Unerschütterlicher Glaube, Hoffnung, Opportunismus, Verblendung und Angst vor Gefangenschaft und Tod waren und sind die Motive dafür, dass Menschen auch die ungeheuerlichsten Verbrechen vor allem in totalitären Herrschaftssystemen hinnehmen, rechtfertigen oder leugnen. Konzentrationslager bringen wir damit in Verbindung, weniger die Straf- und Arbeitslager der Sowjetunion: Gulag. Barbara Skarga schrieb ihre Erinnerungen an den Gulag auf. Ní Gudix hat das Buch gelesen.
Barbara Skarga (1919 – 2009) war eine polnische Intellektuelle. Im Zweiten Weltkrieg war sie in der polnischen Untergrundarmee Armia Krajowa tätig, und dort wurde sie 1944, mit 25 Jahren, von der Roten Armee verhaftet und zu zehn Jahren Gulag verurteilt, von denen sie das erste Jahr in einem Gefängnis in Vilnius verbrachte. Nach Ablauf der zehn Jahre wurde sie noch für ein weiteres Jahr in eine Kolchose in Sibirien zur Zwangsarbeit geschickt, bevor sie im Dezember 1955 schließlich wieder nach Polen repatriiert wurde. Von dieser Zeit in diversen sowjetischen Lagern und in der Kolchose handelt dieses Buch. Es sind allerdings genaugenommen keine „Aufzeichnungen aus dem Gulag“, wie es im Untertitel heißt, denn das suggeriert ja, es handle sich um eine Art Tagebuch, das während der Gulag-Zeit geschrieben wurde. Skarga hat aber erst Anfang der 80er Jahre mit der Niederschrift begonnen und stützte sich dabei ausschließlich auf ihre Erinnerungen; Notizen aus der Zeit hat sie keine, und sie hat, wie sie öfters anführt, auch keine Lust, gewisse Daten und Namen aus den Geschichtsbüchern zu recherchieren. Sie möchte lediglich, nach fast 40 Jahren, ihre Erinnerungen aus der Gulag- und Zwangsarbeits-Zeit aufschreiben und in die Öffentlichkeit bringen.
Die polnische Erstausgabe des Buches war zunächst 1985 unter Pseudonym in einem polnischen Exilverlag in Paris erschienen, da Polen ja damals noch kommunistisch war und Skarga mit der Veröffentlichung einer solchen kommunismuskritischen Schrift mit Repressionen zu rechnen gehabt hätte. Nach dem Zerfall des Kommunismus wurde das Buch, jetzt unter ihrem wirklichen Namen, mehrmals wiederaufgelegt, doch es konnte nicht das große Interesse wecken, das es verdient hat.
Dies mag, wie man im Vorwort lesen kann, wohl auch damit zusammenhängen, dass Bücher über den Gulag und die sowjetisch-kommunistische Diktatur vergleichsweise dünn gesät sind und weniger gut laufen als Bücher über den Holocaust und die deutsche nationalsozialistische Diktatur. Holocausterinnerungen gibt es viele, aber Gulagerinnerungen bleiben zahlenmäßig weit darunter – es gibt „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn, es gibt „Als Gefangene bei Stalin und Hitler – Eine Welt im Dunkel“ von Margarete Buber-Neumann, es gibt auch noch mehr, aber dieses Thema scheint nicht zum Allgemeinwissen zu gehören. In einigen Antiquariaten gibt es noch ein paar Bücher, die mit geringer Auflage in kleinen Verlagen herausgebracht wurden, es jedoch nie über eine relativ überschaubare Leserschaft hinaus schafften. Die größeren Verlage hatten jedenfalls deutlich mehr Interesse an Büchern über Auschwitz, die Hitler-KZs und die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Terrors als an Büchern über die Aufarbeitung des stalinistischen Terrors (und dies gilt nicht nur für in Deutschland erscheinende Bücher). Stalin konnte sich, was die Rezeption angeht, bequem hinter Hitler verstecken, obwohl seine Schreckensherrschaft viel länger dauerte als die von Hitler und obwohl die Schrecken des Kommunismus nach Stalins Tod nicht vorbei waren. An dieser zahlenmäßigen Unterrepräsentanz von Gulag-Erinnerungen mag es auch liegen, dass der Kommunismus heute in vielen Köpfen relativiert und schöngeredet und als, verglichen mit dem Nationalsozialismus, „nicht so schlimme“ Diktatur gesehen wird.
