Clemens Setz wollte zunächst keine Gedichte in Buchform mehr veröffentlichen. Zum Glück hat er seine Meinung noch einmal geändert und damit poetische Perlen vor dem Vergessen bewahrt. Riccarda Gleichauf stellt die Twitterpoesie und exemplarisch ausgewählte Autor:innen aus dem Band „Das All im eignen Fell“ vor.
Der Autor Clemens J. Setz findet seine Schreibinspiration unter anderem im Netz. Durch Tweets, die einmal auf Twitter gepostet wurden. Seit Elon Musk die Plattform übernommen hat und das Zeichenlimit nicht mehr gilt, verschwinden die stilistisch vielfältigen Miniaturen allerdings, die gerade durch ihre Wortknappheit ihren Reiz entfalten. Das ist einer der Gründe, warum Setz ein Erinnerungsbuch verfasst hat, in dessen erstem Teil seine eigenen, häufig gereimten Gedichte erscheinen und im zweiten eine Sammlung derjenigen Twitterstimmen, die nicht vergessen werden sollten. Aber warum nutzt der Autor überhaupt die altmodische Form des Reims? Er versucht damit der „Hintergrundstille“ entgegenzuwirken, die sich in kurzen „aphoristischen Äußerungen einschleicht“. Dabei sind es nicht nur die Texte der anderen, die ihn kreativ werden lassen, sondern auch Nachrichtenposts, wie zum Beispiel folgende Reisewarnung aus Österreich, die während der Corona Pandemie ausgesprochen wurde: „Hohes Sicherheitsrisiko weltweit“. Dieses Gedicht ist daraus entstanden:
Reisewarnung für die ganze Welt
Und auf dem Mars der Rover sitzt und bellt
begreift nicht was die Erde grad befällt
Die Anglerfische tief im Meer erhellen
Ihr sorgenvolles Antlitz. Robben bellen:
Die Warnung gilt nur für die ganze Welt
Doch Gott sei dank nicht für die ganzen Wellen.
Thematisch nehmen Natur, Jahreszeiten und Tiere viel Raum in den Twitternachrichten ein. Humorvoll sorgt sich das lyrische Ich im folgenden Beispiel um seine „Schildkröten“, die für imaginierte Sorgen stehen könnten. Die Reimung lässt das Gedicht verspielt-tänzelnd daherkommen:
Winter
Wer wird sich um meine Schildkröten kümmern,
die sich im Keller verstecken?
Elf Jahre nonstop überwintern sie schon.
Ich wollte, ich könnte sie wecken.
Manchmal hebt sich ein Gedanke
Wie so eine Parkplatzschranke
Und so können Maus und Lurch
wieder ungehindert durch.
Für Verfechter:innen einer korrekten Grammatik sind die Twittereinträge der gefeierten Kolleginnen und Kollegen von Clemens Setz im zweiten Teil der Sammlung die reinste Provokation. Betrachten wir exemplarisch Luni, der als der Rapper des Poet-Tweets gilt. Er verwendet ein Wort absichtlich falsch, benutzt grammatikalisch falsche Endungen. Dies hat den Effekt, dass das Wort sichtbarer wird. Es „leuchtet auf, windet sich, knirscht gegen seine Nachbarwörter“, betont Setz, der sich im Sammelband auch als versierter, unorthodoxer Literaturkritiker hervortut. Ein fehlerhafter, kurzer Tweet von Luni klingt so:
Jetzt vertikal an Fels haften wie kleine Seestern.
In der Welt der Twitterpoesie wird mit der deutschen Grammatik experimentiert. Falschschreibungen sind Weiterentwicklungen der Wörter. Sie blühen regelrecht auf, bekommen komisches Potential:
Beste wie Mund bei Menschen einfach so horizontale
Spalt in Kopf
@LunaticAbsturz (Luni) wurde von Twitter gelöscht. Wie viele andere Accounts, die nicht mehr regelmäßig beschrieben werden. Umso wichtiger ist die gedruckte Archivierung der Kleinode, weil sie sonst ganz verschwinden.
