„Ich liebe die Ungebildeten“, bekannte der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Selbstliebe aber muss auch das Wissen um die historischen Modelle ignorieren, die man selbst nachspielt. Und wäre die Situation nicht so ernst, könnten wir uns über die Narrengeschichten aus der Neuen Welt amüsieren. Die Archäologin und Historikerin Evangelia Kelperi führt mit Verweisen auf die Gegenwart Beispiele von der Antike bis zur Renaissance an, als Saturnalien und Karneval noch eine grundstürzende Bedeutung hatten.
Das viel diskutierte offizielle Treffen zwischen Selenskyj und Trump im Oval Office, bei dem der ukrainische Präsident öffentlich kritisiert und gedemütigt wurde, sorgte für Aufruhr – nicht nur wegen des Inhalts des Gesprächs, sondern auch wegen der Art seiner Inszenierung. Der Historiker N. Ferguson kommentierte dieses Treffen auf X: „Es ist leicht, verwirrt zu sein, wenn das Oval Office zu einem Studio wird und Staatsoberhäupter sowie führende Politiker zu Kandidaten in einer geopolitischen Version von ‚The Apprentice‘ werden“. Durch die Politik der Trump-Administration weht ein neuer Wind, eine politische Gegenkultur tritt zutage. Diese Gegenkultur, wie ich im Folgenden zeigen will, beschränkt sich nicht nur darauf, die gewohnten politischen Strategien zu unterlaufen; vielmehr erscheint sie als eine Neuübersetzung vieler Symbole und Normen des bislang geltenden soziokulturellen Systems moderner westlicher Demokratien. Es scheint, als sei eine Revolution im Gange, die nicht nur mit Inhalten, sondern auch mit Verhaltensweisen bewusst brechen will, die als Grundlage von Normalität und Anstand gelten. Einige Forscher erkennen viele Parallelen zwischen der Weltanschauung, die Trumps Populismus vertritt, und der volkstümlichen Kultur des mittelalterlichen Karnevals – einem Fest, das durch die bewusste Verdrehung der damaligen Anstandsregeln geprägt war.
In diesem Artikel möchte ich einige Phänomene des Populismus Trumps beleuchten, die häufig als Regel- oder Tabubrüche in der bisher geltenden Fairness und Korrektheit der öffentlichen Kommunikation wahrgenommen werden. Anschließend werde ich diese Verhaltensweisen mit den Umkehrungsstrategien des Karnevals vergleichen.
Die Tabubrüche von Trump und seiner Administration sind zahlreich. Besonders auffällig ist die gezielte Wahl einer verrohten Sprache – geprägt von Wutausbrüchen, verkürzten und verzerrten Aussagen wie etwa Musks Behauptung, Empathie sei „die grundlegende Schwäche der westlichen Zivilisation“ sowie Verunglimpfungen. Hinzu kommt der bewusste Einsatz von Symbolen und Zeichen, die aus ethischen Gründen aus dem öffentlichen Diskurs verbannt wurden, etwa Hinweise auf Machtmissbrauch oder Anspielungen auf nationalsozialistische Symbolik.
Diese Entgleisungen sind entweder ernst gemeint (wie der Hitlergruß von Elon Musk) oder provozieren mit Witzen. So postete Trump auf dem X-Account des Weißen Hauses ein KI-generiertes Bild, das ihn mit einer Krone zeigt, begleitet von dem Slogan: „Es lebe der König.“ Anlass des Posts war die von ihm feierliche Abschaffung der von der Biden-Regierung eingeführten Fahrzeugmaut in New York City. Ein solches Verhalten wirkt zunächst verwirrend, da es als starke Abweichung vom üblichen sozialen Verhalten empfunden wird – doch es hat noch eine weitere Wirkung: Es lässt Trump und seine Gleichgesinnten als Menschen erscheinen, die allein aus sich selbst heraus – ohne äußeren Einfluss – handeln und sprechen. Damit werden Beschimpfungen und jegliche Form von Überheblichkeit, die die Grenzen des Sagbaren überschreiten, einerseits als fehlende Erfahrung im Umgang mit der etablierten politischen Kommunikation, anderseits aber auch als authentisches Verhalten wahrgenommen (Nach dem gängigen Klischee schließt authentisches Verhalten Fehler nicht aus, sondern geht zwangsläufig mit ihnen einher). In diesem Zusammenhang sei der Wutausbruch Trumps gegen Taylor Swift erwähnt: „Ich hasse Taylor Swift“, soll er gesagt haben, als er erfuhr, dass die Sängerin bei der Präsidentschaftswahl Kamala Harris unterstützt.
