Mit der Erstaufführung von Aribert Reimanns Melusine würdigt die Oper Frankfurt den im vergangenen Jahr verstorbenen großen Komponisten ein zweites Mal in dieser Spielzeit. Thematisch relevant und musikalisch auf den Punkt gebracht wird im Bockenheimer Depot ein surrealistisch anmutendes und doch so aktuelles Märchen gezeigt, das unter die Haut geht. Wie in einer Arena im Rund um die und damit nah an der Bühne, fühlte sich Andrea Richter bei der Premiere als Voyeurin der eigenen Realität und der damit verbundenen Fragestellung: Was bin ich bereit aufzugeben, um die Natur für die Nachwelt zu retten? Und selbst wenn ich es tue, nützt der individuelle Einsatz?
Retrospektiv betrachtet, war der Text von Melusine, den Claus H. Henneberg nach dem gleichnamigen Schauspiel von Yvan Goll 1970 verfasste, prophetisch. Denn das Thema der Naturzerstörung spielte damals in der breiten Öffentlichkeit noch keine Rolle. Zwar revoltierten ab 1968 die jungen Menschen in Deutschland und weltweit gegen Vieles, aber nicht dagegen. Selbst als 1972 der berühmte Bericht „Grenzen des Wachstums“ vom Club of Rome veröffentlicht wurde, erhielt dieser zwar eine gewisse Aufmerksamkeit, wurde aber längst nicht so ernst genommen, wie es ihm zugestanden hätte, wie wir heute wissen. Doch selbst der erschien erst ein Jahr nach der Uraufführung der Oper, als das Gespann Henneberg/Reimann das Phänomen bereits thematisch ins Zentrum ihres Werks gerückt hatten.
In Reimanns zweiter Oper, geht es um die junge Frau Melusine, die auf Druck ihrer Mutter, Madame Lapérouse, deren Liebhaber, den Immobilienmakler Oleander geheiratet hat. Auch ein halbes Jahr nach der Hochzeit verweigert Melusine dem Angetrauten jeden Sexualverkehr, angeblich, weil seine Arme behaart sind. Anstatt die Nächte mit ihm im Bett zu verbringen, sitzt sie am Fenster und schaut in den Park des Nachbargrundstücks, wo sie auch ihre Tage verbringt, anstatt sich um ihren Ehemann zu kümmern. Dort begegnet sie eines Tages einem Geometer, der den Park vermisst. Der Graf von Lusignan hat ihn gekauft und will dort ein Schloss bauen, weshalb die Bäume gefällt werden sollen. Doch Melusine kann ihn durch eine Ode an die Natur davon überzeugen, dass diese nicht zerstört werden darf. Sie ruft Pythia, die Wächterin über die Natur, zu Hilfe. Sie feuert Melusine in ihrem Kampf noch an und stattet sie mit einem Fischschwanz aus, mit dem sie allen Männern den Kopf verdreht, die an den Bauarbeiten beteiligt sind, um sie von ihrem Tun anzuhalten. Sie fordert allerdings von Melusine, dass diese sich nicht verlieben darf. Zunächst scheint der Plan aufzugehen. Doch dann wird das Schloss mit dem Holz der gefällten Bäume gebaut. Und: bei der Einweihungsfeier verliebt Melusine sich ausgerechnet in den Schlossherrn und er sich in sie. Pythia schwört Rache. Der Graf befreit in ihrer ersten Liebesnacht Melusine von ihrem Fischschwanz, sie fühlt sich nun endlich als Mensch. Die wütende Pythia setzt das Schloss in Brand. Melusines leiblicher Vater und Gehilfe Pythias, Oger, will die Tochter retten, doch sie beschließt, an der Seite des Geliebten zu sterben. Madame Lapérouse und Oleander beobachten den Brand aus der Entfernung und halten ihn für ein Feuerwerk, eine willkommene Abwechselung in ihren langweiligen Leben. Bis ihnen klar wird, dass Melusine im Schloss war.
