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Gespräch mit Karola Gramann und Heide Schlüpmann über Alice Guy

Falling Leaves

Isa Bickmann


Alice Guy. wikipedia

Die Filmwissenschaftlerin Karola Gramann verabschiedet sich nach 25 Jahren von der Kinothek Asta Nielsen mit einer persönlichen Auswahl besonderer Schätze der Filmgeschichte in Frankfurt vom 12. bis 15.9. und in Berlin am 1. und 2.11.2024. Als Hommage an sie bringen wir ein Gespräch, das Isa Bickmann mit ihr und der Kinothek-Mitgründerin und Filmprofessorin Heide Schlüpmann 2012 über die Filmpionierin Alice Guy führte, deren Film „Falling Leaves“ aus dem Jahre 1912 auch im Abschiedsprogramm gezeigt wird.

 

ISA BICKMANN: Wie kam Alice Guy zum Film?

KAROLA GRAMANN: Sie ist vom Sekretärinnenstatus bei der Filmfirma von Léon Gaumont zur Regisseurin und Produktionsleiterin aufgestiegen. Guy hat sich selbst diese Arbeit geschaffen. Sie hat erkannt, dass da ein ganz großes Potenzial ist, und Gaumont überzeugt, dass er sie Filme machen lässt. Die Frühzeit des Kinos war ja sehr offen, hat viele Möglichkeiten geboten – auch für die Frauen –, und das Tolle war, dass Gaumont ihr vertraut hat. Dort hat sie sowohl in der Regie als auch in der Filmproduktion, was damals sehr ineinander ging, tätig werden können. Sie beschreibt, dass sie Kostüme gemacht hat und die Kulissen anfertigen ließ. Sie hatte ein eigenes kleines Studio in Montreuil.

HEIDE SCHLÜPMANN: Damals ist man auch viel auf die Straße gegangen. Es gibt schon von Anfang an verschiedene Genres. Und Alice Guy hat in allen gearbeitet. Sie machte Alltagsaufnahmen z. B. Aufnahmen von der Weltausstellung ...

Im Internet ist ein Film von der Avenue de l’Opéra in Paris zugänglich ...

KAROLA GRAMANN: Ach, mit diesem Trick, wo der Film rückwärts läuft.

HEIDE SCHLÜPMANN: In der Komödie „Le matelas épileptique“ aus dem Jahre 1906 geht es um eine Matratzenmacherin, was damals ein eigener Beruf war. Diese Matratzenmacherin bekommt von einem Ehepaar den Auftrag, eine Matratze neu zu füllen. Man weiß ja heute gar nicht mehr, dass es so etwas gab! Die Frau nimmt die Matratze, um sie zu füllen. Sie macht eine Pause von der Arbeit, derweil kommt ein Betrunkener vorbei und kriecht in die Matratze. Sie näht die Matratze zu und hat diesen Menschen darin, was sie aber nicht bemerkt. Die Matratze bewegt sich, fällt von ihr runter und es gibt verschiedene komische Situationen. Sie bekommt sie dann aber doch noch hinauf in die Stube des Paares. Das Paar geht zu Bett und freut sich schon auf die bequeme Matratze und dann geht es unter ihnen los ...

Ich habe einen Film gesehen, in dem die Gliedmaßen eines Mannes amputiert werden, und dann klebt man ihm neue Beine und Arme an. Der Film ist sehr lustig. Im Zimmer hängt ein Schild mit der Aufforderung „Please don’t cry“ und ...

KAROLA GRAMANN: ... es sind die Falschen, sie funktionieren ja dann nicht. Toll an den Filmen ist ihre große physische Qualität. Diese Matratzenmacherin schleppt diese durch den eingenähten Betrunkenen enorm schwere Matratze. Das sind sehr starke Frauen, im wahrsten Sinne des Wortes, richtig starke Figuren.

Gab es eigentlich im frühen Film eine Rollenteilung hinter der Kamera? Gab es diese Hierarchien, wie wir sie zum Teil noch heute kennen?

