Orte, im emphatischen Sinne, lassen uns mit ihrer Infrastruktur und den Merkmalen gesellschaftlicher Teilhabe und Kultur das Leben und die Lebendigkeit eine geglückte Form des Zusammenlebens ahnen. Oft auch tragen sie Spuren, manchmal auch nur den Nimbus geschichtlicher Ereignisse, gemahnen an Lebensabschnitte bekannt und berühmt gewordener Persönlichkeiten: präsente Historie. Ein solcher Ort ist für Rolf Schönlau die römische Via Giulia.
„Die Via Giulia, eine Straße ohne Bürgersteig, zieht sich schnurgerade etwa 500 Meter vom Palazzo Farnese bis zur Kirche San Giovanni dei Fiorentini. Zu dieser Stunde war sie in ihrer vollen Länge von heller Sonne durchflutet, in der die kleinen viereckigen Pflastersteine weiß glänzten. Der Wagen fuhr fast die ganze Straße entlang zwischen den altersgrauen, verschlafen und leer wirkenden Häusern mit ihren großen vergitterten Fenstern und den tiefen Vorhallen, durch die man in dunkle Höfe wie in Schächte blickte. Der Bau der Straße wurde von Papst Julius II. veranlasst, der sie mit prächtigen Palästen einzufassen plante, und da sie damals die regelmäßigste und schönste Straße Roms war, hatte sie im 16. Jahrhundert als Corso gedient. Man spürte noch die einstige Schönheit des alten Viertels, das in Stille und Vergessenheit gesunken und von einer Art klerikaler Sanftmut und Verschwiegenheit erfüllt war. Eine alte Fassade folgte auf die andere, die Jalousien waren geschlossen, um einige Fenstergitter rankten sich Kletterpflanzen, auf den Türschwellen hockten Katzen; in den Seitengebäuden hatten sich finstere Kramläden eingenistet und dämmerten mit ihren bescheidenen Waren vor sich hin. Passanten waren kaum zu sehen, nur ein paar emsige Kleinbürger, die es eilig hatten, ärmliche Frauen, die ihre Kinder hinter sich herzogen, ein Maulesel vor einem Heukarren, ein stolzer Mönche in wollener Kutte und ein geräuschlos dahingleitender Radler, dessen Fahrzeug in der Sonne funkelte.“
Ohne den Maulesel und vielleicht den Mönch träfe Émile Zolas Beschreibung der Straße aus seinem Roman Rom von 1896 noch heute zu. Auch wenn in den Kramläden inzwischen allerlei Kunstgewerbliches angeboten wird, bleibt der Eindruck einer abgehängten Straße, beliebt für Sightseeing-Touren per Fahrrad und für Filmaufnahmen vor dem malerische Arco Farnese. Dass es auf der in Wirklichkeit etwa 900 Meter langen Straße nur eine einzige Bar gibt, spricht Bände. Inmitten der zahlreichen Palazzi, errichtet von namhaften römischen Renaissance-Architekten wie Domenico Fontana, Guglielmo della Porta, Baldassare Peruzzi, Donato Bramante oder Antonio da Sangallo dem Jüngeren, fällt ein nüchternes Gebäude auf, das nicht nur wie ein Gefängnis wirkt, sondern tatsächlich eines war – die Mitte des 17. Jahrhunderts errichteten Carceri Nuove, heute Sitz der nationalen Anti-Mafia-Agentur. Zwar sorgte der Bau des Gefängnisses dafür, dass die Via Giulia nicht länger eine erste Adresse war, allerdings mit der schönen Nebenwirkung, dass das Renaissance-Ensemble der Straße weitgehend erhalten blieb.