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Regisseurin Aileen Schneider leuchtet dieses vielschichtige Märchen in Musik ebenso vielschichtig aus. Sie inszeniert es zum einen als das, was es ist: den Kampf für die Natur. Er wird bei ihr geführt von einer Melusine, die einen Coming-Out-Prozess von einer einerseits idealistischen, aber auch sich gegen die Repressionen von Mutter, Pythia und Gesellschaft wehrenden jungen Frau zu einer Erwachsenen entwickelt und die in dem Moment, als sie erstmals wirklich frei wählen zu können glaubt, in den Fesseln der Liebe gefangen ist. Dem Libretto völlig treu, bietet Aileen Schneider kein offensichtliches lieto fine an, lässt sich aber auch nicht verführen, irgendeine, wie auch immer geartete Lösung aufzuzeigen oder Partei für irgendeine Seite zu ergreifen, obwohl gerade heute die des Naturschutzes sich anböte. Das leuchtet ein, denn tatsächlich erleben wir gerade den existentiellen Umbruch von Natur und dem, was bei uns als zivilisatorische Errungenschaften angesehen wird. Vieles ängstigt, und wir suchen nach Halt an wenigstens einer, uns unumstößlich scheinenden Größe. Das gilt insbesondere für junge, naturbedingt nach Orientierung suchende Menschen wie Melusine. Ältere haben eher die Möglichkeit, aufgrund ihrer Erfahrungen so manches als absurdes Theater zu betrachten und der Zukunft gelassener ins Auge zu sehen. Andere unter ihnen suchen das Heil in der Erinnerung an vergangene, bessere Zeiten und ihre klaren Normen. Alles ist möglich. In Schneiders Melusine ebenfalls. Sie lässt das Publikum rund um eine Bühne sitzen, die auch das Trägerglas für die Untersuchung einer Laborprobe von Materie und materialisiertem Gefühl unter dem Mikroskop sein könnte. Sie lässt das Publikum an einem Experiment teilnehmen. Es übernimmt quasi die Rolle des mikroskopierenden Laboranten, sieht und hört Elementarteile oder Teilelemente unaufhörlich bis Mitte des 3. Aktes herumrasen, bis es zur völlig unerwarteten Verschmelzung von zerstörerischem Kapital (Graf von Lusignan) und dem Naturideal (Melusine) durch Liebe kommt. Staunend erlebt die Laborantin diese romantische Fusion. Die einstigen Antagonisten finden sich und insbesondere Melusine zu sich. Sie wird ein Mensch, wie sie selbst sagt.
Damit bricht diese Experiment-Reihe des Aufbegehrens gegen die Naturzerstörer Kapital, Maschinen und Konventionen zwar zusammen und versinkt in Massen von apokalyptischem Bühnenrauch, aber es scheint nicht ausgemacht, dass es nicht ein weiteres Experiment unter veränderten Grundannahmen mit einem neuen Mikroskop geben kann. Wie erfahren nicht einmal, ob Melusine wirklich tot ist. Die Pessimisten dürften es annehmen, für die Optimist:innen könnte sie auch im letzten Moment gerettet worden und für die nächste Folge der Versuchsanordnung schlauer geworden sein. Weil sie dann eine Idee hat, wie die derzeit noch wie ein Märchen klingende Verbindung von Naturschutz, Menschlichkeit, Kapital und Industrie gelingen kann. Und wie im Märchen gibt es keine klare Grenzziehung zwischen real existierender und irrealer Welt. Alle, bis auf die namenlosen Arbeiter, tragen mehr oder minder futuristische Kostüme wie in einem Fantasy-Spiel in einer Fantasy-World. In dieser Welt stehen hohe Ansprüche an Ideale neben der Banalität des Lebens, was zwischendurch zu (aber-) witzigen Situationen führt. So nimmt Melusine offensichtlich ihre Umwelt wahr.
Damit rekurriert Schneider auf den Ursprung des Librettos, Yvan Golls Schauspiel Melusine. Es entstand 1922, Goll gilt als Vertreter des Expressionismus. Die Künstler dieser Bewegung reagierten auf die Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Vielzahl von Eindrücken und das Tempo der Entwicklung vermittelte ihnen das Gefühl der Entfremdung mit der Folge, dass es nach ihrer Interpretation zu einer Dissoziation von Ich und Welt kam, das Wahrnehmungsganze sich aufspaltete und in eine Vielzahl von Einzelheiten und Assoziationen zerfiel.