HEIDE SCHLÜPMANN: Das gab es noch nicht. Es wird immer berichtet, dass das Zusammenspiel so schön war, weil es eben keine festgelegten Funktionen und weil es noch keine Hierarchien gab. Natürlich musste es in einer Produktionsfirma, wie der Gaumont-Produktion, auch eine Produktionsleitung geben, die sagt, was gefilmt wird, und das Ganze dirigiert. Aber das hat Alice Guy selbst gemacht, sie war Produktionsleiterin, nicht nur Regisseurin. Sie hat auch Leute ausgebildet wie z.B. Louis Feuillade, der mit dieser wunderbaren Kriminalserie „Les Vampires“ weltweit bekannt wurde. Diese später berühmten Filmemacher und Regisseure haben bei ihr angefangen zu arbeiten. Ich weiß nicht, wie das mit der Kamera in dieser Zeit ist. Ob es da auch Frauen an der Kamera gegeben hat.

KAROLA GRAMANN: Später in Hollywood waren auch Kamerafrauen tätig. Daher gab es sie sicherlich früher. Die Entwicklung des Kinos und des Films ist ja parallel zur technischen Entwicklung erfolgt.

HEIDE SCHLÜPMANN: Aus den Optischen-Apparate-Fabriken gingen diese ganzen Techniker und Entwickler hervor. Das waren Männer, die dann natürlich auch wussten, wie man die Apparate bedient. Es gibt dieses schöne Bild von Alice Guy – da ist sie schon Produktionsleiterin: Es ist ein Tonapparat zu sehen, hinter dem eine Frau steht. Das gab es auch in Deutschland, die Phonoscène, wo man auf einer Wachsplatte parallel zu den Aufnahmen den Ton aufzeichnete und dies auch abspielen konnte. Das hat sie viel gemacht.

Unterscheiden sich ihre Filme von denen der Kollegen wie Lumière oder Méliès?

HEIDE SCHLÜPMANN: Das könnte ich nicht so sagen. Das ist das, was uns beschäftigt. Was ich schon spezifisch bei ihr finde, ist die Vielfalt in ihrer Tätigkeit in verschiedenen Genres. Lumière war ja mehr fixiert auf diese Ansichten, Aufnahmen von Wirklichkeiten, Méliès auf die Trickfilme. Lumière hatte auch kleine Spielszenen, doch das ist sehr viel einseitiger. Alice Guy hat sehr vielseitig gearbeitet. Das ist etwas, was man auf jeden Fall feststellen kann.

Damit ist sie auch eine Pionierin!

HEIDE SCHLÜPMANN: Ja.

Warum ist sie so wenig bekannt? Im Fall der Kunstgeschichte hat bekanntermaßen Linda Nochlin 1971 das Essay „Why have there been no great women artists“, geschrieben. Sie sagt, dass das männliche Kanonisierungsprogramm die Frauen ausgeschlossen habe.

HEIDE SCHLÜPMANN: Ein wichtiges Moment in Guys Kariere ist, dass sie 1907/08 in die USA gegangen ist. Typisch Frau: Sie hatte ihren Mann Herbert Blaché begleitet. Dann allerdings dort gleich wieder ihre eigene Filmfirma eingerichtet.

Er war auch bei Gaumont angestellt.

HEIDE SCHLÜPMANN: Ja, er war auch bei Gaumont angestellt im technischen Bereich. Durch ihren Weggang hat sich in Frankreich ihre Karriere nicht weiterentwickelt. In Frankreich haben sich dann – auch von ihr – ausgebildete Filmregisseure durchgesetzt, während sie nicht mehr präsent sein konnte, schon gar nicht nach dem Ersten Weltkrieg. Das ganz frühe Kino vor 1914 ist erst einmal ziemlich in Vergessenheit geraten. Gut, Feuillade, hat die Avantgarde der zwanziger Jahre überlebt, aber z.B. jemand wie Jacques Feyder, der auch bei Alice Guy gearbeitet hat, ist erst wieder in den 1980er und 1990er Jahren entdeckt worden. Also, das Weggehen nach Amerika hat sicher sehr dazu beigetragen, dass sie in Vergessenheit geriet. Ein anderer Grund ist, dass sie sich in dieser Zeit noch gar nicht als Autorin verstanden hat, was auch erst später aufkam und in dieser frühen Zeit noch gar nicht üblich war. Sie sah sich eher als Teil der gesamten Filmproduktion. Am Anfang hat es noch gar keinen Kult um eine Person, z.B. den Regisseur*in, gegeben. Später hat dann Gaumont die ganze Ehre eingestrichen. Er ist ja in Frankreich geblieben, die Firma gibt es noch heute.

