Während des Corona-Lockdowns verfasste die Lyrikerin Gisela Wölbert den Gedichtband und das gleichnamige Langgedicht „Einstweilen“. Mit dem heute kaum mehr benutzten Wort verweist sie auf den völligen Stillstand jener Zeit in der sich ihr die Natur als Refugium offenbarte. Die melancholischen Betrachtungen der Dichterin haben Riccarda Gleichauf umso mehr berührt, als das Lesen Hoffnungsschimmer in einer Welt im Katastrophenzustand bescheren.
Der Gedichtband der Lyrikerin Gisela Wölbert trägt den Titel eines fast vergessenen, nur noch selten im deutschen Sprachgebrauch benutzten Wortes: Einstweilen. Übersetzen kann man es mit: „In der Zwischenzeit, während gleichzeitig etwas anderes passiert“. Die Personen, die das Wort aussprechen, befinden sich oft in einer Warteposition, in der sich das eigentlich Erwartete Zeit lässt und Nebenschauplätze dafür umso sichtbarer werden. Die Natur ist ein solcher Ort, eine Bühne, die in Einstweilen von einem hellwachen lyrischen Ich mit nachdenklicher Melancholie betrachtet wird. Die Naturbeschreibungen können als Hoffnungsschimmer in einer Welt im Katastrophenzustand gelesen werden. Der Mohn im gleichnamigen Gedicht, ist beispielsweise so zart und zerbrechlich wie ein Schmetterlingsflügel und gleichzeitig robust und widerständig, weil er am blank gewetzten Bahngleis überlebt. Auch die Amsel, die in ihrer Nonnentracht die Straßenecke von der Brüstung des Balkons betrachtet, überdauert schwierige Zeiten, entwickelt Überlebensstrategien. Die fehlenden Geranien im Mai auf dem Balkon gegenüber der Wohnung des lyrischen Ichs, erzählen dagegen vom Verlust, dem Tod der Nachbarin, die den Kampf gegen eine Krankheit verloren hat.
Leise, humorvolle Töne, sind insbesondere bei den gesellschaftskritischen Gedichten hörbar. Nonkonformes Gemüse mit Schorf, krumm gewachsen, verdruckste Birnen und mehrbeinige Karotten, rufen durch ihr nicht der Norm entsprechendes Wachstum zum Schönheitsboykott in den Supermarktregalen auf. Ob sie die Herzen der Kunden auf Dauer erobern, bleibt zu hoffen.
Wölberts Sprache ist klar, ohne Schnörkel und voller Sprachspielereien, die besonders dann ihre Wirkung entfalten, wenn das Ich über von außen an es herangetragene Erwartungen reflektiert. Wie du dich im Ruhestand verhalten solltest etwa, im Ruhe Stand, die Zeit genießen. Fast als Drohung liest sich das Gedicht, in dem das verrentete Ich nichts mehr vorhaben soll, außer reisen oder fernsehen, obwohl es darauf keine Lust hat, denn:
Ruhen ist
nicht Bewegen und
Fernsehen
ist nicht Weitsicht
Im hier veröffentlichten Langgedicht „Einstweilen“, klingen alle genannten Themen an, fließen ineinander. Subtext ist Frankfurt während des Corona-Lockdowns; eine Zeit im Stillstand, voller Individuen im erzwungenen Wartezustand, in dem wie nebenbei, viel (Schmerzhaftes) passiert:
Meanwhile here and there - Hier und dort einstweilen
(Michael Hamburger, Late)
Einstweilen diese eingesperrten Tage,
im Sturzflug eine Amsel von oben,
schwarzer Schatten.
Einstweilen will der Wind sich nicht legen,
blättert er wieder die Birke auf, meldet Skype
Netzwerkverbindung fehlgeschlagen,
serviert das Bistro gegenüber seine Speisen
zum Essen anderswo, auf der Straße, zuhause,
im Gehen, im Stehen, im Sitzen auf einer
entfernten Bank, ohne die Stimmen vom Nebentisch.
Gegenüber sind die Balkone verwaist,
am Sonntag kein Homeoffice, nur
Recherche nach fremden Klängen, Minnesota
Public Radio - For the People, Not for Profit.
Schon stellt der Rittersporn sich aufs Blühen ein,
zusammen mit verfrühten Margeriten,
und Wildbienen widmen sich Rosmarinblüten.
Einstweilen spazieren wir auf einem Fleck,
sitzen auf dem Friedhof, mit Coffee to go.
Versiegt die geteilten Witzeleien von
WhatsApp-Botschaften, auch kaum noch Ideen,
was unter Einstweilen zu verorten wäre,
außer dieser verfallenen S-Bahn-Station
in einem Berliner Viertel mit Abbruchhäusern
aus dem vergangenen Jahrhundert, die
mir nachts im Traum erschien.
Wo die neue Station sich befinden sollte,
war gänzlich ungewiss.
Einstweilen der Sommer verfrüht,
Schafe, satt und grün im hohen Gras
Tische und Stühle wieder draußen,
vor den Lokalen, entfernte Plätze.
Von nahen Balkonen schweben Blüten herab.
Ich stelle mir unsere Wohnung als verlassene vor,
roh und verwaist, mit blassen Flecken,
wo vorher die Bilder waren und in den Ecken
die angesammelten Gespräche.