Dies ist ein extremer Irrglaube, der einem klar wird, wenn man dieses Buch liest. Als die deutsche Ausgabe 2024 erscheint, gibt es eine sehr überschaubare Zahl von Rezensionen im Feuilleton, und ich bin erst im Januar 2025 auf Umwegen darauf gestoßen. 20 Millionen Gulag-Opfer, so lese ich in einer der Rezensionen, hat es gegeben, und Skarga war nur eine von hunderttausenden Polen, Ukrainern, Litauern, Letten, Esten, Georgiern usw., die im Zweiten Weltkrieg von der Roten Armee „befreit“ und in den Gulag geschickt wurden. Warum weiß man über diese Schicksale so wenig?
Die deutsche Ausgabe „Nach der Befreiung“, die jetzt bei Hoffmann und Campe erschienen ist, ist, das muss an dieser Stelle deutlich gesagt werden, eine äußerst sorgfältig edierte Ausgabe. Es handelt sich nicht um eine direkte Übersetzung aus dem Polnischen, sondern es ist eine Übersetzung aus dem Niederländischen. Die niederländische Ausgabe „Na de bevrijding“ erschien 2022 in Amsterdam, ausgestattet mit Vorrede, Einführung und Fußnoten, und die deutsche Ausgabe basiert auf der niederländischen und übernimmt diese kritischen Anmerkungen, was sehr lobenswert ist. Eine 9seitige Vorrede sowie eine 22seitige kritische Einführung in Barbara Skargas Leben und Werk der belgisch-polnischen Schriftstellerin und Forscherin Alicja Gescinska leiten das Buch ein. Anschließend folgen Fototafeln und eine Zeitleiste, bevor Skargas eigentliche Aufzeichnungen kommen. Den Abschluss bilden ein Glossar und eine 4seitige Anmerkung des niederländischen Übersetzers, der das Buch auch großzügig mit Fußnoten zum besseren Verständnis versehen hat. Diese komplette kritische Begleitung des Buches hat die deutsche von der niederländischen Ausgabe übernommen, ergänzt nur noch mit ein paar Fußnoten der deutschen Übersetzerin. Somit ist ein Buch entstanden, das auch von Leuten gelesen werden kann, die vom Gulag bisher noch nichts oder noch nicht viel gelesen haben. Die Fußnoten stellen sehr viele Informationen zur polnischen Geschichte, zur polnischen Kultur und Literatur, zur russischen Geschichte, zu wichtigen Namen im Zusammenhang mit dem Stalinismus usw. zur Verfügung, die zum Verständnis des Buches wichtig sind, die aber heutzutage nicht (mehr) zum Allgemeinwissen gehören – auch dies hat seine Ursache in der oben geschilderten Unterrepräsentanz des Themas.
Der Titel „Nach der Befreiung“ ist ein bitterböser Sarkasmus. Die Rote Armee, die 1944 die Stadt Vilnius von der deutschen Besatzung „befreit“ hat, deportierte im Anschluss die dort lebenden Polen nach Sibirien. Skarga war eine davon, wobei bei ihr noch die Beschuldigung dazukam, sie würde mit den Nazis kollaborieren. Das war absurd, denn die Armia Krajowa (AK), der Skarga angehörte, kämpfte ja gerade gegen die deutsche Besatzung. Aber da die AK für ein freies Polen eintrat, also nicht für ein kommunistisches Sowjetpolen, war die Untergrundarmee den Russen suspekt.
Das Auffälligste an „Nach der Befreiung“ ist, dass die Aufzeichnungen nicht chronologisch, sondern nach Themen geordnet sind. Die Kapitel heißen: „Der Alltag – das Gefängnis“; „Der Alltag – das Lager“; „Das Hospital“; „Die Arbeit“; „Die Liebe“; „Theater und Schauspieler“. Unter diesen thematischen Überschriften sammelt Skarga ihre Erinnerungen. Das geht zwar manchmal zu Lasten der Übersichtlichkeit, aber es entsteht dadurch ein sehr intensives Bild über die perfiden Unterdrückungsmechanismen im Kommunismus. Chronologisch sind lediglich die beiden letzten Kapitel: „Budjonowka“ beschreibt die Zwangsarbeit in der Kolchose 1954/55 und „Die Grenze“ beschreibt Skargas letzte Erlebnisse als Gefangene, bevor sie nach Polen repatriiert wird.
