zunächst mussten Künstler wie Édouard Manet und Edgar Degas, die sich freiwillig für einen Sold von 1,50 Franc zur Nationalgarde gemeldet hatten, um Paris vor den preußischen Truppen zu schützen, die Niederlage ihrer Truppen verarbeiten. Und als dann von sozialistischen Gruppen, aber auch von Teilen der Mittelschicht unterstützt, am 28. März 1871 die Pariser Kommune ausgerufen wurde, sympathisierten viele Künstler mit den Aufständischenen, die größere Teilhabe am politischen Leben, Linderung der Armut und Verbesserung der Bildung für beide Geschlechter versprachen.
Der Pariser Kommune fehlte aber eine charismatische Person, die aktiv ins politische Geschehen eingreifen konnte, weil ihr gewählter Führer Louis Auguste Blanqui in Haft saß und die Forderung nach seiner Freilassung nicht erfolgreich war. So groß die Hoffnungen auf einen Erfolg der Kommune waren, so zerstritten zeigten sich schnell die verschiedenen Gruppierungen, die um Anerkennung stritten. Während die Anhänger des Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon neuen staatlichen Strukturen reserviert gegenüberstanden, traten die Jakobiner im Rat der Kommune für eine zentralistische Verfassung der neuen politischen Ordnung ein.
Adolphe Thiers, dem ersten französischen Präsidenten der Dritten Republik nach dem Sturz von Napoleon III. am 4. September 1870, kam dies nur gelegen. Nach der Niederlage der französischen Armee gegen Preußen leitete er die Friedensverhandlungen und erwarb sich großes Renommee, obwohl er Elsass-Lothringen an das am 18. Januar 1871 im Versailler Spiegelsaal ausgerufene Deutsche Reich abtreten musste. Die Schmach, einen begonnenen Krieg verloren zu haben und im eigenen Land die Krönung des ersten deutschen Kaisers Wilhelm I. erleben zu müssen, trieb ihn an, wenigstens eine weitere Niederlage durch die Kommune zu verhindern.
Während Manet, Degas und Berthe Morisot mit der Kommune sympathisierten, die auf Montmartre, am Panthéon und auf der Anhöhe von Trocadero Bollwerke errichtet und Kanonen aufgestellt hatte, sammelte Thiers Streitkräfte, um den Aufstand niederzuschlagen. Bereits wenige Tage nach Ausrufung der Kommune kam es Ende März 1871 zu ersten Kampfhandlungen, die in den folgenden Wochen bis zum Ende der Kommune am 28. Mai 1871 zu blutigen Auseinandersetzungen mit geschätzt 17.000 bis 40.000 Toten führten. In den 72 Tagen der Kommune erlebte Paris ungewöhnliche Ereignisse. In dem nun für die Allgemeinheit geöffneten Tuilerienpalast fanden Konzerte für die Bevölkerung statt. Sämtliche Titel für Personen und Wappen wurden abgeschafft. Das Symbol des monarchistischen Frankreichs in Paris, die 45 Meter Siegessäule am Place Vendôme, fiel, durch einen Chor mit Revolutionsliedern begleitet, vom Sockel.
Doch angesichts ihrer inneren Konflikte sowie der militärischen Übermacht der Regierungstruppen konnte die Kommune nicht lange als politische Kraft bestehen. Am 28. Mai 1871 endete die für viele hoffnungsvoll begonnene Zeit in Paris, nachdem es zuvor am Butte-aux-Cailles, dem Place d’Italie und auf Montmartre zu Massakern an Kommunarden gekommen war und Teile von Paris sich in ein „regelrechtes Schlachthaus“ verwandelt hatten. Der Tuilerienpalast explodierte, das Hôtel de Ville, der Louvre, das Palais du Luxembourg und das Palais Royal brannten. „Paris steht in Flammen“, schreibt Cornélie Morisot, die Mutter von Berthe Morisot, an ihre Tochter. Vor der endgültigen Niederlage der Kommune fanden noch Kämpfe am Friedhof Père-Lachaise in Belleville statt. „Der letzte Kommunarde wurde unweit von Balzacs Grab getötet“ (358).