Auch Trumps Stellungnahmen – oft ohne fundiertes Wissen und zu beliebigen Themen – lassen ihn für viele spontan und authentisch wirken. Viele seiner Aussagen bestehen aus belanglosen, unkritischen und ahistorischen Klischees, die sonst in Alltagsgesprächen oder Stammtischrunden zu hören sind. Dennoch haben sie für ihn eine positive Wirkung: Sie schaffen eine Vertrautheit, die jede notwendige Überprüfung und Kritik des Gesagten umgeht. Die Botschaft lautet dann: „Er ist einer von uns, er spricht unsere Selbstverständlichkeiten und Wahrheiten offen aus. Diese Kommunikation also wird als frei und authentisch wahrgenommen, da es vermeintlich Zensiertes ungezwungen zur Sprache bringt.
Trump und seine Gleichgesinnten also verfolgen eine soziopolitische Strategie, die bewährte Kommunikationsmuster bewusst umkehrt. Doch stellt sich die Frage: Ist dieses Phänomen tatsächlich neu und einzigartig? Führt uns dieser Populismus, diese bewusste „Unvollkommenheit“ zu einer neuen Revolution?
Ich schließe mich der These an, dass diese Haltung eine Wiederbelebung eines alten kulturellen Phänomens darstellt, das in der Literatur als karnevalistisches Weltempfinden bekannt ist.
Heute erleben wir als Karneval nur eine verblasste Form dieses Festes, die sich mehrheitlich auf eine harmlose Maskerade der Teilnehmenden reduziert. Ursprünglich, (insbesondere während des Mittelalters und der Renaissance), stellte jedoch das Fest eine komplette Zeichenverkehrung der damaligen Elite Kultur dar, in der geschlechtliche und soziale Hierarchien, Sakralität, anständiges Verhalten, gehobene, elitäre Ästhetik und Idealität für die Dauer der Festlichkeit durch Parodie infrage gestellt wurden.
Der russische Philosoph und Literaturtheoretiker Michail Bakchtin ist der erste, der eine überzeugende Deutung der Funktion des karnevalesken Festes geliefert hat, die bis heute in der Wissenschaft als grundlegend gilt.
Bakchtin betrachtet den Karneval als eine Pause von der Ernsthaftigkeit der Kirche und ihrer Sprache, dem Latein. Vergeblich hat die Kirche versucht die Gläubigen von diesen Festen fern zu halten. Der Karneval wurde trotzdem als Fest des Lachens, und der Alltagssprache etabliert, als Zeit des freien, vulgären Redens und Fluchens, als ein Fest der Entweihung und der sexuellen Witze. Sein Höhepunkt war die Wahl und Präsentation des Karnevalskönigs – einer Person, die durch ihren sozialen Status oder ihr äußeres Erscheinungsbild den grotesken Hierarchiewechsel am anschaulichsten verkörperte.
Bakchtin hat neben dem zeitlichen Verlauf und der Rekonstruktion des Festes auch die Beziehungen der Festteilnehmenden untereinander untersucht und betonte die engen Verbindungen, die durch die Aufhebung der Hierarchien und der Zensur während des Festes entstanden. Diese Verbindungen, die Menschen unterschiedlichen Standes, Alters und Geschlechts vorübergehend vereinten, konnten jedoch eine enorme, fast animalische Kraft entfesseln und zu Exzess führen.
Trotz der Gefahr, die solche Feste des Exzesses in sich bergen, hatte das Karnevalistische und das Fest der verkehrten Welt eine wichtige gesellschaftliche Funktion: Durch frivole Regellosigkeit und subversives Lachen wurden Hierarchien vorübergehend aufgehoben, was ein Gefühl der Befreiung vermitteln kann – mit dem Ziel, nach dem Fest die bestehenden Strukturen und Reglementierungen zu festigen.