Reimanns Opern- (und auch Lied-) Musik steht immer im Dienst der Stimmen. Das hat ursprünglich mit seiner Herkunft als Kind einer Sängerin und seiner sehr früh beginnenden Arbeit an Musiktheaterbühnen sowie als Liedbegleiter großer Sänger:innen wie Friedrich Fischer-Dieskau und Brigitte Fassbaender zu tun. Die gesamte Innenwelt seiner Protagonist:innen wird durch Gesang ausgedrückt. So ist die zentrale Partie der zunächst idealistischen, aufgeregten und um eine Lösung bemühten Melusine entsprechend angelegt: mal in aufgeregten kurzen Sequenzen mit allerhöchsten Sopran-Tönen, dann in halsbrecherischen Koloraturen, schließlich lyrisch liebend. Diese Frankfurter Produktion betreffend muss festgestellt werden, dass die Partie mit Anna Nekhames ideal besetzt ist. Sie verfügt über eine hervorragende Gesangstechnik (und Kondition!), eine enorme Stimmflexibilität und Ausdruckskraft. Mit diesen Attributen ausgestattet, erweckt sie – unangestrengt wirkend – ihre Melusine zu einem Geschöpf, mit dem man in jeder Sekunde mitlebt und -leidet. Wunderbar und auf gesanglicher Augenhöhe auch ihre stimmliche „Ergänzung“ durch die Mezzosopranistin Zanda Švēde als wild entschlossene und wütende Pythia, die Königin der Natur. Überhaupt: Die Besetzung stimmte. Allein den Grafen de Lusignan (Liviu Holender) hätte man sich in dem sehr langen Liebesduett etwas ausdrucksstärker wünschen können.
Das alles hätte ohne die musikalische Leitung von Karsten Januschke wohl kaum zu dem emotionalen Feuerwerk, das es wurde, führen können. Mit äußerster Präzision und großer Ruhe führte er Sänger:innen und Instrumentalist:innen durch das vielgliedrige Werk, vermittelte den Protagonisten auf der Bühne so viel Sicherheit, dass sie sich frei entfalten konnten, und ließ die Orchester-Künstler vor allem in den Zwischenspielen glänzen. Ein Erlebnis, dass selbst denjenigen, die sich vor atonaler Komposition fürchten, diese als natürliche Fortsetzung gewohnter Tonalität begreifen und fühlen können.
Melusine. Liviu Holender (Graf von Lusignan). Foto: Barbara Aumüller
Aribert Reimann 1936–2024
Melusine
Oper in vier Akten
Text von Claus H. Henneberg nach Yvan Goll
Uraufführung 1971, Schlosstheater, Schwetzingen
Frankfurter Erstaufführung
Musikalische Leitung: Karsten Januschke
Inszenierung: Aileen Schneider
Bühnenbild: Christoph Fischer
Kostüme: Lorena Díaz Stephens
Licht: Olaf Winter / Jonathan Pickers
Dramaturgie: Maximilian Enderle
Melusine: Anna Nekhames
Pythia: Zanda Švēde
Madame Laperouse: Cecelia Hall
Oleander: Jaeil Kim
Graf von Lusignan: Liviu Holender
Geometer: Dietrich Volle
Maurer: Frederic Jost
Architekt: Andrew Kim
Oger: Morgan-Andrew King
Erste Dame: Ekin Su Paker
Zweite Dame: Daria Tymoshenko
Dritte Dame: Zuzana Petrasová
Erster Herr: Hubert Schmid
Zweiter Herr: Alexander Winn
Sekretär: Dominic Betz
Drei Arbeiter: Hubert Schmid / Alexander Winn / Dominic Betz
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Bockenheimer Depot, 60325 Frankfurt am Main, Bockenheimer Warte
Weitere Vorstellungen: 8., 11., 13., 15., 17., 22. und 25. Juni 2025
Erstellungsdatum: 08.06.2025