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Prolog: Ein skandalöses Vorwort

Frantz Fanon – Philosoph der Barrikaden

Philipp Dorestal


Frantz Fanon. Foto: Wikimedia Commons, Bearbeitung Textor

Frantz Fanon wurde am 20. Juli vor 100 Jahren in der französischen Kolonie Martinique geboren. Und es heißt, er sei an dem Tag gestorben, an dem das Buch veröffentlicht wurde, das bis heute mit seinem Namen verbunden ist: Die Verdammten dieser Erde. Ein neues Buch über den Psychiater, Politiker, Schriftsteller und Theoretiker der Entkolonialisierung von Philipp Dorestal führt in dessen Werk ein und verteidigt Fanon gegen seine Interpreten. Wir danken dem Verlag, das Vorwort veröffentlichen zu dürfen.



„Ich komme nicht bewaffnet
mit entscheidenden Wahrheiten.“(1)

 

Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre verfasste zeit seines Lebens zahlreiche Vorworte zu Anthologien und Werken von Autor:innen, denen er inhaltlich nahestand. Er unterstützte die Emanzipation Schwarzer Menschen und folglich in den 1950er- und 1960er-Jahren die Dekolonisation. Sartre hatte Frantz Fanons im Jahr 1952 veröffentlichte Schrift „Schwarze Haut, weiße Masken“ bereits gelesen, als er ihn im Sommer 1961 zusammen mit Simone de Beauvoir in Rom persönlich kennenlernte und einige Tage und Nächte voller intensiver Diskussionen mit dem jungen Autor verbrachte. Insofern verwundert es nicht, dass er der Bitte Fanons, für sein Buch „Die Verdammten dieser Erde“, das noch im selben Jahr erscheinen sollte, ein Vorwort zu verfassen, gern nachkam.

Sartres Vorwort wurde nicht nur fast so berühmt wie Fanons Buch selbst, sondern beeinflusste auch die Rezeption von Fanons Werk nachhaltig, die den Aspekt der Gewalt in den Vordergrund stellte. Für einen Skandal sorgte insbesondere folgender Satz von Sartre, der als Rechtfertigung von Gewalt verstanden wurde: „Denn in der ersten Zeit des Aufstandes muss getötet werden: Einen Europäer erschlagen heißt, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrigbleibt ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.“(2) Mit diesen markigen Worten war die Stoßrichtung vorgegeben, die Fanons Theorie vermeintlich charakterisieren sollte. So reduzierte etwa Hannah Arendt Fanons Gedankengebäude auf eine problematische Ode an die Gewalt. Für einen Großteil der Rezeption von Fanon scheint das zutreffend zu sein, was der Fanon-Biograf Adam Shatz an der Fanon-Lektüre Sartres bemängelt: Sartre habe nur das erste Kapitel, das mit „Von der Gewalt“ betitelt ist, gelesen und das nicht einmal besonders gründlich.(3)

Frantz Fanon (1925–1961), so soll diese Einführung in sein Werk zeigen, hat viel mehr zu bieten als eine derart vereinfachende Lesart suggeriert. Insbesondere sein intensives Nachspüren und Analysieren der unterschiedlichen Dimensionen, die Rassismus annehmen kann, haben auch im Jahr 2025, in dem sich Fanons Geburtstag zum hundertsten Mal jährt, nichts an Aktualität und Dringlichkeit verloren. Das heißt allerdings nicht, ihm unkritisch in all seinen Überlegungen zu folgen. Vielmehr liefern seine Reflexionen über psychologische Mechanismen, die die Kolonisation bzw. die Dekolonisation bei Kolonisator:innen und Kolonisierten jeweils auslösen, auch heute noch wichtige Anregungen für die aktuelle Analyse von Macht, Herrschaft und Ausgrenzung.