Nach der militärischen Niederlage gegen Preußen und dem Blutbad in Paris begann in Frankreich eine Zeit der „Selbstprüfung“, die Jahrzehnte dauerte. Viele Maler hatten Schwierigkeiten, die Ereignisse des letzten Jahres zu verarbeiten. Manet durchlebte eine Zeit von Depressionen, die ihn davon abhielten, zu arbeiten. Berthe Morisot, lange Zeit Manets Modell und nun auch künstlerisch aktiv, ging es nicht besser. Auch ihr fiel es schwer, zur Malerei zurückzufinden. Die Nationalversammlung in Paris beschloss in dieser Zeit als Akt der Wiedergutmachung für die Stadt, eine Basilika an der Stelle zu bauen, an der Nadar seine Heißluftballons hatte aufsteigen lassen. Zweck der Basilika sei es, „die Verbrechen der Kommune zu sühnen“ (385). Im Mai 1874 begannen die Aushubarbeiten für Sacré Coeur, dessen Bau 1914 fertiggestellt wurde. Paris hatte ein leuchtendes, die Stadt überragendes Symbol, das bis heute eine große Zahl von Menschen anzieht.
Die politische Entwicklung Frankreichs analysiert Smee mit großer Präzision und verknüpft sie sodann mit der Entwicklung der Malerei Anfang der Siebzigerjahre in Paris. Drei Jahre nach der Niederlage der Kommune, im Jahr 1874, organisierten die Impressionisten in Paris ihre erste eigenständige Ausstellung. Sie fand in den Räumen des Fotografen Nadar am Boulevard des Capucines statt. Vier Wochen lang konnte die Pariser Bevölkerung Bilder von Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir, Edgar Degas, Camille Pissarro, Alfred Sisley, Paul Cézanne – und Berthe Morisot bestaunen. Unter den 162 ausgestellten Werken fanden sich unter anderem Monets „Impression, Sonnenaufgang“, Renoirs „La Loge“, Pissarros „Boulevard Montmartre bei Nacht“ und Berthe Morisots „Das Wiegenlied“. In den Jahren bis 1886 fanden acht Ausstellungen statt, an denen Berthe Morisot mit einer Ausnahme teilnahm.
In den Medien erlebten die Ausstellungen Zustimmung und Kritik. Die konservative Presse stellte die Maler als Anhänger der Kommune dar. Aufgeschlossenere Bürger feierten den neuen Stil. Die Probleme der französischen Politik, die zwischen Monarchie und Republik schwankte, schlugen sich auch in den Diskussionen über die Impressionisten nieder. In diesem politisch und künstlerisch kontroversen Klima hatten Édouard Manet und Berthe Morisot emotional noch näher zueinander gefunden. Doch es gab keine Lösung, weil Manet an seiner Familie festhielt und Morisot unter dem Druck ihrer Familie einen Partner suchte. Die Lösung des Problems hieß Eugène Manet, der Bruder von Édouard. Als dieser Berthe einen Heiratsantrag machte, sagte sie sofort zu, obwohl sie sich eine andere Konstellation gewünscht hätte.
Wer heute auf dem Friedhof Passy vor dem Grab der Manets steht und die von Sebastian Smee grandios geschilderte Geschichte der drei dort ruhenden Personen kennt, mag sie in Gedanken an ihre wechselvolle Geschichte auch in anderen Konstellationen sehen, als das Leben sie ihnen ermöglicht hat.
Mit seinem Buch „Paris im Aufruhr“ ist Sebastian Smee ein großer politikwissenschaftlich - kultursoziologischer Wurf gelungen, der bereits in seinem vorherigen Buch über „Kunst und Rivalität“ (2023) vorläufige Überlegungen enthalten hatte, die nun breit dargestellt werden. „Paris im Aufruhr“ ist ein Buch, dass Paris-Liebhabern mit historischen Interessen sehr zu empfehlen ist.

Sebastian Smee
Paris im Aufruhr
494 S., Fester Einband mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-458-64528-3
Insel Verlag, Berlin 2025
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Erstellungsdatum: 01.12.2025