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Die Gedichte von Gisela Wölbert

Einstweilen

Riccarda GleichaufGisela Wölbert


Zeichnung (Ausschnitt) © Johannes Strohmeier

Während des Corona-Lockdowns verfasste die Lyrikerin Gisela Wölbert den Gedichtband und das gleichnamige Langgedicht „Einstweilen“. Mit dem heute kaum mehr benutzten Wort verweist sie auf den völligen Stillstand jener Zeit in der sich ihr die Natur als Refugium offenbarte. Die melancholischen Betrachtungen der Dichterin haben Riccarda Gleichauf umso mehr berührt, als das Lesen Hoffnungsschimmer in einer Welt im Katastrophenzustand bescheren.

 

Der Gedichtband der Lyrikerin Gisela Wölbert trägt den Titel eines fast vergessenen, nur noch selten im deutschen Sprachgebrauch benutzten Wortes: Einstweilen. Übersetzen kann man es mit: „In der Zwischenzeit, während gleichzeitig etwas anderes passiert“. Die Personen, die das Wort aussprechen, befinden sich oft in einer Warteposition, in der sich das eigentlich Erwartete Zeit lässt und Nebenschauplätze dafür umso sichtbarer werden. Die Natur ist ein solcher Ort, eine Bühne, die in Einstweilen von einem hellwachen lyrischen Ich mit nachdenklicher Melancholie betrachtet wird. Die Naturbeschreibungen können als Hoffnungsschimmer in einer Welt im Katastrophenzustand gelesen werden. Der Mohn im gleichnamigen Gedicht, ist beispielsweise so zart und zerbrechlich wie ein Schmetterlingsflügel und gleichzeitig robust und widerständig, weil er am blank gewetzten Bahngleis überlebt. Auch die Amsel, die in ihrer Nonnentracht die Straßenecke von der Brüstung des Balkons betrachtet, überdauert schwierige Zeiten, entwickelt Überlebensstrategien. Die fehlenden Geranien im Mai auf dem Balkon gegenüber der Wohnung des lyrischen Ichs, erzählen dagegen vom Verlust, dem Tod der Nachbarin, die den Kampf gegen eine Krankheit verloren hat.

Leise, humorvolle Töne, sind insbesondere bei den gesellschaftskritischen Gedichten hörbar. Nonkonformes Gemüse mit Schorf, krumm gewachsen, verdruckste Birnen und mehrbeinige Karotten, rufen durch ihr nicht der Norm entsprechendes Wachstum zum Schönheitsboykott in den Supermarktregalen auf. Ob sie die Herzen der Kunden auf Dauer erobern, bleibt zu hoffen.

Wölberts Sprache ist klar, ohne Schnörkel und voller Sprachspielereien, die besonders dann ihre Wirkung entfalten, wenn das Ich über von außen an es herangetragene Erwartungen reflektiert. Wie du dich im Ruhestand verhalten solltest etwa, im Ruhe Stand, die Zeit genießen. Fast als Drohung liest sich das Gedicht, in dem das verrentete Ich nichts mehr vorhaben soll, außer reisen oder fernsehen, obwohl es darauf keine Lust hat, denn:

Ruhen ist

nicht Bewegen und

Fernsehen

ist nicht Weitsicht

 

Im hier veröffentlichten Langgedicht „Einstweilen“, klingen alle genannten Themen an, fließen ineinander. Subtext ist Frankfurt während des Corona-Lockdowns; eine Zeit im Stillstand, voller Individuen im erzwungenen Wartezustand, in dem wie nebenbei, viel (Schmerzhaftes) passiert:

Einstweilen

Meanwhile here and there - Hier und dort einstweilen
(Michael Hamburger, Late)

 

 

Einstweilen diese eingesperrten Tage,

im Sturzflug eine Amsel von oben,

schwarzer Schatten.

Einstweilen will der Wind sich nicht legen,

blättert er wieder die Birke auf, meldet Skype

Netzwerkverbindung fehlgeschlagen,

serviert das Bistro gegenüber seine Speisen 

zum Essen anderswo, auf der Straße, zuhause,

im Gehen, im Stehen, im Sitzen auf einer

entfernten Bank, ohne die Stimmen vom Nebentisch.

Gegenüber sind die Balkone verwaist,

am Sonntag kein Homeoffice, nur

Recherche nach fremden Klängen, Minnesota

Public Radio - For the People, Not for Profit.

Schon stellt der Rittersporn sich aufs Blühen ein,

zusammen mit verfrühten Margeriten,

und Wildbienen widmen sich Rosmarinblüten.

 

Einstweilen spazieren wir auf einem Fleck,

sitzen auf dem Friedhof, mit Coffee to go.

Versiegt die geteilten Witzeleien von

WhatsApp-Botschaften, auch kaum noch Ideen,

was unter Einstweilen zu verorten wäre,

außer dieser verfallenen S-Bahn-Station

in einem Berliner Viertel mit Abbruchhäusern

aus dem vergangenen Jahrhundert, die

mir nachts im Traum erschien.

Wo die neue Station sich befinden sollte,

war gänzlich ungewiss.

 

Einstweilen der Sommer verfrüht,

Schafe, satt und grün im hohen Gras

Tische und Stühle wieder draußen,

vor den Lokalen, entfernte Plätze.

Von nahen Balkonen schweben Blüten herab.

Ich stelle mir unsere Wohnung als verlassene vor,

roh und verwaist, mit blassen Flecken,

wo vorher die Bilder waren und in den Ecken

die angesammelten Gespräche.

