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Jahrestag des Anschlags von Hanau

Fünf Jahre danach

Hadija Haruna-Oelker


Gedenkgraffiti unter der Friedensbrücke in Frankfurt. Foto: Barbara Walzer

Am 15. Februar fand die Gedenkveranstaltung anlässlich des 5. Jahrestags des rassistisch motivierten Anschlags in Hanau statt. Es war als ein selbstbestimmtes Gedenken von der Initiative 19. Februar organisiert: Mit Beiträgen der Angehörigen und Überlebenden, des Betroffenennetzwerks rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, einer Theater-Performance und einem Bericht zur Tatnacht der Recherche-Agentur Forensic Architecture/Forensis. Ein Abend gemeinsamer Reflexion und Erinnerung. Hier die Eröffnungsrede der Journalistin und Autorin Hadija Haruna-Oelker.

 

Denk ich an Hanau, dann denke ich an all die Leben, die nicht gelebt wurden. An die Leere, die bei den Familien bleibt.

Ich fühle so viele unterschiedliche Gefühle. Und ich sehe die Menschen, die sich dafür einsetzen, dass ihre Leben nicht vergessen werden. Dass es „kein Vergessen“ gibt.

Diese Worte habe ich ein Jahr nach dem Anschlag aufgeschrieben. Fünf Jahre ist dieser nun her. Und viele hier spüren sie. Fühlen. Nennen wir ihre Namen. Erinnern wir uns an: Mercedes, Fatih, Ferhat, Gökhan, Hamza, Kaloyan, Said Nesar, Sedat und Vili.

Wir sind hier, weil es sie gab. Kein Vergessen. Dafür haben viele Menschen, viele die hier sind, gesorgt. Für ein „solidarisches Erinnern“. Was bedeutet, nicht nur über ihren Todestag zu sprechen. Sondern sich vor allem auch daran zu erinnern, wer sie waren. Wo und wie sie gelebt und geliebt haben? Und darüber zu sprechen, wie es heute den Überlebenden und ihren Angehörigen geht. Mit welchen Folgen des Verlusts sie zu kämpfen haben?

Nächste Woche wird das fünfte Mal der 19. Februar sein. Es wird wieder 22 Uhr werden und der tiefe Schmerz wird wieder diejenigen erfassen, die sie so schmerzlich vermissen. Ich will zum Auftakt dieses heutigen Gedenkens diese Nacht nicht rekonstruieren. Das wurde schon oft getan, auch um die Fehler aufzudecken, die passiert sind an diesem Abend. An dem Vili so mutig war und die Morde stoppen und helfen wollte – während die behördliche Hilfe versagte.

Ich erinnere mich noch – an den nächsten Morgen nach der Tat. Den 20. Januar 2020, als mein Whatsapp-Eingang von Nachrichten geflutet war. Als ich mir mein Rüstzeug als Journalistin anzog, um zu berichten. Es war nicht die erste rassistisch oder antisemitisch motivierte Tat dieser Art in Deutschland, die mich berührt hat. Aber noch nie war sie mir so nah.

Und jetzt? Da blicken wir auf Jahre der Verrohung zurück. Sprachlich, politisch, medial.  Zwischenmenschlich. Den Aufstieg der Rechten und Rechtsextremen. Eine kontinuierliche Geschichte rechtsterroristischer Gewalt, die bis in die 1970er Jahre reicht. Heute kann nicht mehr bestritten werden und wird doch immer noch abgetan, dass sich inmitten der deutschen Gesellschaft rechte Kräfte radikalisiert haben und ihre Netzwerke gut funktionieren. Dass sie ihren Einfluss weiter ausbauen.

Unsere viel beschworene Mitte ist geschrumpft und insgesamt nach rechts gerückt. Es dominiert eine Atmosphäre der Ignoranz. Gerade jetzt, in diesen Zeiten eines Antimigrations-Wahlkampfs, ist das so intensiv spürbar. Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter über diese Angst sprechen, die sich breitmacht. Und die Wut, wenn es darum geht, wie undifferenziert die Debatten politisch wie medial gerade laufen. Als gebe es kein anderes Thema mehr in diesem Land – nur Sündenböcke. Was vielen Menschen Angst macht, die ich überall fühlen kann – auch in mir; auch die Enttäuschung, und dass Enttäuschung ein Gefühl ist, das sich auch bei den Zurückgebliebenen in Hanau eingestellt hat.