Zeichnung © Johannes Strohmeier
Einstweilen schläft eine Taube ohne Nest
auf dem kleinen Fenstersims, bewacht
von einer schwarzen Gefährtin,
die meinem Blick standhält, beharrlich.
Wind stiehlt sich in Seitenstraßen
nach einer zerfurchten Nacht.
Ein Amselruf, noch ohne Resonanz.
So viel Maiengrün, da schaukelt,
eine Kohlmeise auf dünnem Zweig.
Von nebenan Radiostimmen, eine neue
Normalität, und eine kranke Frau, die klagt,
sie habe keine Ziele mehr,
und der Tod sei kein Ziel.
Einstweilen steigen Erinnerungen auf
zwischen Buchseiten, verblasst wie der Mohn.
Vielleicht ein Loblied schreiben auf
die Farbe der Glockenblumen,
dieses rötliche Veilchenblau, französisches
Blau, kühl und edel, wie das zarte von einst
in den Sommerblumenkleidern der Frauen.
Chiffonstoffe, kühle Viskose, angeschmiegt
an den wohlriechenden Körper der Mutter,
der die Stirn kühlt. Ein Blau, das sich zu tiefem
Flaschengrün gesellt, zu Schatten- und Lichtgrün,
zu dem Weiß der Frühlingsblüten,
zu Schneeball und Holunder.
Einstweilen kaum noch Flugzeuge,
die den Himmel durchstreifen,
die Zeit der Vögel jetzt, vereinzelt
Krähen mit Herbststimmen schon.
Die Margeritenfedern zerfasert.
Er liebt mich, er liebt mich nicht.
Andernorts die Klagen der Pflegerinnen,
sie hatten nicht Hilfe für alle.
Im türkischen Laden die Wünsche
Iyi Bayramlar! Frohes Fest!
Man kann nicht recht feiern.
Untröstliches Weinen eines Kindes,
in der Nähe ein Hundegebell.
Etwas aus der Zeit räumen, wegräumen,
Dinge, seit langem nicht angerührt.
Die Wohnung zur einstweiligen Verfügung.
Im Traum das Porträt einer Frau
mit einem kleinen Haarknoten, dazu
ein Schwarz-Weiß-Tableau mit zwölf Variationen
dieses Knotens auf dem Kopf.
Vor dem großen Spiegel des Friseursalon
ich selbst mit bekleidetem Gesicht.
Die Nachbarin ist sechs Wochen nicht draußen gewesen,
sitzt nun am Tisch vor dem Eis-Café
mit ihren Gedankeneskapaden. Ob nicht am Ende
sich alles als Unsinn erweise. Jedenfalls
kennt sie niemanden, der erkrankt wäre und auch
niemand anderen, der jemanden kenne.
Eine Hummel schlägt mit dem Kopf
an die Fensterscheibe draußen,
unsichtbar gläserne Wand.
Einstweilen hält sich der Sommer in Schüben,
reifen die Maulbeeren am Hang
vor dem Ostpark, wo im Abendlicht
persischer Flieder blüht. Wir sitzen unter Akazien.
Noch immer der Himmel ohne weiße Streifen.
Frühmorgens verdorrtes Laub an einem Arm der Birke.
Und auf dem Tisch die Kündigung
mit Absender Haus & Grund.
Zeichnung © Johannes Strohmeier
Einstweilen zwei Astronauten als Pfeil
unterwegs zum fliegenden Raum im Orbit.
Toxisch das Video, ein Mord von Polizisten
vor den Augen der Welt und Protestierende:
I can’t breathe.
Auf dem Balkon ein verirrter Schmetterling,
flüchtiges Flattern, ein Augenblick.
Kirschen, fast rot, und wenig Saft.
Kahl und schwarz in der Sommerlandschaft
die Skelette dreier Zwetschgenbäume.
Der nötige Landregen nicht in Sicht und
auch ein Stadtregen nicht.
Auf dem Wetterglobus der BBC nur winzige
Flecken und Kreise, die Wasser anzeigen
und ein Wirbelsturm vor Mumbai.
Nicht mehr der alte Globus, das Möbelstück,
längst zeigt der Bildschirm uns von draußen,
auf dieser verletzlichen Kugel im All.
Zwei Tauben schaukeln auf der Spitze
der Birke, an einem dürren Zweig
brechen sie Reisig für ihr neues Nest.
Einstweilen ist unsere Wohnung so still
und ich sehe wieder den Weg vor mir,
den wir kürzlich noch gingen,
im Stadtwald mit den virtuosen Vogelstimmen,
der Flughafen noch ohne jeden Laut.
Deine Herzschläge, neuerdings als Linien
aufgezeichnet auf einem Monitor,
du selbst in einem Schattenreich,
ich lausche deinem Atem.
Wir hatten eine Lichtung entdeckt
mit leuchtenden Fingerhüten,
du erzähltest, wie du einmal dort schliefst,
und beim Aufwachen Aug in Aug mit einem Reh.
Licht- und Schattenspiel
im Bambus des chinesischen Gartens.
Gisela Wölbert
Einstweilen
Gedichte
Zeichnungen Johannes Strohmeier
122 Seiten
Moloko Print 152 | 2022
ISBN 978-3-948750-57-2
Erstellungsdatum: 29.07.2025