Zeichnung © Johannes Strohmeier  

Einstweilen schläft eine Taube ohne Nest

auf dem kleinen Fenstersims, bewacht

von einer schwarzen Gefährtin,

die meinem Blick standhält, beharrlich.

Wind stiehlt sich in Seitenstraßen

nach einer zerfurchten Nacht.

Ein Amselruf, noch ohne Resonanz.

So viel Maiengrün, da schaukelt,

eine Kohlmeise auf dünnem Zweig.

Von nebenan Radiostimmen, eine neue

Normalität, und eine kranke Frau, die klagt,

sie habe keine Ziele mehr,

und  der Tod sei kein Ziel. 

 

Einstweilen steigen Erinnerungen auf

zwischen Buchseiten, verblasst wie der Mohn.

Vielleicht ein Loblied schreiben auf

die Farbe der Glockenblumen,

dieses rötliche Veilchenblau, französisches

Blau, kühl und edel, wie das zarte von einst

in den Sommerblumenkleidern der Frauen.

Chiffonstoffe, kühle Viskose, angeschmiegt

an den wohlriechenden Körper der Mutter,

der die Stirn kühlt. Ein Blau, das sich zu tiefem

Flaschengrün gesellt, zu Schatten- und Lichtgrün,

zu dem Weiß der Frühlingsblüten,

zu Schneeball und Holunder.

 

Einstweilen kaum noch Flugzeuge,

die den Himmel durchstreifen,

die Zeit der Vögel jetzt, vereinzelt

Krähen mit Herbststimmen schon.

Die Margeritenfedern zerfasert.

Er liebt mich, er liebt mich nicht.

Andernorts die Klagen der Pflegerinnen,

sie hatten nicht Hilfe für alle.

Im türkischen Laden die Wünsche

Iyi Bayramlar! Frohes Fest!

Man kann nicht recht feiern.

Untröstliches Weinen eines Kindes,

in der Nähe ein Hundegebell.

Etwas aus der Zeit räumen, wegräumen,

Dinge, seit langem nicht angerührt.

Die Wohnung zur einstweiligen Verfügung.

Im Traum das Porträt einer Frau

mit einem kleinen Haarknoten, dazu

ein Schwarz-Weiß-Tableau mit zwölf Variationen

dieses Knotens auf dem Kopf.

Vor dem großen Spiegel des Friseursalon

ich selbst mit bekleidetem Gesicht.

 

Die Nachbarin ist sechs Wochen nicht draußen gewesen,

sitzt nun am Tisch vor dem Eis-Café

mit ihren Gedankeneskapaden. Ob nicht am Ende

sich alles als Unsinn erweise. Jedenfalls

kennt sie niemanden, der erkrankt wäre und auch

niemand anderen, der jemanden kenne.

Eine Hummel schlägt mit dem Kopf

an die Fensterscheibe draußen,

unsichtbar gläserne Wand.

 

Einstweilen hält sich der Sommer in Schüben,

reifen die Maulbeeren am Hang

vor dem Ostpark, wo im Abendlicht

persischer Flieder blüht. Wir sitzen unter Akazien.

Noch immer der Himmel ohne weiße Streifen.

Frühmorgens verdorrtes Laub an einem Arm der Birke.

Und auf dem Tisch die Kündigung

mit Absender Haus & Grund.

Zeichnung © Johannes Strohmeier  

Einstweilen zwei Astronauten als Pfeil

unterwegs zum fliegenden Raum im Orbit.

Toxisch das Video, ein Mord von Polizisten

vor den Augen der Welt und Protestierende:

I can’t breathe.

Auf dem Balkon ein verirrter Schmetterling,

flüchtiges Flattern, ein Augenblick.

Kirschen, fast rot, und wenig Saft.

Kahl und schwarz in der Sommerlandschaft

die Skelette dreier Zwetschgenbäume.

Der nötige Landregen nicht in Sicht und

auch ein Stadtregen nicht.

Auf dem Wetterglobus der BBC nur winzige

Flecken und Kreise, die Wasser anzeigen

und ein Wirbelsturm vor Mumbai.

 

Nicht mehr der alte Globus, das Möbelstück,

längst zeigt der Bildschirm uns von draußen,

auf dieser verletzlichen Kugel im All.

Zwei Tauben schaukeln auf der Spitze

der Birke, an einem dürren Zweig

brechen sie Reisig für ihr neues Nest.

 

Einstweilen ist unsere Wohnung so still

und ich sehe wieder den Weg vor mir,

den wir kürzlich noch gingen,

im Stadtwald mit den virtuosen Vogelstimmen,

der Flughafen noch ohne jeden Laut.

Deine Herzschläge, neuerdings als Linien

aufgezeichnet auf einem Monitor,

du selbst in einem Schattenreich,

ich lausche deinem Atem.

Wir hatten eine Lichtung entdeckt

mit leuchtenden Fingerhüten,

du erzähltest, wie du einmal dort schliefst,

und beim Aufwachen Aug in Aug mit einem Reh.

Licht- und Schattenspiel

im Bambus des chinesischen Gartens.

 

 

 

 

 

Gisela Wölbert
Einstweilen
Gedichte
Zeichnungen Johannes Strohmeier
122 Seiten
Moloko Print 152 | 2022
ISBN 978-3-948750-57-2

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Erstellungsdatum: 29.07.2025