Dass das Wort „gemein“ im Deutschen so eine ambivalente Bedeutung hat, verdankt sich sicher einer uralten Erfahrung, die den Widerspruch im sprachlichen Gedächtnis festhielt. Nun, da die Gemeinheiten die Gemeinschaften zu zersetzen drohen, erscheint ein Buch, mit dem Aleida und Jan Assmann, der inzwischen verstorben ist, den Gemeinsinn geltend machen. Ewart Reder hat das Buch kritisch gesichtet.
Wer die jüngeren Wahlergebnisse in westlichen Demokratien als Zeitzeugnisse liest, findet darin wenig von dem, was Aleida und Jan Assmann in letzter Zeit beschäftigt hat. Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn – so der Titel ihres neuen Buchs – lockt kaum noch Wähler an die Urne. „America first“ steht beispielhaft für eine Tendenz, Eigeninteressen, gerne kompakt als Interessen der eigenen Gruppe, zum Maßstab des Handelns zu machen. Solidarität mit Hilfebedürftigen muss sich rechtfertigen, ihre Verweigerung nicht. In genau diese Situation spricht das Buch hinein und behauptet: Sie kann und muss verändert werden.
Ausgangspunkt der Betrachtung sind die unterschiedlichen Menschenbilder, aus denen politische Handlungsanweisungen abgeleitet werden, häufig, ohne dass der Zusammenhang offenliegt. Im Fokus stehen Carl Schmitt und seine Freund-Feind-Doktrin, für Schmitt die Grundlage alles Politischen, für die Assmanns ein defizitäres Konzept menschlicher Bindungs- und Beziehungsfähigkeit, gegründet auf die Hobbessche Annahme einer invarianten „Wolfsnatur“ des Menschen. Die Autor:innen schildern Bemühungen in der Neuen Rechten, Schmitts Staatslehre von dessen Antisemitismus und Nationalsozialismus zu scheiden, und wenden ein, dass aus diesen Wurzeln das Theoriegebäude sowohl entstand als auch seine innere Begründung bezieht. Interessant ein Vergleich mit Stefan Zweig, der nach dem Ersten Weltkrieg über die „moralische Entgiftung Europas“ nachdachte. Wenn Schmitt das Gegenteil beabsichtigte, wenn er das Freund-Feind-Denken über den Krieg hinaus weiterentwickeln und radikalisieren wollte, zeigt sich darin auch seine geistige Verhaftung im Zeitgeschehen, im Zivilisationsbruch 1914-1918 wie analog im völkischen Antisemitismus.
Umgekehrt habe der Idealismus Kants mit dem Postulat der Menschenwürde eine Aufwertung der menschlichen Natur unternommen, sie aus den Festlegungen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Verdikte befreit und ihr die Möglichkeit einer Weiterentwicklung in Denken, Handeln und Urteilen zugesprochen. Angelehnt an den israelischen Philosophen Omri Böhm befassen die Autor:innen sich mit Kants „Gemeinsinn“-Begriff, staunen über dessen Verortung in der Kritik der Urteilskraft, also im ästhetischen und nicht im praktischen Teil von Kants Philosophie, und vollziehen nach, dass Kant mit dem Begriff ein Grundbedürfnis des Menschen nach Abgleich und Vergemeinschaftung von individuell Gedachtem behauptet. Universalismus erfährt da geradezu eine Zweitbegründung, neben dem Anspruch des kritischen Denkens auf Geltung seiner Ergebnisse. Weit ist es von Kants Ästhetik nicht mehr zu Aristoteles, der den sensus communis als einen die fünf Sinne des Körpers koordinierenden sechsten Sinn betrachtete, den jeder Mensch hat und ohne den der Verstand nicht arbeiten könnte.
Ausgehend von Aristoteles beschäftigt sich das Buch detailliert mit der Begriffsgeschichte, entwickelt geradezu ein eigenes Stemma der Verständnisse und Missverständnisse, um dann zu bemerken: „Das Wort ‚Gemeinsinn‘ kennt keine Endung auf ‚-ismus‘.“ Darin zeige sich seine Verankerung im Individuum. Wenn an der Stelle der „Kommunismus“ auf eher peinliche Art übersehen wird, gilt Ähnliches für die Untersuchungen zur Solidarität, die zwar überzeugend in eine „Solidarität mit“ und eine „Solidarität gegen“ geschieden, aber nicht auf ihren historischen Werdegang als Begriff und als Konzept befragt wird. Andernfalls hätte die Arbeiterbewegung vorkommen müssen, der Gegensatz zwischen einer Gruppen- und einer Menschheitsbindung sich dann nicht fein säuberlich durchhalten lassen. Es geht den Assmanns allgemein wenig um die historische, die tatsächliche, die außer gesellschaftlich am Ende auch natürliche Verbundenheit von Menschen miteinander, als deren Regulativ auf verschiedenen Ebenen sich der Gemeinsinn ebenfalls erklären lässt, mit Querverbindungen zwischen den Ebenen. „Die Natur ist Feindin ewiger Besitzungen“, sagt Novalis, und „Allen Geschlechtern gehört die Erde; jeder hat Anspruch auf alles“.
Dass ausgerechnet ein Brechtgedicht die Idee der individuellen Hilfeleistung untermauern soll, leuchtet auch nicht gleich ein. „Die Nachtlager“ von 1931 hat, ohne hier ins Detail gehen zu können, die eindeutige Botschaft: Solidarische Nothilfe ist kein Ersatz für Gerechtigkeit. Mit ähnlichen Überlegungen zitieren die Autor:innen Lukas Bärfuss – ohne ihm zuzustimmen.