Wenn man bedenkt, dass Fanon lediglich 36 Jahre alt geworden ist und seine Zeit nicht nur mit Schreiben verbracht hat, sondern in erster Linie Psychiater und Aktivist war, so ist sein Œuvre vergleichsweise umfangreich. Die Studierendenbewegung der 1960er-Jahre sah in ihm einen Vordenker der Dekolonisation. Hier trat „Die Verdammten dieser Erde“ in den Vordergrund der Rezeption – Fanons letztes, kurz vor seinem Tod fertiggestelltes Buch. In späteren Jahren verschob sich die Aufmerksamkeit auf andere Schriften und andere Aspekte von Fanons Werk. So ist die Lektüre von Homi Bhabha, dem neben Edward Said und Gayatri Spivak prominentesten Theoretiker der Postcolonial Studies, vor allem auf „Schwarze Haut, weiße Masken“ fokussiert. Bhabha würdigt Fanon als innovativen Denker, an den zu erinnern es sich lohne, und schreibt:

„Die Erinnerung an Fanon ist ein intensiver Prozess der Entdeckung und Desorientierung. Es ist ein schmerzhaftes Wieder-Erinnern, ein Zusammensetzen der zerstückelten Vergangenheit, um dem Trauma der Gegenwart einen Sinn zu geben. Es ist eine solche Erinnerung an die Geschichte von race und Rassismus, des Kolonialismus und der Frage der kulturellen Identität, die Fanon mit größerer Tiefe und Poesie offenbart als jeder andere Schriftsteller.“(4)

Eine Neubetrachtung von Fanons Werk bietet sich aber auch deswegen an, weil im Jahr 2015 viele seiner vormals sehr verstreut veröffentlichten und zum Teil in Vergessenheit geratenen Aufsätze in Band 2 der Werkausgabe als „Écrits sur l’aliénation et la liberté“ erschienen sind. Diese Texte zeigen einen Autor, der sich auch literarisch betätigte und Theaterstücke schrieb, darüber hinaus jedoch in überaus instruktiven Aufsätzen die Psychiatrie der damaligen Zeit revolutionierte. Eine kommentierte Auflistung der Titel seiner Bibliothek, die ebenfalls in diesem zweiten Band der Werkausgabe abgedruckt ist, liefert zudem aufschlussreiche Hinweise auf die Vielzahl der Themen und Denker:innen, mit denen sich Fanon auseinandergesetzt hat.

Das vorliegende Buch unternimmt eine Rekonstruktion von Fanons Denkbewegungen anhand seiner Schriften und versucht einerseits darzulegen, inwiefern sie in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theorieströmungen entstanden sind. Zum anderen bringe ich sie in einen Zusammenhang mit aktuellen Fragestellungen und Debatten zu Rassismus, Geschlechterpolitik und Gerechtigkeit. Neuere, von den Postcolonial Studies inspirierte Arbeiten setzen sich hierzulande intensiv mit dem Umgang Deutschlands mit der eigenen Kolonialgeschichte auseinander. Dabei ist, Autoren wie Jürgen Zimmerer zufolge, im öffentlichen Bewusstsein in großen Teilen Deutschlands allerdings immer noch eine koloniale Amnesie vorherrschend oder eine Relativierung der deutschen Kolonialgeschichte.(5) Fanon, so werde ich im Laufe dieses Buches zeigen, nimmt die konkrete koloniale Situation, die er in Algerien vorfand und die er in anderen Ländern beobachtete, zum Ausgangspunkt, um allgemeine Schlussfolgerungen über das Wesen des Kolonialismus, seine Funktion und Funktionsweise zu ziehen. Dies macht Fanons Überlegungen anschlussfähig für kritische Theorien, Analysen und Anwendungen in anderen Kontexten. Koloniale Wissensbestände finden sich auch in Deutschland, und Fanons Analysewerkzeuge können helfen, diese zu dekonstruieren. Dabei werde ich aber immer die Situiertheit und Zeitgebundenheit der Reflexionen Fanons in Rechnung stellen.