Die Lager im Gulag hatten zwei Funktionen: sie fungierten als Umerziehungslager für „konterrevolutionäre Elemente“, und sie stellten dem Staat billige Arbeitskräfte zur Verfügung, die für alle möglichen schweren Arbeiten skrupellos ausgebeutet werden konnten. Man liest von Außenarbeit im sibirischen Winter bei minus 30 Grad und im Sommer bei plus 40 Grad; man liest von Dochodjagi (bis aufs Skelett abgemagerte Häftlinge), die ihre tägliche Balanda (Wassersuppe) bekommen, bevor sie abreisen (sterben); man liest von Hunger, Kälte, Gestank, Läusen, Wanzen Wassermangel; man liest von üblen Selbstverstümmelungen, die sich Häftlinge beibrachten, nur um in die Krankenstation verlegt zu werden und nicht zum Bäumefällen und anderer „allgemeiner Arbeit“ hinaus zu müssen; man liest von Denunzianten, von flammenden Kommunisten und von solchen, die durch die ewige Gehirnwäsche völlig gleichgültig und apathisch geworden waren.
Skargas Stil ist ehrlich, beschreibend, genau, oft sehr ironisch und sarkastisch (so geht es z.B. im Kapitel „Theater und Schauspieler“ um Schauprozesse und andere kommunistische Fake-Attitüden), aber auch analysierend, reflektierend, interpretierend. Mehrmals unterbricht sie auch das Aufschreiben mit der Feststellung, dass es ihr nicht guttue, über das Lager zu schreiben, und dass sie Albträume hat, weil durch das Aufschreiben fast 40 Jahre später alles wieder hochkommt, was sie verarbeitet glaubte. Es ist so oder so kaum nachvollziehbar, wie sie diese Zeit durchstehen konnte, ohne verrückt zu werden. Ihre Belesenheit, ihr Intellekt, die polnische Kultur, polnische Lieder und Gedichte haben ihr wohl immer wieder Hoffnung gegeben, den Mut nicht sinken zu lassen.
Besonders bestürzt hat mich die Schilderung der Kolchose im Kapitel „Budjonowka“. Nirgendwo fand ich es bis jetzt deutlicher beschrieben, wie uneffektiv und zerstörerisch die kommunistische Planwirtschaft war, und mir drängte sich der Gedanke auf, dass mal untersucht werden müsste, welchen Anteil der Kommunismus am Klimawandel und an der Umweltzerstörung hat. Da die Zustände, die Skarga beschreibt, nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren, fragt man sich schon: Wie viel Land, wie viel Getreide und Bodenschätze wurden hier durch die Planwirtschaft systematisch zerstört und unbrauchbar gemacht, wie viel Vieh wurde sinnlos und brutal getötet? Da wird von Kartoffeln erzählt, die in der Erde verfaulen, weil keiner sie ausbuddelt, von Getreide, das man liegenlässt, bis es gärt und nach Alkohol stinkt, und dann wird ein Bagger geholt und das Getreide wird vergraben, und Skarga erfährt, dass das dieses Jahr wenig war, „letztes Jahr brauchten wir zwei Bagger!“ Da wird von Maschinen erzählt, die auf dem Feld stehenbleiben und vor sich hinrosten, während der Kolchosbauer zuhause hockt und Wodka trinkt, denn: Er hat ja sein Soll erfüllt, die Partei ist mit ihm zufrieden. Der Boden wird nach Schema F gepflügt, wie es die Partei vorgibt, ohne Rücksicht darauf, ob das für den Boden gut ist. Und einmal, davon wurde Skarga Zeugin, wurde auf einer Sowchose ein Gast aus den USA erwartet. Dafür wurde Vorzeigevieh aus allen Teilen der UdSSR herangeschafft, die Kolchosbauern fuhren mit ihren Schweinen und Kühen quer durchs Land, die Fahrt wurde bezahlt von der Partei, um ihr Vieh in den funkelnagelneu errichteten und mit modernstem Komfort ausgestatteten Vorzeige-Ställen der Sowchose dem amerikanischen Gast zu präsentieren. Und nach der Abreise des Amerikaners wurde den Bauern mitgeteilt: Transportmittel seien jetzt keine mehr vorhanden, sie sollten ihr Vieh nach Hause treiben. Zu Fuß tausende Kilometer – einige Bauern waren monatelang unterwegs und verloren dabei einen Großteil ihrer Tiere, die vor Hunger und Erschöpfung umfielen und am Straßenrand liegenblieben. Der Namensgeber des „Potemkinschen Dorfes“ war ein Russe der zaristischen Zeit, aber wirkliche Meisterschaft hat diese Disziplin erst im Kommunismus erlangt.
Insgesamt ein Buch, das in meinem Bücherregal einen prominenten Platz einnehmen wird und das ich noch oft zur Hand nehmen werde.
Barbara Skarga
Nach der Befreiung
Aufzeichnungen aus dem Gulag 1944–1956
Übersetzt aus dem Niederländischen
von Bärbel Jänicke
516 S., brosch.
ISBN: 978-3-455-01726-7
Hoffmann und Campe, Hamburg 2024
Erstellungsdatum: 27.05.2025