Abbé Pierre Froment, der Protagonist in Zolas Roman, ist nach Rom gekommen, um seine Schrift über den Reform-Katholizismus vor dem Papst und der Kurie zu verteidigen. Er wohnt im fiktiven Palazzo Boccanera in der Via Giulia, zu dessen äußerer Beschreibung Zola den realen Palazzo Sacchetti (ehemals Palazzo Ricci) heranzog. Im Inneren bietet der fiktive Palazzo des Kardinals Boccanera ein Bild des Verfalls – die Prunksäle im Piano Nobile sind baufällig, der Damast an den Wänden hängt in Fetzen herunter, der Kardinalshut hat Spinnweben angesetzt. Eine Vorstellung von der Pracht des Renaissancepalastes, den Antonio da Sagallo 1543 für sich selbst errichtete, vermittelt Paolo Sorrentinos Film La Grande Bellezza von 2013. Die florentinische Familie Sacchetti, die schon in Dantes Divina comedia vorkommt, besaß den Palazzo seit 1649. Das Haus mit seinen 15 Schlafzimmern, 8 Badezimmern und 1000 Quadratmetern Wohnfläche wurde 2015 über die römische Filiale des Auktionshauses Sotheby‘s versteigert. Preis und Käufer sind unbekannt. Heute kommt hier auch die litauische Botschaft unter – aber nur in einem kleinen Appartamento, sagt der Pförtner.
Die Straße mit ihrem morbiden Flair war nicht nur Schauplatz von Literatur, sie zog auch Intellektuelle und Schriftsteller an: Mario Praz, der mit Liebe, Tod und Teufel ein Standardwerk der Schwarzen Romantik schrieb, empfing hier T.S. Eliot und Henry James in seiner bestmöblierte Gelehrtenstube im Palazzo Sacchetti. Ingeborg Bachmann wohnte dort ab 1971 im obersten Stockwerk, wo sich der Brandunfall ereignete, infolge dessen sie am 17. Oktober 1973 verstarb. Auch Wilhelm Waiblinger, Freund Mörikes und Biograf Hölderlins, verstarb am 17. Januar 1830 in einem Haus in der Via Giulia gegenüber der Fontana del Mascherone. Sibylle Lewitscharoff erinnert daran in ihrem Rom-Roman Montgomery von 2012, wenn sie den Filmproduzenten Montgomery Cassini-Stahl auf Zolas Spuren in die verschwiegene Straße schickt.
„Er trödelte lange durch die Via Giulia, durch die er wegen ihrer Leere gerne ging. Einst das kaufmännische Zentrum der Stadt, hatte sich die Via Giulia in eine verfallene Verschwiegenheit zurückgezogen, in der ein durchfahrendes Auto mehr Lärm erzeugte als in anderen Straßen. Von einem Bogen, der die Straße überspannte, hing die melancholische Haartracht einer Kletterpflanze fast bis zum Boden herab. Aus einem fischmäuligen Kopf floss Wasser. Dann stand er vor dem Haus des Onkels, Via del Mascherone, Nr. 62. Die Erinnerungstafel an der Hauswand kannte er auswendig:
IL POETA GUGLIELMO FED. WAIBLINGER / PARTITOSI DALLA NATIVE GERMANIA / IN QUESTA ROMA IMMORTALE / TROVO’ LA PATRIA DEI SUOI SOGNI / „QUI SOLAMENTE FELICE“
Die Verse des schwäbischen Dichters, der die Heimat seiner Träume und sein Glück im unsterblichen Rom fand und auf dem Cimitero acattolico an der Cestius-Pyramide neben Keats und Shelley begraben liegt, wirken noch heute ganz frisch:
„Ist’s denn wirklich so groß, das vatican’sche Museum,
Wie viel hätte man denn nöthig, es ganz zu durchgehn?
‚Wohl drei Stunden, mein Herr, doch die Kunst-‘‚ Ich bin ein berühmter
Läufer, basta, und so komm’ ich in anderthalb durch.“
Émile Zola, Rom, Leipzig (Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung) 1970, aus dem Französischen von Erich Marx, S. 51
Sibylle Lewitscharoff, Montgomery, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2012, S. 79-80
Wilhelm Waiblinger: Blüthen der Muse aus Rom 1827, Berlin (Reimer) 1829, S. 212
Erstellungsdatum: 07.07.2025