Die Enttäuschung darüber, dass eine politische Entschuldigung vier Jahre auf sich warten ließ und lange verweigert wurde. Es zu lange keine Entschuldigung für die Fehler der Polizei und der Behörden gab und einen nicht funktionierenden Polizeinotruf, oder die Art und Weise, wie die Todesnachrichten an die Familien überbracht wurden.

Dafür, dass der Anschlag polizeilich nicht hoch genug eingestuft worden war und der behördliche Umgang mit dem Vater des Täters die Frage aufgeworfen hat, wer als Gefährder und wer als gefährdet gilt in Deutschland? Und dass nach der Politik und der Polizei auch das Parlament die Chance zu einer echten Aufarbeitung im Bericht des Untersuchungsausschusses verpasst hat. Dass niemand die politische Verantwortung übernommen hat.

Wie ist es, mit der Sorge zu leben, dass die Öffentlichkeit diesen Anschlag vergessen könnte? Ich weiß es nicht. Aber ich erkläre mir dieses Gefühl mit dem Bild einer offenen, klaffenden Wunde. Die sich in unterschiedlichen Kämpfen versinnbildlicht. Die mir auch das Ringen nach dem richtigen Ort für das Mahnmal erklärt. Das einen großen symbolischen Wert hat, weil es als ein Werkzeug gegen das Vergessen verstanden werden kann. Und damit auch die Frage verhandelt, wer wichtig ist?

Was sind die Kinder Hanaus wert? Es ist eine Frage, die sich nicht nur auf das Mahnmal beziehen lässt. Seit fünf Jahren wurde sie oft gestellt: Der Politik, der Polizei, dem hessischen Parlament, der Bundesregierung. Und noch immer wird auf eine Antwort gehofft, die in der Aufklärung liegt. Darum kanalisiert sich in der Auseinandersetzung um das Mahnmal auch die Bitterkeit, die so oft in den Familien einkehren musste. Weshalb es auch kein Richtig im Falschen geben kann. Wenn so viele Widersprüche auszuhalten sind. Ihr hier in Hanau, ihr wisst das.

Ihr seid ganz unterschiedliche Menschen. Und viele von euch hätten sich nie kennengelernt, wenn dieser Tag und der Tod geliebter Menschen euch nicht für immer verbunden hätte.

Ich könnte diese Punkt noch weiter ausführen. Aber stattdessen möchte ich kurz innehalten. Sanft sein und dazu einladen, dass wir uns jetzt in diesem Raum in gemeinsamer Erinnerung und Trauer verbinden. Trotz allem. Verbinden wir uns mit den Geschichten der verlorenen Kinder Hanaus und denjenigen, die seit fünf Jahren für Aufklärung und damit Gerechtigkeit kämpfen. Die dabei auch Kämpfe mit sich selbst zu führen hatten und untereinander geführt haben. Die auch jetzt, während ich spreche, kämpfen, weil es einfach so viel ist – zu viel, das belastet. Weil dieser Kampf auch mit gesundheitlichen Problemen einhergeht, weil es nicht immer leicht ist, zusammenzuhalten.

Ich habe eure Widerständigkeit einmal theoretisierend „Selbstbestärkung als politische Praxis“ genannt. Weil ihr von Anfang an darauf hingearbeitet habt, dass niemand anderes außer ihr selbst eure Geschichten erzählt. „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst“, schrieb Ferhat vor seinem Tod. Und dieser Satz versinnbildlicht, wie eure Entschlossenheit gegen das Vergessen zu einer Bewegung wurde, die in diesem Land viele marginalisierte Menschen trägt. Wie ihr mit eurer Erinnerungsarbeit zu einer vielfältigen zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung beigetragen habt. Gegen das Verschweigen und gegen die Angst. Weil Gedenken das Vergessen stört und das Verdrängen.

Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen. Das ist euer Leitmotiv. Damit habt ihr den Mut gefasst, öffentlich zu sprechen. Ihr habt es geschafft, die Opfer und nicht den Täter in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Seid den Kampf gegen institutionellen Rassismus angetreten. Für eine aktive Verbesserung des Opferentschädigungsgesetzes und die Entwaffnung von Rechtsextremist*innen. Ihr habt euch mit den Angehörigen von Anschlagsopfern in Halle und München verbunden.

Und mit der Ausstellung der Rechercheagentur Forensic Architecture den Verlauf des Anschlags sekundengenau nachgezeichnet. Zwei Angehörige unter euch haben ihre Erfahrungen in Büchern aufgeschrieben. Theaterstücke und Filme sind entstanden, weil ihr immer wieder bereit seid, zu erzählen. Alles das habt ihr gemacht, damit Mercedes, Fatih, Ferhat, Gökhan, Hamza, Kaloyan, Said Nesar, Sedat und Vili nicht vergessen werden. Und: Damit keine neuen Morde geschehen.

Danke. Danke, dass ihr gezeigt habt, was möglich ist, wenn Menschen zusammenstehen und wie wirksam Betroffene sein können, wenn sie sich von Behörden und der Politik im Stich gelassen fühlen. Was nicht sein darf, aber immer noch Realität in Deutschland ist. Danke, dass ihr weiter gemacht und geatmet habt – auch wenn es oft ein Ringen nach Atem, ein Nach-Luft-Schnappen, ein kurzatmiges Atmen war oder eine Panikattacke. Weil der Kampf gegen Behörden sich in eure Körper einverleibt hat. Aber ihr – ihr habt euch die Luft nicht nehmen lassen. Ihr habt einen langen Atem. Ihr habt ihn zu eurem Werkzeug werden lassen. Ihr wart unerbittlich. Und unentbehrlich sind die Räume der Erinnerung und Trauer, die ihr aufrecht erhaltet. Dass ihr euch nicht zufrieden gebt, auch wenn ihr Kompromisse finden musstet. Und den Schmerz der Widersprüche immer wieder aushaltet. Aber ihr habt es geschafft, euch zu halten. Trotz allem. Ihr habt es geschafft, einander immer wieder zuzuhören und euch miteinander auseinanderzusetzen – auch wenn es dabei Brüche in Kauf zu nehmen galt. Und zusammen zeigt ihr uns heute, wie ein selbstorganisiertes Gedenken, eine widerständige Praxis gegen einen Normalzustand des Ignorierens und Vergessens in Deutschland aussehen kann.

Gedenken ist wichtig, um politisch etwas zu verändern. Es bedarf ein aktives und regelmäßiges Gedenken, das an ein Lernen und Verlernen geknüpft ist, damit Menschen und damit die Gesellschaft wachsen kann. Und das bedeutet für alle marginalisierten Menschen – für migrantisierte und Schwarze Menschen, Sinti*zze und Rom*nja, Juden und Jüd*innen, für queere oder behinderte Menschen in diesem Land auch – ihre kollektive Trauer gemeinsam zu verarbeiten. Auch darum geht es in einem selbstbestimmten Erinnern. Es ist ein Aushandlungsprozess. Darum heißt Erinnern auch Verändern. Und ein selbstbestimmtes Erinnern heißt für mich heute, euch daran zu erinnern, wie wichtig euer Band ist. Es zeigt so vielen Menschen, wie bedeutsam es ist, das Leid aller anzuerkennen und die Bedürfnisse aller darin anzunehmen – auch wenn das nicht immer leicht ist. Weil das Tempo, die Kraft, die Ressourcen von jedem Menschen so unterschiedlich sind. Und es auch nicht einfacher werden wird. Weil die gesellschaftliche Frage der Zukunft für uns alle sein wird, ob man bereit ist, alle Menschen gleichzeitig im Herzen zu halten, wenn sie Ablehnung und Abwertung erfahren? Ob wir zusammenbleiben und -halten werden. Und: „Trotzdem weitermachen“, wie Newroz Duman einmal gesagt hat. Und genau das wünsche ich mir für euch in Hanau und für alle von uns. Denn so schwer die Zeiten auch gerade sind – nur zusammen wird es leichter sein.

 

 

Siehe auch:
#5Jahredanach – Gedenkveranstaltung am 15. Februar 2025 in Hanau

 

 

Erstellungsdatum: 18.02.2025