Bakchtin hat in seiner Forschung erkannt, dass es bereits in der Antike zahlreiche ähnliche festliche Erscheinungen wie den Karneval und seine „verkehrte Welt“ gab. Diese manifestierten sich insbesondere in den dionysischen Festen. Dionysos, der Gott der Entäußerung von sich selbst, konnte am besten diese soeben beschriebene Weltanschauung wie kein anderer verkörpern. Er stand dem Grotesken nahe und stellte Kultur sowie Gegenkultur in all ihrer Deutlichkeit zur Schau. Der Grieche der demokratischen Polis, der den Gott in jährlichen Festen verehrte, legte seine bürgerliche Identität ab, verbarg sich hinter einer Maske und feierte ihn mit unartikulierten, scheinbar sinnlosen Schreien. In der kollektiven Ekstase tanzte der Bürger wild und entfesselt mit Bauern und Sklaven zusammen– was für eine Stimmung!
Dieser Rausch bildete den völligen Gegenpol zur Atmosphäre der Volksversammlung, wo derselbe Bürger diszipliniert, still und von einer mächtigen, kunstvoll geformten Sprache gefangen genommen, ja sogar verführt wurde. Eine Sprache, die durch die Kunst der Rhetorik zu einem Instrument der Macht wurde. Doch im dionysischen Fest konnte er sich für einen kurzen Moment von ihr befreien.
Im Mythos wird der Rausch des dionysischen Festes ins Extreme gesteigert: Der Gott und seine ausgelassene, wilde Gefolgschaft feiern nachts in den Bergen – fernab der Stadt, dem Ort der Anstandsregeln und der Zivilisation. Zur feiernden Schar des Dionysos gehören die Satyrn – wilde, behaarte Mischwesen mit gigantischen, erigierten Phalli. Sie sind von unbändiger Triebhaftigkeit und verkörpern damit das Gegenteil des idealen Bürgers, der sowohl in seinem Erscheinungsbild als auch in seinem Verhalten stets Kontrolle über seine Emotionen bewahren soll. In der Wildnis jagt die feiernde Truppe Tiere, reißt sie bei lebendigem Leib auseinander und verzehrt ihr Fleisch roh. Die eigentliche Jagd und Tötung der Tiere wird jedoch den Mänaden, den weiblichen Mitgliedern der Truppe, zugeschrieben. Dies stellt eine radikale Umkehrung der traditionellen Geschlechterrollen dar. Gleichzeitig bedeutet dieses blutige Ritual einen schwerwiegenden Tabubruch innerhalb der Opferpraxis der Polis-Kultur, in der es streng untersagt war, das Fleisch eines Opfertieres roh zu verzehren.
Von der Antike bis zur Neuzeit weisen all diese Feste ähnliche Merkmale auf: Als Ausdrucksformen gegenkultureller Strömungen spiegeln sie unmittelbar die gesellschaftlichen Debatten ihrer Zeit wider und sind eng mit den Zeichen des jeweiligen zeitgenössischen Wertekanons verknüpft. Der Karneval war eigentlich „das Leben an sich “ aber nach einem bestimmten Spielinszenierung geformt. Wenn das Subjekt im Rahmen des Festes eine bestimmte Rolle parodiert, bedeutet das nicht die Annahme einer anderen Rolle von ihm, sondern vielmehr das Einnehmen des Raums zwischen den Rollen.
Was geschieht jedoch, wenn karnevalistische Handlungen aus seinem streng spielerischen und festlichen Rahmen herausgelöst werden? Welches Gewaltpotenzial entsteht, wenn Menschen, befreit von innerer und äußerer Zensur, die verborgenen und dunklen Seiten der menschlichen Natur offenbaren?
Bakchtin, der zur Zeit des stalinistischen Terrors lebte, hatte diese mögliche und bedrohliche Entwicklung nicht untersucht. Euripides hingegen erkannte in seiner Tragödie „Bakchen“ die Ambivalenz des Dionysischen und schilderte einen Fall, in dem die dionysische Ekstase zur Dystopie übergeht: Pentheus, der König von Theben, fällt dem dionysischen Wahn zum Opfer und wird von seiner eigenen Mutter in Stücke gerissen. Dionysos rächt sich an ihm, weil Pentheus den Gott nicht anerkennen und seine Mysterien verbieten wollte.