Es ist auch zu lesen, dass Gaumont 1930 die Geschichte seiner Firma publiziert hat und den Namen Alice Guy einfach weggelassen hat.

HEIDE SCHLÜPMANN: Ja, und dann hat sie angefangen, sich um ihre Geschichtsschreibung zu kümmern.

KAROLA GRAMANN: Dieses hat eine Fortsetzung. Es gibt doch die berühmte französische Filmgeschichte von Georges Sadoul, und sie wusste, dass Sadoul eine Neuauflage des Standardwerks geschrieben hat und hat darauf bestanden, dass sie hineinkommt. Das war in den sechziger Jahren. Und ein weiteres Problem ist natürlich, dass man in der Frühzeit nicht daran gedacht hat, diese Filme zu archivieren. Es gab sehr viele Verleihkopien, die dann durchgenudelt worden sind und irgendwo aufgehoben wurden, ohne dass man erkennen konnte, wer da gespielt hat, wer Regie gemacht hat, wer die Kamera geführt hat.

Es ist eine hochinteressante und sehr kleinteilige, mühsame Arbeit, Filme zu identifizieren. Mit der Zeit kann man es wie ein Mosaik zusammensetzen, wenn man irgendwann sieht, die Guy hat mit bestimmten Schauspielern gearbeitet, oder es hat einen gewissen Stil, es gibt bestimmte Merkmale, aus denen man auf sie schließen kann. Man fährt durch die Archive und sichtet wirklich Jahr für Jahr, was sie noch an Nitraten haben und kann dann auch aufgrund von Zeitungsberichten, von Programmblättern rekonstruieren. Das ist eine sehr mühsame Arbeit! Die Amerikanerin Alison McMahan war die erste, die alle Archive abgefahren ist, alles angeguckt hat. Von ihr haben wir noch die erste Liste. Und dann heißt das noch lange nicht, dass diese Filme vorführbar sind. Die haben unter Umständen Krate, sind geschrumpft oder verfallen. Leider hat man sich so wenig bemüht, der ersten Filmemacherin eine Restaurierungsaktion zukommen zu lassen. Es gibt ja Regisseure, da ist jedes Fitzelchen restauriert, man denke nur an die weltweite Freude, wenn wieder 10 Meter Metropolis irgendwo auftauchen. Man lässt so ganze Werke, ich will das nicht unbedingt Werke nennen, aber Arbeitskonvolute, einfach liegen. Hier hat eine Kollegin, Kim Tomadjoglou, eine Amerikanerin, zusammen mit anderen vor einigen Jahren im Whitney Museum die erste große Alice-Guy-Retrospektive veranstaltet. Das war eine Pioniertat. Es wurden Musikerinnen herangezogen, Kompositionen erarbeitet. Das sind Schneeballsysteme, und wir sind eine neue Schicht des Schneeballs. Das Ganze ging zum Il-Cinema-Ritrovato-Festival nach Bologna, und es gab in Paris im Musée d’Orsay eine Retrospektive. Dort war alles digital, in Paris wurde keine Kopie gezeigt. Es war fantastisch programmiert, aus meiner Sicht spannender als Bologna.

HEIDE SCHLÜPMANN: Überhaupt sind manche Sachen nur auf Blu-ray verfügbar, da gibt es gar keine Filmkopien, was ich sehr bedauerlich finde. Whitney ist erst der Anfang gewesen, es ist beileibe noch nicht alles restauriert.

Wie viele Filme hat sie gedreht?

KAROLA GRAMANN: Sie hat ungefähr 1000 gemacht. Davon 400 alleine bei ihrer eigenen Produktionsfirma Solax in den USA. Wie viele davon überlebt haben, kann ich im Augenblick nicht sagen. Das ist ja auch in Bewegung. Es üblich in Archivkreisen, wenn man ein Fragment gefunden hat, dass man z. B. jemanden in Berlin anruft, von dem man weiß, dass er sich im deutschen Film 1913 und 15 sehr gut auskennt. Dann schickt man ihm das und fragt ihn, ob er weiß, was das sein könnte, wer die Schauspieler sind. Da gibt es Leute, die kennen auch die Nebenrollendarsteller. Es sind inzwischen auch kritische und filmhistorische Texte erschienen. Noch ist vieles unbekannt.