Computerfan200 geht an die Dinge des Alltags wie ein „Außerirdischer“ heran. In seinen Texten drücken sich eigene Moralvorstellungen mit einer starken, herzerfüllten Aufrichtigkeit aus. Die Groß- und Kleinschreibung wird zugunsten der Kunst ignoriert:
Weine , Vor Dem Blumen Geschäft „Blumen Land“
Und Rufe „Ein Land“ Sollte Eigentlich Keine Schließ Zeit
Haben“
„Keine neue Welt, ohne neue Sprache“. Die Dichterin @kochkunstebook nimmt Ingeborg Bachmanns Behauptung ernst und versucht mit rätselhaften Sätzen, Einfluss auf die Welt zu nehmen:
Du bist nun schon mit deinem lieben Mann in Dresden
Und wirst morgen in der Wohnung, die Hechtenstückchen
schön angerichtet und mit unten und oben angebrachter
Kohlenglut eine halbe Stunde gedünstet.
Es ist nicht erkennbar, wer hier spricht und worum es genau geht. Das liegt wiederum an der grammatikalischen Unklarheit, wie Setz betont, die nur Lösungsansätze, keine endgültigen Wahrheiten zulässt. Und gerade deswegen bleibt beim Lesen ein Eindruck hängen. Der Eindruck einer Hinrichtung der Person, die nach Dresden aufbricht, um das Schicksal der angerichteten Hechte zu teilen.
Auch im folgenden Gedicht sind es Tiere, die das Innenleben des lyrischen Ichs reflektieren. Dabei ist die aus der Zeit gefallene Telefonwählscheibe auf dem Rücken der Maus, die längst nicht mehr in Gebrauch ist, ein nostalgisches Bild aus der Vergangenheit. Ohne Handy, Tablet und digitaler Vernetzung. Einer Zeit, in der (Arbeits-)Abläufe langsamer vonstattengingen, der größte Fortschritt ein riesiges Faxgerät im Büro war, das Nachrichten auf Papier ausdruckte, auf die nicht sofort geantwortet werden konnte. So darf das folgende Gedicht von Clemens Setz als Erinnerung an die vordigitale Langsamkeit gelesen werden, veröffentlicht auf einer schnelllebigen Plattform, die sich bezeichnenderweise nicht durch Beständigkeit ausgezeichnet hat:
ich bin müde
wie eine Maus
mit Telefonwählscheibe
aufm Rücken
„Das All im eignen Fell“ ist ein Nachruf auf all die Kreativen der kleinen Form, gespickt mit Sätzen, deren Formelhaftigkeit manchmal an Geisterbeschwörungen erinnern, die sich im gleichen Atemzug selbst relativieren. Hier erleuchtet uns zuletzt der Drummer und Dichter Kurt Prödel:
manchmal ich glaube das leuchten des bildschirmes ist
das licht am ende des tunnels aber muss im endeffekt
jeder selber wissen
Bleibt man wie man ist wenn man die ganze Zeit sagt dass
man bleibt wie man ist ich jedenfalls bleibe wie ich bin
muss jeder selber wissen
am besten nicht irgendwer sondern einfach alle raus aus
deutschland und große carrera bahn bauen mit loopings
aber muss jeder selber wissen
Ob wir den Bildschirm für den wegweisenden Hoffnungsschimmer in unserem Leben halten, oder (Überlebens)kraft aus dem utopischen Gehalt der vorliegenden Twitterpoesie schöpfen, muss jede(r) selber wissen. Bei mir ist es letzteres.
Clemens J. Setz
Das All im eignen Fell
Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie
Fester Einband mit Schutzumschlag,
192 Seiten,
978-3-518-22559-2
Bibliothek Suhrkamp 1559
Suhrkamp, August 2024
Erstellungsdatum: 28.10.2024