Für welche weiteren Fragen kann die Lektüre der Schriften Fanons in den 2020er-Jahren Anregungen geben? Über das komplizierte Verhältnis zwischen Antisemitismus und anti-Schwarzem Rassismus, das hierzulande wieder sehr intensiv debattiert und über das nicht selten auch erbittert gestritten wird, hat Fanon schon früh nachgedacht. So finden sich etwa zentrale Argumente der Kontroverse, die im Frühjahr 2020 um den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe – nebenbei bemerkt ein prominenter Fanon-Interpret – geführt wurde, bereits bei Fanon. Die Debatte läutete das ein, was einige als „Historikerstreit 2.0“ tituliert haben, und dreht sich um die Frage, wie das Verhältnis zwischen kolonialer Gewalt und Holocaust, Rassismuskritik und Antisemitismuskritik zu bestimmen ist.(6)

Auch Fanons Analysen der Effekte von Rassismus sowohl für Betroffene als auch für diejenigen, die rassistische Vorstellungen hegen, sind für Deutschland uneingeschränkt relevant. Aktuelle Erhebungen wie beispielsweise der Rassismusmonitor des DeZIM(7) oder der Afrozensus(8) zeigen, dass Rassismus nach wie vor in unserer Gesellschaft tief verwurzelt und Alltagsrassismus in vielen Lebensbereichen weitverbreitet ist. Das Erstarken der extremen Rechten in Europa und in den USA trägt dazu bei, dass rassistische Narrative gegenwärtig wieder sehr präsent sind. Die theoretischen Werkzeuge, die Fanon uns hinterlassen hat, sind dabei für eine Analyse und Einordnung immer noch produktiv. Auch wenn einige seiner Antworten heute nicht mehr zu überzeugen vermögen, lohnt sich weiterhin ein kritisches Durcharbeiten seiner Ideen zur Weiterentwicklung und zum Verständnis der heutigen Zeit.

Zum Stand der Fanon-Rezeption und -Forschung

Trotz einer mittlerweile außerordentlich umfangreichen Rezeption Fanons im englischsprachigen Raum lässt sich auf Deutsch nichts Entsprechendes finden, auch die deutschsprachigen Gesamtdarstellungen seiner Theorie sind überschaubar. Es liegen einerseits Übersetzungen von biografischen Erinnerungen vor wie das Porträt von Alice Cherki, einer Mitarbeiterin Fanons in seiner Zeit in Algerien.(9) Eine Graphic Novel der französischen Autoren Frédéric Ciriez und Romain Lamy, die 2021 auch ins Deutsche übertragen wurde, kondensiert Fanons Denken anhand von Dialogen zwischen ihm und Jean-Paul Sartre sowie Simone de Beauvoir.(10)

Eine systematische deutschsprachige Darstellung von Fanons Werk hat Udo Wolter 2001 vorgelegt.(11) Wolters Monografie liefert eine gute Einführung in zentrale Themen und Schriften und interpretiert dabei Fanon wohlwollend, aber dennoch kritisch aus einer unorthodoxen marxistischen Perspektive. Wolter konnte allerdings noch nicht die erst 2015 publizierten Schriften zu Psychiatrie und Entfremdung berücksichtigen, die bislang nur auf Französisch und Englisch veröffentlicht sind.(12)

Einführungen in Fanons Theorie sind darüber hinaus fast ausschließlich im Zusammenhang mit postkolonialer Theorie zu finden. Fanon wird dort als Impuls- und Stichwortgeber gewürdigt, die Darstellung seiner Reflexionen fällt jedoch meist knapp aus. Sehr gute Überblicke über Fanons Denken geben die beiden Einführungen in die postkoloniale Theorie von Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan bzw. von Ina Kerner.(13) Einen neueren kurzen Überblick über die Rezeption von Fanon aus der Perspektive der Afrikawissenschaft bietet Max Armin Nosbers, der zu Recht auf eine Tendenz in Teilen der Sekundärliteratur zu Fanon hinweist, sein Denken zu „entzeitlichen“ und von dem spezifischen historischen Kontext zu lösen, in dem Fanon sich bewegte.(14) Instruktiv ist ebenfalls die soziologische Erörterung von Fanons Analyse der kolonialen Stadt, die Teresa Kolomba Beck mit einer Untersuchung neokolonialer urbaner Strukturen in Kabul zusammenführt.(15)