Die Tragödie endet mit der Offenbarung der göttlichen Macht in Theben. Aber selbst nach dieser Offenbarung, hinterlässt der dionysischer Rausch eine Gesellschaft im Chaos, ohne Führung und politisches System.
Euripides verfasste seine Tragödien in einer Zeit, in der seine Heimatstadt Athen eine schwere Krise durchlebte. Einerseits spaltete der Machtkampf zwischen einflussreichen Oligarchen und radikalen Demokraten die Gesellschaft, andererseits wütete der verheerende Krieg gegen Sparta, der schließlich in der Kapitulation Athens und dem Niedergang der Demokratie mündete.
Das karnevalistische Weltempfinden ist seit der Antike bis heute weit mehr als nur ein Fest – es ist eine Lebenshaltung ohne feste voraussehbare Strukturen. Auch wenn das Fest selbst im Laufe der Zeit an Bedeutung verliert, bleibt das karnevalistische Weltempfinden bestehen und manifestiert sich in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. Seit den 1970er Jahren nutzen marginalisierte Gruppen den Karneval als Bühne, um mehr Sichtbarkeit einzufordern. „Verpönte“ Körperbilder, Rhythmen und Kleidungsstile werden bewusst zur Schau gestellt, um Teilhabe und Anerkennung in der öffentlichen Leitkultur zu fordern.
Einige Wissenschaftler und Autoren haben in ihren Studien festgestellt, dass das amerikanische politische System und die Berichterstattung schon lange vor der Wahl Trumps zunehmend von der Unterhaltungsindustrie beeinflusst wurden. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war Trumps Wahlerfolg. Seine Popularität und sein anschließender Aufstieg in die Politik sind maßgeblich auf seine Rolle als Moderator der beliebten Sendung „The Apprentice“ zurückzuführen. Trump verkörpert das Karnevaleske wie kein anderer zeitgenössischer populistischer Politiker. Als Anhänger „alternativer Wahrheiten“ legt er mehr Wert auf Argumente, die seine Anhänger emotional mobilisieren, als auf deren tatsächlichen Wahrheitsgehalt. Er und seine Gleichgesinnten nutzen als Machtstrategie ständig Umdeutungen karnevalistischer Art – eine Taktik, das bisher vor allem in antikapitalistischen und alternativen Ideologien verbreitet war. Ihr Ziel: den Kampf zwischen Alt und Neu zugunsten des Alten neu zu entfachen. Es geht um die Rehabilitierung einer aggressiven Männlichkeit auf Kosten erkämpfter Frauenrechte, um den Versuch, die weiße Rasse als Opfer von Diskriminierung darzustellen, und um die Rückkehr einer Weltpolitik der Großmächte – gegen Völkerrecht und den Schutz von Minderheiten.
Durch seine Ideologie , Aussagen und Gestik inszeniert er sich als Teil der einfachen Volkskultur in ihrem angespannten Verhältnis zum Establishment. Paradoxerweise übernimmt er als Vertreter des Establishments die Rolle der Opposition gegen eben dieses System. Er begegnet der Verwirrung angesichts moderner, komplexer Zusammenhänge, indem er Antworten vereinfacht und sie als Erleichterung oder Entlastung präsentiert. Das ist das Fundament seiner Popularität.
Nachweise:
(Ferguson, N. [@nfergus].(2025, März 1) Plattform x. https://x.com/nfergus/status/1895911177026486476).
Literatur:
Euripides, Die Bakchen, (übers. v. Oskar Werner) Stuttgart 1998
Michail Bakchtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt am Main 1987
Silvia Sasse, (2016, November 1) Verkehrungen ins Gegenteil. Zur Karnevalisierung von Politik, in: Geschichte der Gegenwart, https://geschichtedergegenwart.ch/verkehrungen-ins-gegenteil-zur-karnevalisierung-von-politik/
Erstellungsdatum: 13.04.2025