Es geht auch gar nicht darum zu sagen: Hier ist – völlig aus der Asche – Alice Guy, die große Pionierin, sondern einerseits zu untersuchen, warum sehen wir das erst heute, und noch wichtiger: Was sehen wir da? In der Frankfurter Tagung* haben wir die Filme kontextualisiert. Das war vor allem Heides Aufgabe, die sich ja exzellent im Stummfilm auskennt. Wie verhält sich das, wo gibt es Ähnlichkeiten, Einflüsse, um überhaupt zu einer Einschätzung zu kommen.

Ich habe im Internet einen Film gesehen, der „Falling Leaves“ hieß. Sehr entzückend ist das, wie das kleine Mädchen Trixi ihre kranke ältere Schwester rettet, mit ganz viel Naivität. – der Retter ist natürlich ein Mann!

HEIDE SCHLÜPMANN: So soll es sein!

Ist das ein Film, der sich an dem damaligen Publikumsgeschmack ausrichtete?

KAROLA GRAMANN: Der ist wunderbar fotografiert, von der Kamera her ein ganz subtiler Film. Ich denke, diese Sujets sind vergleichbar mit den Romanen, in denen solche trivialen Geschichten erzählt wurden. Aber da steht auch die Frage, wie setzt man das in Szene?

HEIDE SCHLÜPMANN: Die Filme sind immer auch auf den Zuschauer zugeschnitten. Der Geschmack ist aber womöglich auch der eigene.

Guys letzter Film von 1920 heißt „Tarnished Reputations“. Worum ging es in dem Film?

HEIDE SCHLÜPMANN: Der Film existiert nicht mehr. Eine Frau wird von einem Maler ruiniert, wird das Protegé eines reichen Mannes, der stirbt und hinterlässt ihr eine Menge Geld, vorher hat er sie zu einem Theaterstar gemacht. Und dann kann sie den Maler heiraten, den sie offenbar immer noch liebt, trotz seines falschen Verhaltens.

KAROLA GRAMANN: „The Making of an American Citizen“ aus dem Jahre 1912 ist sehr bizarrer Film, wo es darum geht, einen etwas brutalen russischen Ehemann, einen Bauern, der als Einwanderer mit seiner Frau nach Amerika kommt und sie behandelt, als sei sie seine Leibeigene, ein Lasttier, eines Besseren zu lehren. Er wird von den Amerikanern sozusagen politisch korrekt in Genderfragen erzogen. Ein sehr merkwürdiger Film von einer naiven Amerikagläubigkeit, wo alles so ordentlich und demokratisch zugeht. Sehr witzig.

Alice Guy hat sich scheiden lassen von ihrem damaligen Mann Herbert Blanché. Und dazu hatte sie auch beruflich Schwierigkeiten mit einem Flop. War das der Grund, weshalb sie nach 1920 keine Filme mehr drehte?

KAROLA GRAMANN: Sie lebten an der Ostküste, und Blaché ist an die Westküste gegangen, wo sich dann die Filmindustrie etablierte. Man bekam an der Ostküste Probleme, weil in Kalifornien einfach das bessere Licht war. Außerdem hatte man dort mit dem Monopol der Firma Edison zu kämpfen.

Blaché war wohl ein Womanizer, und sie hat sich scheiden lassen. Sie hatten zwei Töchter zusammen. Sie war eine sehr gestandene Person.

Merkt man das auch ihrer Autobiographie an?

KAROLA GRAMANN: Sie schreibt dort zu Beginn: „Wer bin ich? Méliès, Lumière, Gaumont? Nein. Ich bin eine Frau. DARUM kennt niemand meinen Namen. So einfach ist das.“

 

*Das von der Kinothek Asta Nielsen organisierte Filmsymposium „Erste unter Gleichen. Die Filmarbeit der Alice Guy von 1896 bis 1920“ fand im Kino des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt vom 28. bis 30. September 2012 statt.

 

Nachtrag:
Alice Guys Film „Falling Leaves“ ist auch im Abschiedsprogramm vertreten.
https://kinothek-asta-nielsen.de

Erstellungsdatum: 14.09.2024