Angesichts der großen Bandbreite an Themen in Fanons Werk wird schnell ersichtlich, dass sich sein Denken nicht in eine Schublade pressen lässt. Denn trotz der häufig sehr reduktionistischen Lesarten als „Apologet der Gewalt“ oder als „antikolonialer Klassiker“ bewegt es sich in verschiedenen Disziplinen wie der Psychiatrie, der Literatur, der Philosophie, der Soziologie und der politischen Theorie. Seine engagierte Art des Denkens, die nie nur auf die Ebene der Reflexion beschränkt ist, sondern immer mit politischem Aktivismus gegen Kolonialismus, Rassismus und Kapitalismus einhergeht, lässt Peter Hudis’ Charakterisierung von Fanon als „Philosoph der Barrikaden“ treffend erscheinen.(16) Fanon war ein Intellektueller, der für die Praxis schrieb, sei es die des antikolonialen Befreiungskampfes, sei es im Umgang mit Rassismus oder im Kampf gegen kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse. Als Literat, Redner, Arzt, Wissenschaftler und Mitmensch wirkte er selbst an der Umsetzung seiner emanzipatorischen Gedanken mit, um sie in die Köpfe und Herzen der „Verdammten dieser Erde“ zu tragen.

Die Herausforderung, das Denken Fanons in all seiner Komplexität zu begreifen, aber auch der Reiz und die Faszination, die von Fanons Werk ausgehen, liegen sicherlich in der Vielzahl der disziplinären und biografischen Bezüge begründet. Diese nicht isoliert, sondern in ihrer Gesamtschau zu betrachten, hat bereits Alice Cherki angemahnt: „Zu versuchen, ihn unter den verschiedenen Facetten zu erfassen, dem Antillaner, dem Algerier, dem Psychiater, dem Aktivisten, dem Schriftsteller, hieße, die tiefgehende Einheit seines Vorgehens zu verkennen.“(17) Es gehörte zu den zentralen Anliegen Fanons, die Grenzen der Disziplinen, die vorgeben, was und wie gedacht werden kann und soll, zu sprengen, um Theoriebildung gerade nicht von ihrer Anwendung in der Praxis zu trennen, sondern sie in ein produktives Verhältnis zueinander zu setzen. Fanon sprach verschiedene Zielgruppen an und publizierte beispielsweise sowohl in medizinischen Fachjournalen als auch in aktivistischen Zeitschriften.

Doch trotz der unterschiedlichen Disziplinen, in denen Fanon sich bewegte, und des damit verbundenen unterschiedlichen Charakters seiner Texte verfolgte Fanon bestimmte Themen zeit seines Lebens. Ein Ausspielen eines frühen „poststrukturalistischen“ Fanons von „Schwarze Haut, weiße Masken“ gegen einen späten „aktivistischen“ oder „antikolonialistischen „ Fanon von „Die Verdammten dieser Erde“ oder umgekehrt sind deshalb nicht zielführend – auch das soll im Verlaufe dieses Buches gezeigt werden. Bestimmte Themen denkt Fanon in unterschiedlichen Schriften weiter und nuanciert sie, aber ein „epistemologischer Bruch“, wie ihn der französische Philosoph Louis Althusser im Werk von Karl Marx zwischen den frühen „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ und dem späteren „Kapital“ auszumachen vermeinte, lässt sich in den Schriften Fanons nicht erkennen. Ich folge Nigel Gibson und Roberto Beneduce, die schreiben: „Von Minderwertigkeitskomplexen und der täglichen Konfrontation mit weißer Vorherrschaft, Gewalt und Entmenschlichung über Martinique, Frankreich und Algerien bis hin zum Nationalsozialismus – Fanon erkannte ein Kontinuum der Unterdrückung und Entfremdung.“(18) Denn bestimmte Themen kehren bei Fanon immer wieder, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentsetzungen und Ausarbeitungen: Fragen von Rassismus, Entfremdung, Geschlechterverhältnissen, Gewalt und Ausbeutung ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Werk.