Stattdessen postulieren sie exakt das Zwischenergebnis, von dem Brechts Gedicht sich im Schlussteil abwendet, als Modell für Solidarität: Sprecher sein für Benachteiligte, individuelle Nothilfe organisieren. Wie einfach wäre es gewesen, zu sagen: Das eine führt günstigenfalls zum anderen. Praktisch helfen und zugleich für Gerechtigkeit kämpfen. Aber die Assmanns haben Angst vor leeren Begriffen, nur zu verständlich, und lassen sich auf den Harmonisierungsversuch nicht ein. Gegen Brecht hätte auch der am Ende sprechen können: Benevolenz hilft sehr wohl, am Ende muss aber etwas Neues, grundlegend Besseres stehen.
Die stärksten Teile des Buchs widmen sich dem, was die Autor:innen „politische Kultur“ nennen. Ausgehend von dem bekannten Diktum Ernst-Wolfgang Bockenfördes „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ rücken Aleida und Jan Assmann die kulturelle Grundlage der Demokratie in den Mittelpunkt. „Wie notwendig sie ist, zeigt sich gerade heute durch ihren Mangel. Weil eine politische Kultur in vielen Demokratien gegenwärtig unter dem Druck wachsender Polarisierungen zerrüttet oder ganz verloren gegangen ist, stellt sich umso dringlicher die Frage, was sie zerstört und aus welchen Ressourcen sie wieder aufgebaut werden kann.“ Brüderlichkeit wird als dasjenige Postulat der Französischen Revolution erläutert, das nicht mit Gesetzen und politischen Maßnahmen, sondern nur in den Einstellungen und Verkehrsformen demokratisch handelnder Menschen realisiert werden kann. Wieder geht es um das Individuum und seinen Blick auf die Welt, um Philosophie und Menschenbilder. Karl Löwiths Begriff des „Mitmenschen“, sein dialogischer Denkansatz werden als Alternative zum idealistischen Subjektdenken entfaltet, parallel zu Martin Bubers „Ich und Du“, das nur kurz Erwähnung findet. Mehrfach beziehen Assmanns sich auf Ghandi und seinen von der Menschenwürde abgeleiteten Altruismus. Auch hier hätte zunächst die Frage gestellt werden können, wie eng Menschen tatsächlich miteinander verbunden sind. Ghandi „wusste, dass unser aller Leben und Schicksale miteinander verflochten sind und dass wir bescheiden sein müssen, damit wir erkennen, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind“, betont der Enkel und geistige Sachwalter Arun Ghandi. Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit sind in einer franziskanischen Perspektive Naturtatsachen, die nicht weit genug gefasst, in ihrer bindenden Wirkung nicht eng genug gedacht werden können. „Wer atmet, ist mit mir verwandt“, sagt die Schriftstellerin Marica Bodrožić. Verse der amerikanischen Lyrikerin und Antikriegsaktivistin Muriel Rukeyser variieren es so: „Islands / O for God’s sake / they are connected underneath.“
Sehr überzeugend beleuchten die Autor:innen verschiedene Konzepte, Strategien und Wirkungsgeschichten von Brüderlichkeit als „Beziehungsgrammatiken“. Zentral ist dabei der Begriff der Empathie. Mit seltener Klarheit ist in dem Zusammenhang von der übergeordneten Bedeutung von Literatur die Rede: „Die Literatur kann (…) als eine lange Schule und ein hervorragendes Labor für die Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern verstanden werden, die unseren Umgang mit dem Anderen unter geschützten Bedingungen erprobt, fördert und empathisch erweitert. Die wichtigste Ressource ist dabei die Imagination, auf der sowohl Literatur wie Empathie aufbauen. Die Literatur ist ein ausgedehntes Archiv für die Verbindung von Wissen und Emotion, indem sie immer neue Kontexte für die Gewährung oder Verweigerung von Empathie schafft.“
Hier wie überall in dem Buch tun sich Räume auf, in denen die Gedanken der Autor:innen weitergedacht und -gelebt werden können. Nicht zufällig entstand Gemeinsinn im Kontext eines gleichnamigen Forschungsprojekts, an dem der Anfang 2024 verstorbene Jan Assmann teilnahm und seine Frau Aleida weiterhin teilnimmt. Was kann ein Buch Größeres sein als das: Ausgangspunkt weitreichender und beteiligungsoffener Fortsetzungen in Gedanken und Handlungen? Dieses Buch bringt dafür alles mit. Weil Schriftsteller:innen in ihm zu Experten der Mitmenschlichkeit erklärt werden, sei einem Schriftsteller das Schlusswort erteilt. Henry Miller lädt uns am Ende seines „Koloss von Maroussi“ ein, Gedanken fortzusetzen, ihnen zu widersprechen, mit ihnen weiterzukommen auf dem Weg zu einer brüderlichen Welt: „Wir haben durch bittere Irrtümer gelernt, dass alle Völker der Erde lebenswichtig miteinander verbunden sind, aber wir haben von dieser Erkenntnis keinen vernünftigen Gebrauch gemacht. Wir haben zwei Weltkriege erlebt, und wir werden zweifellos einen dritten und einen vierten, wahrscheinlich noch mehrere erleben. Es kann keine Hoffnung auf Frieden geben, wenn nicht die alte Ordnung vernichtet wird. Die Welt muss wieder klein werden, wie die alte griechische Welt – so klein, dass sie jedermann umfasst.“
Aleida Assmann
Jan Assmann
Gemeinsinn
Der sechste, soziale Sinn
Monografie
262 S., geb.
ISBN 978-3-406-82186-8
C. H. Beck, München 2024
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Erstellungsdatum: 27.11.2024