Die Biografie von David Macey aus dem Jahre 2000 ist ein wichtiger Beitrag zur Forschung, weil sie detailliert den Lebensweg von Fanon nachzeichnet und mit theoretischen Ausführungen zu seinem Werk kombiniert.(19) Kürzlich legte Adam Shatz mit „The Rebel’s Clinic. The Revolutionary Lives of Frantz Fanon“ eine weitere umfangreiche Biografie vor, die auch die theoretischen und geschichtlichen Kontexte rekonstruiert, in die Fanons Denken intervenierte.

Matthieu Renault spricht in seiner Studie über Fanon davon, dass es in verschiedenen Ländern unterschiedliche Fanon-Lesarten gebe, eine französische genauso wie eine US-amerikanische, die etwa Henry Louis Gates in seinem Aufsatz „Critical Fanonism“ skeptisch kommentiert.(20) Viele Arbeiten im US-amerikanischen Kontext stellen die Rassismusanalyse Fanons in den Vordergrund, neigen aber bisweilen dazu, deren Entstehungskontext und die historischen Bezüge zu Frankreich und Algerien zu vernachlässigen. In Frankreich wiederum werden die philosophischen Bezüge Fanons oftmals hervorgehoben.(21) Gibt es eine typisch „deutsche“ Fanon-Lektüre?

Im Zuge der Studierendenbewegung wurde Fanon hierzulande Ende der 1960er-Jahre als Vordenker der Dekolonisation wahrgenommen und sein Buch „Die Verdammten dieser Erde“, das ab 1966 auch auf Deutsch vorlag, als Anleitung für die Befreiung des Globalen Südens verstanden. Stellvertretend sei hier einer der prominentesten studentischen Aktivist:innen der 68er-Bewegung, Rudi Dutschke, genannt, der Fanon als „bedeutendsten Theoretiker der kolonialen Revolution“ bezeichnete.(22) Mit seiner positiven Bezugnahme auf Gewalt gilt Fanon aber auch als Stichwortgeber für den Linksterrorismus, der in den Anschlägen der RAF in den 1970er-Jahren mündete.(23)

In der afrodeutschen Bewegung, dokumentiert etwa in dem Klassiker „Farbe bekennen. Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ von 1986, wurde insbesondere „Schwarze Haut, weiße Masken“ als wegweisend für die Analyse der rassistischen Realität in Deutschland wahrgenommen. Abgesehen davon waren die 1980er-Jahre jedoch nicht dadurch geprägt, dass eine intensive Beschäftigung mit Fanons Schriften stattgefunden hätte, vielmehr versank er mehr oder weniger in der Nichtbeachtung,(24) obwohl „Schwarze Haut, weiße Masken“ 1980 erstmals in deutscher Übersetzung erschien. Die Neuausgabe dieses Werks im Jahr 2020 zeugt dagegen von dem neuerlich zugenommenen Interesse, auch ausgelöst durch die starke Beschäftigung mit postkolonialer Theorie in Teilen der Geisteswissenschaften im deutschsprachigen Raum.

Die nur selektive Rezeption von Fanons Werk wird in Deutschland durch den Umstand begünstigt, dass bisher noch nicht alle Schriften ins Deutsche übersetzt sind. Auf Deutsch liegen von Fanon die Werke „Schwarze Haut, weiße Masken“, „Die Verdammten dieser Erde“, „Für eine afrikanische Revolution“ sowie „Aspekte der algerischen Revolution“ vor.(25) Allerdings muss gesagt werden, dass Fanons psychiatrischen und medizinischen Schriften auch im anglophonen und frankophonen Raum weitaus weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird, als ihnen gebührt, sie sind nach wie vor „understudied“.(26) Gibson und Beneduce kommt das Verdienst zu, eine umfassende Würdigung dieser Schriften vorgelegt und in den Gesamtkorpus von Fanons Werk eingebettet zu haben. Auch Gavin Arnall hat in „Subterranean Fanon“ alle veröffentlichten Fanon-Texte in seine Interpretation aufgenommen.(27)

Sich Fanons Denken als Analysewerkzeug für die Durchdringung der menschlichen Realität zu bedienen bedurfte in den 1960er- und 1970er-Jahren keiner größeren Begründung, erlangten doch viele afrikanische Staaten in diesen Jahren ihre Unabhängigkeit, allein im Jahr 1960 waren es 14 ehemalige französische Kolonien. Die extreme Gewalt, die mit dem Versuch der Kolonialstaaten einherging, den kolonialen Status quo aufrechtzuerhalten, macht auch verständlich, warum die Analyse der Gewalt bei Fanon einen so zentralen Stellenwert einnimmt. In Algerien wurden friedliche Formen des Protests ebenso wie die Gründung von Parteien, die für die Unabhängigkeit eintraten, systematisch sabotiert und unterbunden. Dies führte dazu, dass der algerische Nationalismus vor allem auf Gewalt als Mittel der Dekolonialisierung zurückgriff. Darauf reagierte Frankreich wiederum mit Hunderten von systematisch durchgeführten Hinrichtungen und mit Folter.(28) Die von Fanon in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen trafen den Nerv der Zeit. In diesem Zeitalter der Dekolonisation lag die Beschäftigung mit den Folgen der Kolonialisierung nicht zuletzt für die ehemals Kolonisierten auf der Hand. Fanons luzide Analysen der Probleme postkolonialer Staaten wie Korruption und die autoritäre Anhäufung von Macht und Geld durch eine kleine Elite nahmen vielerorts das vorweg, was sich nach Erlangung der politischen Unabhängigkeit in vielen Länder abspielte.

Seit den 1980er-Jahren wird Fanon vor allem im Kontext der postkolonialen Studien rezipiert und das durchaus in unterschiedlichen Fachrichtungen wie der Politologie und der Soziologie.(29) Postkoloniale Theorien, die sich zu einem großen Teil affirmativ auf Fanon beziehen, denken das post nicht als ein nach im zeitlichen Sinne von danach, also als abgeschlossen, sondern postulieren Effekte des Kolonialismus auch über dessen offizielles Ende hinaus. Viele post- und dekoloniale Theoretiker:innen unterscheiden zwischen Kolonialismus und Kolonialität: Mag die Zeit des Kolonialismus auf dem Papier zwar vorbei sein, so besteht die Kolonialität darin, dass koloniale Denkmuster, Diskurse und darauf aufbauende ökonomische, kulturelle und soziopolitische Machtstrukturen als koloniales Erbe weiterhin die Gegenwart durchziehen. Fanons Schriften geben theoretische Werkzeuge an die Hand, um koloniale Spuren freizulegen und zu verdeutlichen, wie Kolonialität in der Gegenwart wirksam ist. Auch das Phänomen Rassismus ist alles andere als ad acta gelegt. Gerade in Bereichen, die für Fanon wichtig waren – in der Psychiatrie und der medizinischen Diagnose von rassifizierten Menschen –, zeigen aktuelle Studien, wie weit der Weg zum Beispiel noch ist hin zu einem rassismuskritischen Gesundheitswesen.(30)

Wo lässt sich Frantz Fanon im Spektrum zwischen Antikolonialismus und postkolonialer Kritik verorten? Und müssen wir diese Grenze überhaupt ziehen? Der französische Philosoph Matthieu Renault etwa spannt den Bogen in seinem Buch mit dem programmatischen Titel „De l’anticolonialisme à la critique postcoloniale“ vom Antikolonialismus zur postkolonialen Kritik und sieht ein Kontinuum in Fanons Denken. Max Armin Nosbers schreibt über die Rezeption von Fanons „Die Verdammten dieser Erde“:

„Gleich nach Erscheinen wurde ‚Les damnés de la terre’ von antiimperialistischen Akteuren wie Amílcar Cabral (1924–1973), Ernesto ‚Che’ Guevara (1928–1967) oder Hồ Chí Minh (1890–1969) zustimmend aufgegriffen. Sie vertraten Positionen, mit denen sich auch Fanon identifiziert hatte. Ganz allgemein fand die Rezeption Fanons in den 1960er-Jahren mehr im Rahmen des politischen Aktivismus statt, weniger im akademischen Kontext. […] Ein Beispiel für frühe, dezidiert ‚politische’ InterpretInnen Fanons stellen linke AktivistInnen aus Italien dar, welche Positionen aus ‚Les damnés de la terre’ aufgriffen und italienische Übersetzungen initiierten.“(31)

In Turin wurde Mitte der 1990er-Jahre eine Klinik in „Centro Frantz Fanon“ umbenannt, die sich auf Fanon beruft und insbesondere Migrant:innen aus dem Globalen Süden mit einem rassismus- und kolonialismuskritischen Ansatz behandelt.(32)

In Algerien hingegen, wo Fanon mehrere Jahre nicht nur als Psychiater gearbeitet, sondern auch aktiv den Befreiungskampf der algerischen Nationalen Befreiungsfront (Front de Libération Nationale, FLN) unterstützt hatte, ist die Rezeption von Fanon erstaunlicherweise bescheiden. Dies hänge vor allem, so die kritische Bilanz von Nosbers, mit „Fanons ambivalente[r] Beziehung zum algerischen Nationalismus, insbesondere im Hinblick auf den Islam“ zusammen: „Trotz Fanons Reflexionen bezüglich der Rolle des Islams im Rahmen seiner psychiatrischen Berufspraxis vernachlässigte er dessen Bedeutung als Motor des algerischen Nationalismus. Fanon beging auf diese Weise genau jenen Fehler, vor welchem er im Kontext seiner Arbeit als Psychiater gewarnt hatte: Er entwarf aufgrund seiner universalistischen Überzeugungen eine an westlichen Werten orientierte Befreiungstheorie, die regionale Gegebenheiten und sogar evidente Realitäten des algerischen Nationalismus außer Acht ließ.“(33) Ob diese Einschätzung – zumindest in Teilen – zutrifft, wird im Folgenden zu klären sein.

Homi Bhabha schreibt, dass Erinnerungen an Fanon dazu tendierten, mythisch zu sein. Denn Fanon würde einerseits verehrt als prophetischer Geist der Befreiung der sogenannten Dritten Welt oder geschmäht als Vernichtungsengel, der die Gewalt in der Black-Power-Bewegung inspiriert habe.(34) Sowohl die mittlerweile umfangreiche Forschungsliteratur als auch die bessere Zugänglichkeit von allen zentralen Schriften Fanons sind neben der zeitlichen Distanz gute Voraussetzungen, um 100 Jahre nach Fanons Geburt eine nüchternere Relektüre seiner Texte vorzunehmen und sich ihm als zentralem Denker der Dekolonisation wieder zuzuwenden.

 

 

 

1 Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken, Wien 2013, S. 7.
2 Jean-Paul Sartre: Préface, in: Frantz Fanon: OEuvres, Paris 2011, S. 442. Soweit nicht anders vermerkt, sind alle Zitate aus englisch- und französischsprachigen Texten von mir übersetzt.
3 Adam Shatz: The Rebel’s Clinic. The Revolutionary Lives of Frantz Fanon, New York 2024, S. 338.
4 Homi Bhabha: The Location of Culture, New York 2004, S. 90.
5 Vgl. Andreas Eckert/Albert Wirz: Wir nicht, die anderen auch. Deutschland und der Kolonialismus, in: Sebastian Conrad et al. (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2022, S. 372–392.
6 Zum »Historikerstreit 2.0« sind mittlerweile zahlreiche Texte erschienen. Für einen Überblick vgl. Michael Rothberg: Lived Multidirectionality. »Historikerstreit 2.0« and the politics of Holocaust memory, in: Memory Studie 6/2022, S. 1316–1329.
7 Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM): Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? Auftaktstudie zum Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa), Berlin 2022.
8 Muna AnNisa Aikins et al.: Afrozensus 2020. Perspektiven, Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland, Berlin 2021, www.afrozensus.de.
9 Alice Cherki: Frantz Fanon. Ein Portrait, Hamburg 2002.
10 Frédéric Ciriez/Romain Lamy: Frantz Fanon, Hamburg 2021.
11 Udo Wolter: Das obskure Subjekt der Begierde: Frantz Fanon und die Fallstricke des Subjekts der Befreiung, Münster 2001.
12 Frantz Fanon: Écrits sur l’aliénation et la liberté, hrsg. von Jean Khalfa und Robert Young, Paris 2015.
13 Maria do Mar Castro Vaela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung,
Münster 2015; Ina Kerner: Postkoloniale Theorien zur Einführung, Hamburg 2021.
14 Max Armin Nosbers: Zwischen Entzeitlichung und Historisierung. Zur Rezeption von Frantz Fanon, in: Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 40/2021, S. 143–184.
15 Teresa Kolomba Beck: Zerteilte Welt. Mit Frantz Fanon in Kabul, Soziopolis, 6.12.2021, www.soziopolis.de/zerteilte-welten.html.
16 Peter Hudis: Frantz Fanon. Philosopher of the Barricades, London 2015.
17 Cherki: Fanon, S. 12 f.
18 Nigel Gibson/Roberto Beneduce: Frantz Fanon. Psychiatry and Politics, Lanham 2017, S. 69.
19 David Macey: Frantz Fanon. Une vie [2000], New York 2011.
20 Matthieu Renault: Frantz Fanon. De l’anticolonialisme à la critique postcoloniale, Paris 2011; Henry Louis Gates: Critical Fanonism, in: Critical Inquiry 3/1991, S. 457–470.
21 Dies ist eine allgemeine Charakterisierung, natürlich gibt es unter den US-amerikanischen Lesarten auch so vorzügliche Studien wie die von Nigel Gibson oder Lewis Gordon und in Frankreich die Arbeiten von Matthieu Renault.
22 Zitiert nach Andreas Eckert: Predigt der Gewalt?, Betrachtungen zu Frantz Fanons Klassiker der Dekolonisation, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1/2006, S. 172.
23 Vgl. ebd.
24 Vgl. ebd., S. 173.
25 Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken; ders.: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a. M. 1981; ders.: Für eine afrikanische Revolution. Politische Schriften, Berlin 2022; ders.: Aspekte der algerischen Revolution, Frankfurt a. M. 1969.
26 Gibson/Beneduce: Frantz Fanon.
27 Gavin Arnall: Subterranean Fanon. An Underground Theory of Radical Change, New York 2020.
28 Vgl. Nosbers: Zwischen Entzeitlichung und Historisierung, S. 160.
29 Aram Ziai (Hrsg.): Postkoloniale Politikwissenschaft. Theoretische und empirische Zugänge, Bielefeld 2016; Julia Reuter/Paula-Irene Villa (Hrsg.): Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention, Bielefeld 2015.
30 Vgl. die Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) (Hrsg.): Rassismus und seine Symptome. Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors, Berlin 2023.
31 Nosbers: Zwischen Entzeitlichung und Historisierung , S. 172.
32 Vgl. Shatz: The Rebel’s Clinic, S. 383 f.
33 Nosbers: Zwischen Entzeitlichung und Historisierung , S. 151.
34 Homi Bhabha: Remembering Fanon, in: Nigel Gibson (Hrsg.): Rethinking Fanon. The Continuing Dialogue, New York 1999, S. 180.

Philipp Dorestal
Denker der Dekolonisation
Zur Aktualität von Frantz Fanon
184 S., brosch.
ISBN: 978-3-320-02431-4
Dietz Verlag, Berlin 2025
 
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Erstellungsdatum: 15.07.2025